Der Subsidiaritätsgrundsatz ist in der Diskussion um die EMRK in aller Munde. Von den einen wird er angerufen, um eine vermeintlich unzulässige Kompetenzanmaßung des EGMR zu kritisieren,Footnote 1 von den anderen, um Eingriffe des EGMR in die nationalen Rechtsordnungen gerade zu rechtfertigen.Footnote 2 Dass der Subsidiaritätsgrundsatz im politischen und juristischen Diskurs zur Legitimation entgegengesetzter Positionen verwendet wird, spiegelt dessen inhaltliche UnschärfeFootnote 3 und Ambivalenz wider.Footnote 4 Teilweise wird zudem verkannt, dass es sich beim Subsidiaritätsgrundsatz nicht um eine Norm handelt, die einen absoluten Geltungsanspruch erheben würde;Footnote 5 als Grundsatz oder Prinzip setzt Subsidiarität keine umfassende Verwirklichung voraus, sondern lässt eine graduelle Beachtung und Abwägung mit anderen Prinzipien zu.Footnote 6 Angesichts der Unschärfen, welche der Subsidiaritätsgrundsatz in der aktuellen Diskussion um die EMRK aufweist,Footnote 7 erscheint es sinnvoll, nachfolgend in einem ersten Schritt ein präzises juristisches Verständnis des Begriffs und seiner Tragweite unter der EMRK zu entwickeln.

Einer der Hauptgründe für die diffuse Verwendung des Subsidiaritätsbegriffs scheint darin zu bestehen, dass schon in der Ideengeschichte variierende Konzeptionen von Subsidiarität existieren.Footnote 8 Der Grundsatz hat darüber hinaus in verschiedenen Rechtsordnungen Niederschlag gefunden und wird selbst innerhalb dieser Rechtsordnungen teilweise verschieden begründet und ausgedeutet.Footnote 9 Der unbedachte Rückgriff auf einen uniformen, in dieser Form nicht existierenden Subsidiaritätsbegriff verdeckt vielerorts den Blick auf die Eigenheiten des Subsidiaritätsbegriffs der EMRK.Footnote 10

Bevor daher auf den Gehalt des Subsidiaritätsbegriffs im Kontext der EMRK eingegangen wirdFootnote 11 soll der Begriff kontextualisiert, sollen seine unterschiedlichen Bedeutungen in verschiedenen Rechtsordnungen aufgezeigt werden.Footnote 12 Diese Kontextualisierung erlaubt es, in einem zweiten Schritt eine genaue Vorstellung des Subsidiaritätsbegriffs der EMRK zu gewinnen und seine verschiedenen Wirkungsebenen darzulegen.Footnote 13 Dem Thema der vorliegenden Arbeit entsprechend wird dabei zum Schluss des zweiten Hauptteils dieses Kapitels die Wirkungsebene der Tatsachenfeststellung in den Vordergrund gerückt.Footnote 14

A. Kontextualisierung des Begriffs der Subsidiarität der EMRK

1. Begründung des Subsidiaritätsbegriffs als Rechtsprinzip

Das Konzept der Subsidiarität ist alt. Es wurzelt in der antiken Philosophie und gerade bei Aristoteles finden sich erste Ansätze, die später durch Thomas von Aquin weiterentwickelt wurden.Footnote 15 Dem Inhalt nach existierte das Konzept schon lange,Footnote 16 als der Begriff im 20. Jahrhundert durch die katholische Soziallehre für den heutigen Gebrauch geprägt wurde.Footnote 17 Es ist hier nicht der Platz, die etymologischeFootnote 18 und historischeFootnote 19 Entwicklung des Subsidiaritätsprinzips im Einzelnen nachzuzeichnen. Anknüpfen lässt sich an den Diskurs im frühen 20. Jahrhundert. Vielerorts zitiert wird Papst Pius XI., welcher das Subsidiaritätsprinzip in der Enzyklika Quadragesimo Anno von 1931 wie folgt ausformulierte:

„Wenn es nämlich auch zutrifft, was ja die Geschichte deutlich bestätigt, daß unter den veränderten Verhältnissen manche Aufgaben, die früher leicht von kleineren Gemeinwesen geleistet wurden, nur mehr von großen bewältigt werden können, so muß doch allzeit unverrückbar jener höchst gewichtige sozialphilosophische Grundsatz festgehalten werden, an dem nicht zu rütteln noch zu deuteln ist: Wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; zugleich ist es überaus nachteilig und verwirrt die ganze Gesellschaftsordnung. Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen.“ Footnote 20

Diese Textstelle aus Quadragesimo Anno wurde nach 1931 zu einem gemeinsamen Bezugspunkt der unterschiedlichen Ausdeutungen des Subsidiaritätsprinzips.Footnote 21 Gemäß Papst Pius XI. begründet Subsidiarität als „sozialphilosophischer Grundsatz“ einen Handlungsvorrang der Einzelperson gegenüber jeder Gesellschaftstätigkeit: „[…] dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, [darf] ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden“. Gemäß dem personalistischen Begründungsansatz von Papst Pius XI. verfolgt das Subsidiaritätsprinzip letztlich den Zweck, Freiheit und Selbstverantwortung der Einzelperson zu wahren. Papst Pius XI. übertrug den Gedanken auf das Verhältnis zwischen Gemeinwesen verschiedener Hierarchiestufen:Footnote 22 „[…] [es] verstößt gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zu einem guten Ende führen können, für die […] übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen.“

Der von Papst Pius XI. formulierte „sozialphilosophische Grundsatz“ entfaltete seither in verschiedenen Kontexten unterschiedliche Wirkungen. Verwendet wurde das Subsidiaritätsprinzip zunächst als Abgrenzungskriterium zwischen Privat- und Staatssphäre.Footnote 23 Die Begründung und Funktion des Subsidiaritätsprinzips in diesem Kontext ist allerdings nach hier vertretener Auffassung nicht deckungsgleich mit der normativen Legitimation des Subsidiaritätsgrundsatzes im Verhältnis verschiedener Gemeinwesen beziehungsweise Institutionen. Um diese letztere Form von Subsidiarität geht es aber dem Grundsatz nach im Verhältnis zwischen den innerstaatlichen Behörden und dem EGMR.Footnote 24 Bevor nachfolgend die „interinstitutionelle“ Ausprägung des Subsidiaritätsgedankens in den Blick genommen wird, soll anhand einzelner Bestimmungen der schweizerischen Rechtsordnung dessen Begründung im Verhältnis zwischen Individuum und Staat betrachtet werden.

2. Das Subsidiaritätsprinzip im Verhältnis Individuum – Gesellschaft – Staat

Subsidiarität dient dem ursprünglichen Gedanken nach dazu, individuelle Handlungsspielräume gegen eine Vereinnahmung durch (staatliche) Kollektive abzusichern.Footnote 25 Anwendbar ist das Prinzip immer, wenn das Individuum einer Gemeinschaft gegenüber steht und eigenverantwortliches Handeln von Gemeinschaftstätigkeit abzugrenzen ist.Footnote 26 Als liberalesFootnote 27 verfassungsrechtliches Prinzip bindet Subsidiarität die staatliche Hoheitsgewalt zugunsten der Freiheit der Einzelnen und gesellschaftlicher Initiative zurück.Footnote 28 Umgekehrt werden die Einzelnen und die Gesellschaft durch das Subsidiaritätsprinzip aber auch in die Pflicht genommen, eigenverantwortlich zu handeln.Footnote 29

Der Wortlaut von Art. 5a BVFootnote 30 – eine Norm in den allgemeinen Bestimmungen der schweizerischen Bundesverfassung – ließe sich so verstehen, dass der Verfassungsgeber ein allgemeines Subsidiaritätsprinzip verankern wollte. Nach Auffassung der vorherrschenden Lehre beschlägt das Subsidiaritätsprinzip gemäß Art. 5a BV das Verhältnis zwischen den Einzelnen, der Gesellschaft und dem Staat jedoch nicht. Sein Anwendungsbereich ist vielmehr auf die Beziehungen zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden und damit auf das Verhältnis der verschiedenen staatlichen Ebenen beschränkt.Footnote 31 Aus ebendiesem Grund wird auch abgelehnt, unter Rückgriff auf ein allgemeines bundesverfassungsrechtliches Subsidiaritätsprinzip staatliche beziehungsweise öffentlich-rechtliche Wirtschaftstätigkeit zugunsten einer erhöhten Wirkungsmöglichkeit Privater zurückzubinden.Footnote 32 Auch das Bundesgericht ist der Auffassung, dass sich Art. 5a BV „nach seiner Entstehungsgeschichte und Konzeption in erster Linie auf das Verhältnis zwischen den verschiedenen Staatsebenen“ bezieht und nicht „auf das Verhältnis zwischen Staat und Privatwirtschaft“ übertragen werden kann.Footnote 33

Das Subsidiaritätsprinzip gemäß Art. 5a BV betrifft damit nach herrschender Lehre und Rechtsprechung lediglich das interinstitutionelle Verhältnis der verschiedenen Staatsebenen. Ein allgemeines Subsidiaritätsprinzip, das neben den interinstitutionellen Verhältnissen auch die Beziehungen zwischen Staat und Individuen betreffen würde, existiert im schweizerischen Bundesverfassungsrecht – im Unterschied zum EU-RechtFootnote 34 und zum italienischen VerfassungsrechtFootnote 35 – nicht und lässt sich auch aus Art. 6 BV nicht ableiten.Footnote 36 Dies schließt nicht aus, dass die Bundesverfassung das Subsidiaritätsprinzip zur Regelung des Verhältnisses zwischen Staat, Individuum und Gesellschaft bereichsspezifisch – mindestens dem Gedanken nach – dennoch heranzieht; seine Geltung bleibt aber auf den jeweils einschlägigen Bereich beschränkt.Footnote 37

Als Ausdruck des Subsidiaritätsgedankens im Verhältnis zwischen Individuum und Staat können in diesem Sinne zunächst die aus den bundesverfassungsrechtlichen Grundrechten abgeleiteten staatlichen Handlungspflichten gedeutet werden. Die Grundrechte verbieten dem Staat nämlich nicht nur gewisse Eingriffe in die Privatsphäre, sondern verpflichten ihn – teils ausdrücklich (Art. 12 BV [Recht auf Hilfe in Notlagen], Art. 19 BV [Anspruch auf Grundschulunterricht], Art. 29 Abs. 3 BV [Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege und unentgeltlichen Rechtsbeistand im Falle der Bedürftigkeit], sog. „originäre Leistungsrechte“), teils implizit (z. B. Anspruch auf Benützung öffentlichen Grunds im Zusammenhang mit den Kommunikationsgrundrechten) – auch zu aktivem Tun.Footnote 38 Der moderne schweizerische Bundesstaat ist kein „Nachtwächterstaat“, der sich darauf beschränken würde, die Sicherheit seiner Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten.Footnote 39 Er muss auch für eine minimale Chancengleichheit eintreten und im Interesse des Gemeinwohls Aufgaben übernehmen, welche die Kräfte der Einzelnen übersteigen.Footnote 40 Diese Verpflichtungen des Staates schließen jedoch nicht aus, dass Private selbstständig handeln. Beispielsweise können Eltern ihre Kinder trotz Art. 19 BV in privaten Institutionen beschulen lassenFootnote 41 oder sogar selbst die Ausbildung organisieren.Footnote 42 Diese Konzeption ist genuiner Ausdruck des Subsidiaritätsgrundsatzes: Private erhalten – gelegentlich unter staatlicher Aufsicht – die Möglichkeit, selbstverantwortlich zu handeln; wo sie darauf verzichten, gewährleistet der Staat die Einhaltung der Grundrechte.

In einem bereichsspezifischen Sinne kommt der Subsidiaritätsgrundsatz auch im Sozial(hilfe)recht zur Anwendung: Staatliche Hilfe soll nur dann beansprucht werden dürfen, wenn und soweit die bedürftige Person sich nicht selber helfen kann oder wenn Hilfe von dritter – privater – Seite nicht oder nicht rechtzeitig erhältlich ist.Footnote 43 Ein Anspruch auf Nothilfe besteht in diesem Sinne nur dann, wenn jemand „nicht in der Lage ist, für sich selbst zu sorgen“ (Art. 12 BV).Footnote 44 Laut Bundesgericht sind hilfesuchende Personen aufgrund des Subsidiaritätsgrundsatzes verpflichtet, „alles Zumutbare zur Behebung der eigenen Notlage zu unternehmen“.Footnote 45 Staatliches Handeln kommt also erst in Frage, wenn trotz Wahrnehmung der Selbstverantwortung eine Notlage besteht. Als Ausdruck des Subsidiaritätsgrundsatzes zu lesen sind neben Art. 12 BV auch Art. 6 BVFootnote 46 (die bundesverfassungsrechtliche Grundsatznorm zur „individuellen und gesellschaftlichen Verantwortung“) und Art. 41 Abs. 1 BVFootnote 47 (die Sozialziele).Footnote 48 Zwar könnte gegen die Heranziehung des Begriffs der Subsidiarität im Kontext der Sozialverfassung argumentiert werden, dass die Schutzrichtung der Subsidiarität hier gewissermaßen „umgekehrt“ verläuft und nicht die Individuen vor einem ungerechtfertigten Tätigwerden des Staats geschützt werden, sondern der Staat vor einer übermäßigen (finanziellen) Inanspruchnahme durch die Privaten. In der Literatur wird jedoch zu Recht darauf hingewiesen, dass diese Normen nicht nur die Bürgerinnen in die Pflicht nehmen, sondern auch den Staat in die Schranken weisen, indem sie (den Gesetzgeber) daran erinnern, dass eine Bevormundung der Menschen zu vermeiden ist.Footnote 49 Eine ähnliche Funktion wie im Sozialrecht kommt dem Subsidiaritätsgrundsatz im Bereich grundsatzwidriger Einschränkungen der Wirtschaftsfreiheit (Art. 103 BV) sowie der staatlichen Förderung der Landwirtschaftsbetriebe zu (vgl. Art. 104 Abs. 2 BV).Footnote 50 Auch hier soll der Bund nur eingreifen, wenn und soweit sich die Landwirtschaftsbranche nicht selber helfen kann.Footnote 51

Im Unterschied zur Bundesverfassung beziehen verschiedene kantonale Verfassungen den Subsidiaritätsgrundsatz nicht nur bereichsspezifisch auf die Verhältnisse zwischen Staat und Individuen, sondern sehen diesbezüglich eine allgemeine Geltung vor. Gemäß Art. 3 Abs. 2 KV/FR verfolgt der Staat seine Ziele „in Achtung der Freiheit und Verantwortung des Menschen sowie des Subsidiaritätsprinzips“; Art. 52 Abs. 1 KV/FR wiederholt, dass staatliches Handeln unter anderem auf dem Grundsatz der Subsidiarität beruhen müsse. Aus dem Wortlaut dieser beiden Bestimmungen wird nicht deutlich, ob neben dem offensichtlich angesprochenen Verhältnis zwischen Staat, Individuum und Gesellschaft auch das Verhältnis zwischen Kanton und Gemeinden angesprochen wird. Diesbezüglich etwas spezifischer gefasst ist beispielsweise die Zürcher Kantonsverfassung, die nur im Zusammenhang mit der Regelung des Verhältnisses zwischen Staat, Individuum und Gesellschaft ausdrücklich auf den Subsidiaritätsgrundsatz Bezug nimmt (Art. 5 KV/ZH).Footnote 52 Während Art. 5 Abs. 1 und 2 KV/ZH die Verantwortung jeder Person für sich selbst und die Nachrangigkeit staatlicher Unterstützung betonen,Footnote 53 regelt Art. 5 Abs. 3 KV/ZHFootnote 54 das Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaft und statuiert im Sinne eines „Organisationsprinzips für den Wettbewerb“ den (nicht justiziablen) Vorrang privater Wirtschaftstätigkeit vor staatlicher Wirtschaftstätigkeit.Footnote 55 Einen mit Art. 5 Abs. 3 KV/ZH vergleichbaren normativen Gehalt besitzen § 4 Abs. 2 KV/LU,Footnote 56 § 5 Abs. 1 KV/SZFootnote 57 und Art. 27 Abs. 3 KV/AR.Footnote 58

3. Subsidiarität im interinstitutionellen Verhältnis

Wie oben dargelegt regelt Subsidiarität nach dem durch Papst Pius XI. begründeten Verständnis nicht nur das Verhältnis von Individuum, Gesellschaft und Staat, sondern grenzt auch die Kompetenzbereiche von Institutionen und Gemeinwesen verschiedener Hierarchiestufen voneinander ab. In dieser Kompetenzabgrenzungsfunktion hat sich das Subsidiaritätsprinzip seither in zahlreichen föderalistischen Verfassungen und im Recht internationaler und supranationaler Organisationen niedergeschlagen.Footnote 59

Die personale Begründung des Subsidiaritätsprinzips, wie sie für die Abgrenzung der Einflussbereiche von Staat und Einzelpersonen herangezogen wird, passt indes nicht ohne Modifikationen, wenn es um den organisatorischen Aufbau eines Bundesstaats, Staatenverbunds oder die Regelung des Verhältnisses zwischen nationalen und internationalen Institutionen geht.Footnote 60 Bevor nachfolgend verschiedene Erscheinungsformen des Subsidiaritätsgrundsatzes im interinstitutionellen Verhältnis dargelegt werden, soll daher aufgezeigt werden, dass sich die teleologische Begründung des Subsidiaritätsgrundsatzes im interinstitutionellen Verhältnis von derjenigen im Verhältnis zwischen Individuum, Gesellschaft und Staat unterscheidet.

a. Teleologische Begründung im interinstitutionellen Verhältnis

Zuweilen wird im Sinne eines personalistischen Begründungsansatzes das Subsidiaritätsprinzip auch im interinstitutionellen Verhältnis mit „Bürgernähe“ in Verbindung gebracht.Footnote 61 Es ist denn auch nicht von der Hand zu weisen, dass die Behörden von Gemeinwesen tieferer Hierarchiestufen aufgrund der örtlichen, persönlichen und auch sprachlichen Nähe den Einzelnen in der Regel eher zugänglich sind als Behörden höherer Hierarchiestufen (Gemeinden vor gliedstaatlichen Behörden; gliedstaatliche Behörden vor bundesstaatlichen Behörden; nationale Behörden vor supra- oder internationalen Behörden).Footnote 62 Hinzu kommt, dass die Stimmkraft und die Einflussmöglichkeiten einer Einzelperson in einem kleineren Gemeinwesen naturgemäß grösser sind als in einem größeren Gemeinwesen, so dass auch das Argument der Selbstbestimmung öfters mit Subsidiarität in Verbindung gebracht wird.Footnote 63 Mittelbar hilft das Subsidiaritätsprinzip insofern auch der Entfaltung persönlicher Freiheit. Persönliche Freiheit und Mitbestimmung sind aber nur die mittelbare Folge, nicht der Zweck des Subsidiaritätsprinzips im Verhältnis zwischen verschiedenen Gemeinwesen.Footnote 64

Staatliche und völkerrechtliche Institutionen sind nämlich keine natürlichen Personen, die aus eigenem Recht des rechtlichen Schutzes ihrer Freiheit bedürften.Footnote 65 Nach einem liberalen Verständnis besitzt der Staat – und das gilt für sämtliche Institutionen auf allen Ebenen – keinen Selbstzweck, sondern legitimiert sich erst dadurch, dass er den Einzelnen die Ausübung ihrer Freiheit ermöglicht.Footnote 66 Dieser Idee folgend bestimmte der Herrenchiemseer Verfassungsentwurf von 1948 an vorderster Stelle: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen“ (Art. 1 Abs. 1). Dieser Gedanke gilt (selbstverständlich) auch dann, wenn verschiedene Staatsebenen zusammenwirken oder zu einem bestimmten Zweck eine inter- oder supranationale Organisation gegründet wird und bereichsspezifisch zu den nationalen Behörden hinzutritt. Staatliche und völkerrechtliche Institutionen existieren nur zur Verwirklichung des verfassungs- oder vertragsrechtlich vorgegebenen Zwecks, und die Aufgaben innerhalb dieser Institutionen müssen in erster Linie so verteilt werden, dass diesem Zweck Genüge getan wird. Der Subsidiaritätsgrundsatz schützt in einem Mehrebenenverbund daher nicht vorrangig die Institutionen einer bestimmten Ebene, sondern zielt darauf ab, zweckmäßige, und das heißt zuallererst: effiziente Strukturen zu schaffen.Footnote 67 Die Kompetenzen im Mehrebenenverbund sollen aufgrund des Subsidiaritätsprinzips so verteilt werden, dass das übergeordnete Ziel des Zusammenwirkens der verschiedenen Ebenen erreicht werden kann.

Daraus fließt eine zentrale Einsicht, die vielerorts vergessen geht, wenn über Subsidiarität diskutiert wird: Das Subsidiaritätsprinzip gebietet nicht nur, Aufgaben – wo möglich – auf der „tiefstmöglichen“ staatlichen Ebene zu verwirklichen, sondern kann auch vorschreiben, Aufgaben zu zentralisieren und vom Individuum zu „entfernen“, wenn dies nötig ist, um den vorgegebenen Zweck zu erfüllen. Dass der Subsidiaritätsgrundsatz im interinstitutionellen Verhältnis nicht in erster Linie einer personalen Begründung folgt, zeigt sich unter anderem am Test, der herangezogen wird, um zu klären, ob eine einmal gegebene Kompetenzordnung mit dem Subsidiaritätsgrundsatz in Einklang steht: Gefragt wird nicht, ob die übergeordnete Ebene die Freiheit der Einzelnen übermäßig einschränkt, sondern ob die Kompetenzverteilung es erlaubt, den vorgegebenen Zweck zu erreichen. Ist die Antwort negativ, gebietet das Subsidiaritätsprinzip eine Kompetenzverlagerung entweder nach „unten“ (auf die untergeordneten, gewissermaßen umfassten Ebenen) oder nach „oben“ (auf die übergeordnete, gewissermaßen umfassende Ebene).Footnote 68 Das Subsidiaritätsprinzip ist also ein dynamisches Prinzip, das sowohl in Richtung einer Zentralisierung als auch Dezentralisierung weisen kann.Footnote 69

Dennoch verhält sich das Subsidiaritätsprinzip auch im Verhältnis verschiedener Gemeinwesen nicht indifferent zur Frage, welcher institutionellen Ebene eine Aufgabe zugewiesen werden soll, es ist keine reine Funktionalitätsregel.Footnote 70 Der Subsidiaritätsgrundsatz etabliert die Vermutung der Zuständigkeit der tieferen Ebene,Footnote 71 weil diese einer natürlichen Vermutung zufolge besser in der Lage ist, Bedürfnisse der Menschen zu identifizieren und angepasste Lösungen zu finden.Footnote 72 Die Zuständigkeit der höheren Ebene bedarf einer Rechtfertigung, die sich am Zweck des Mehrebenenverbunds orientiert.Footnote 73 Es muss entweder im Sinne eines Negativtests aufgezeigt werden, dass die tiefere Ebene nicht in der Lage ist, eine Aufgabe selbstständig zu erfüllen, oder im Sinne eines Positivtests, dass die übergeordnete Ebene besser in der Lage ist, eine Aufgabe zu erfüllen.Footnote 74 Besondere Bedeutung hat dieser Begründungszwang, wenn die Beantwortung der Eignungsfrage nicht von vornherein klar ist, die Entscheidung über die Zuordnung von Kompetenzen sich mithin in einem Grauzonenbereich bewegt.

Zusammengefasst bildet der subsidiaritätsrechtliche Begründungszwang einen Wall gegen die mitunter dysfunktionalen Zentralisierungs- und Nivellierungstendenzen, die politisch konstruierten Mehrebenensystemen innewohnen.Footnote 75 Mittelbar werden dadurch persönliche Freiheit und demokratische Mitbestimmung gestärkt. Hauptanliegen und Orientierungspunkt bleibt dabei immer die Funktionalität der Aufgabenverteilung im Hinblick auf einen konkret vorgegebenen Verbundzweck, der seinerseits immer den Individuen zugutekommen muss.

b. Formen der Subsidiarität im interinstitutionellen Kontext

Das Subsidiaritätsprinzip hat sich im interinstitutionellen Kontext in verschiedenen Ausprägungen in bundesstaatlichen Verfassungen manifestiert.Footnote 76 In neuerer Zeit wurde das Prinzip zudem dem Gedanken nach auch in die Gründungsverträge internationaler und supranationaler Organisationen aufgenommen.Footnote 77 Eine Anknüpfung an das Subsidiaritätsprinzip auch im internationalen Recht war aufgrund der strukturellen ÄhnlichkeitenFootnote 78 naheliegend: Wie im bundesstaatlichen Kontext wirken im Rahmen internationaler beziehungsweise supranationaler Organisationen die Institutionen unterschiedlicher „Ebenen“ zusammen. Den Staaten als traditionellen Akteuren des Völkerrechts sind für einzelne Aufgabenbereiche internationale beziehungsweise supranationale Institutionen hinzugeordnet, so dass diesbezüglich eine „Konkurrenzsituation“ entsteht. Es lag und liegt aufgrund dieser Parallelität in der Ausgangslage nahe, das Subsidiaritätsprinzip auch zur Abgrenzung der Kompetenzbereiche im Verhältnis zwischen nationalen und internationalen beziehungsweise supranationalen Institutionen heranzuziehen.Footnote 79

Dennoch bestehen zentrale strukturelle Unterschiede zwischen Bundesstaaten und internationalen beziehungsweise supranationalen Organisationen, die sich auch auf die Anwendbarkeit des Subsidiaritätsprinzips auswirken. Im Bundesstaat liegt die Kompetenz, verfassungsrechtlich neue Kompetenzen des Bundes zu begründen, beim Bund und damit auf der „umfassenden Ebene“.Footnote 80 Deshalb sehen bundesstaatliche Verfassungen regelmäßig einen verfahrensrechtlichen Schutz der Gliedstaaten vor einer unzweckmäßigen Ausweitung der Bundeskompetenzen vor. Im Unterschied dazu liegt die Kompetenz-Kompetenz bei internationalen und supranationalen Organisationen bei den Mitgliedstaaten und damit auf der „umfassten Ebene“. Eine Änderung der vertragsrechtlichen Kompetenzverteilung zwischen Staaten und internationalen Organisation bedarf gemäß dem Konsensprinzip der Zustimmung sämtlicher Mitgliedstaaten. Dies macht einen rechtlichen Schutz der Mitgliedstaaten zumindest für die primäre (vertragsrechtliche) Kompetenzzuweisung entbehrlich,Footnote 81 was zur Folge hat, dass dem Subsidiaritätsgrundsatz – wo er dem Gedanken nach in Bezug auf die Kompetenzzuweisung dennoch angesprochen wird – in erster Linie legitimatorischer Charakter zukommt.Footnote 82 In der EU findet das Subsidiaritätsprinzip gemäß Art. 5 Abs. 3 EUV aus diesem Grund keine Anwendung auf die originäre Kompetenzverteilung, bei der das Subsidiaritätsprinzip nur eine politische Leitlinie sein kann, sondern ist nur dann von rechtlicher Relevanz, wenn geteilte („konkurrierende“) Kompetenzen oder Unterstützungs-, Koordinierungs- und Ergänzungsmaßnahmen in Frage stehen.Footnote 83

Der Sache nach geht es bei den verfassungs- und vertragsrechtlich teilweise vorgesehenen konkurrierenden Kompetenzen freilich um dieselbe Frage wie bei der eben beschriebenen „primären Kompetenzzuweisung“,Footnote 84 nämlich um die Abgrenzung der Zuständigkeiten der verschiedenen beteiligten Gemeinwesen und ihrer Institutionen. Bei konkurrierenden Kompetenzen ist die Zuständigkeitsfrage jedoch nicht von vornherein verfassungs- beziehungsweise völkervertragsrechtlich geklärt. Vielmehr geht die Zuständigkeit der untergeordneten Ebene erst unter, wenn die Kompetenz durch die übergeordnete Ebene tatsächlich ausgeübt wird.Footnote 85 Vor einem solchen Tätigwerden der übergeordneten Ebene bleibt die untergeordnete Ebene zuständig. Konkurrierende Kompetenzen sind also Kompetenzen mit nachträglich derogatorischer Wirkung.Footnote 86

Nicht nur bundesstaatliche Verfassungen sehen solche konkurrierenden Kompetenzen vor, sondern auch die Gründungsverträge internationaler und supranationaler Institutionen.Footnote 87 Den Bundesinstitutionen beziehungsweise den internationalen Institutionen stellt sich in Bezug auf solche konkurrierende Kompetenzen die Frage, ob sie sie ausüben und die Zuständigkeitsfrage damit zu ihren Gunsten entscheiden sollen. Der Entscheid wird verfassungs- und völkervertragsrechtlich typischerweise nicht dem freien Ermessen der übergeordneten Institutionen überlassen. Verschiedene Verfassungen und Gründungsverträge stellen die Ausübung einer konkurrierenden Kompetenz unter den Vorbehalt des Subsidiaritätsprinzips.Footnote 88 Subsidiarität ist in diesem Sinne verbindlich und teilweise durch gerichtliche Überprüfungsmechanismen erzwingbar.

Das Subsidiaritätsprinzip bezweckt in sämtlichen eben skizzierten Fällen die Abgrenzung der Verantwortungsbereiche der verschiedenen Ebenen eines Mehrebenenverbundes. Es kann in dieser Funktion als KompetenzverteilungsregelFootnote 89 bezeichnet werden, welche die Frage in den Blick nimmt, welche der beiden Ebenen letztlich eine Kompetenz für einen bestimmten Handlungsbereich besitzt, und die Antwort darauf ist in der Regel ein Entweder-Oder.Footnote 90 Eine andere Funktion hat das Subsidiaritätsprinzip, wenn es um die Ausübung einer Aufgabe im einmal gesteckten Kompetenzrahmen geht. Hier geht es der Sache nach nicht um die Frage der Kompetenzabgrenzung, sondern um jene der Kompetenzausübung. Soweit im Folgenden also von Subsidiarität als KompetenzausübungsregelFootnote 91 die Rede ist, erfolgt dies nicht im Zusammenhang der konkurrierenden Kompetenzen, für welche der Begriff häufig (missverständlicherweise) gebraucht wird.Footnote 92

Die nachfolgenden Abschnitte veranschaulichen die beiden erwähnten Funktionen des Subsidiaritätsgrundsatzes – Regelung der Kompetenzabgrenzung und Regelung der Kompetenzausübung – anhand konkreter verfassungs- und völkerrechtlicher Beispiele. Der Blick auf die Tragweite des Prinzips in anderen Rechtsordnungen soll den Blick schärfen für die Bedeutung des Grundsatzes im europäischen Menschenrechtsschutzsystem (und insbesondere unter der EMRK).

aa. Subsidiarität als Kompetenzabgrenzungsregel

Als Kompetenzabgrenzungsregel statuiert das Subsidiaritätsprinzip, dass der übergeordnete Verband eine Aufgabe nur dann übernehmen soll, wenn er sie besser als die nachgelagerten Gebietskörperschaften (alleine oder gemeinsam) erfüllen kann.Footnote 93 In dieser Funktion kommt es – wie nachfolgend aufzuzeigen ist – sowohl in bundesstaatlichen Verfassungen als auch im EU-Recht vor.Footnote 94

Im schweizerischen Verfassungsrecht statuiert Art. 5a BV, das Subsidiaritätsprinzip müsse bei der „Zuweisung […] staatlicher Aufgaben“ beachtet werden. Für das Verhältnis zwischen Bund und Kantonen wird der Grundsatz durch die Bundesverfassung weiter konkretisiert. Demnach übernimmt der Bund nur diejenigen Aufgaben, welche die Kraft der Kantone übersteigen oder einer einheitlichen Regelung durch den Bund bedürfen (Art. 43a Abs. 1 BV). Zudem muss der Bund den Kantonen ausreichend eigene Aufgaben belassen (Art. 47 Abs. 2 BV). Aufgrund der Verankerung des Subsidiaritätsprinzips im allgemeinen Teil der Bundesverfassung und des Wortlauts von Art. 5a BV beschlägt der Grundsatz auch das Verhältnis von Kantonen zu den Gemeinden.Footnote 95 In verschiedenen Kantonsverfassungen wird auf den Grundsatz – aufgrund der bundesverfassungsrechtlichen Verankerung gewissermaßen deklaratorisch – ebenfalls ausdrücklich Bezug genommen.Footnote 96 Andere Kantonsverfassungen wie die Zürcher Kantonsverfassung (vgl. dort insbesondere Art. 97) begnügen sich mit einer inhaltlichen Beschreibung des Subsidiaritätsgrundsatzes.Footnote 97

Es ist umstritten, ob das Subsidiaritätsprinzip als KompetenzzuweisungsregelFootnote 98 im Sinne von Art. 5a BV den Verfassungsgeber bei der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung bindet.Footnote 99 Einerseits wird vorgebracht, das Subsidiaritätsprinzip sei ein Verfassungsprinzip und als solches auch gegenüber dem Verfassungsgeber bindend.Footnote 100 Auch wenn das Subsidiaritätsprinzip in Bezug auf die Kompetenzzuweisung nur sehr eingeschränkt justiziabel sei,Footnote 101 diene es im Prozess der Verfassungsgebung als „Maßstab für die Frage der Kompetenzverteilung […] zwischen Bund und Kantonen“.Footnote 102

Vorherrschend ist jedoch eindeutig die gegenteilige Meinung, wonach das Subsidiaritätsprinzip für die Verfassungsgeberin nur eine staatspolitische Maxime darstellt.Footnote 103 So wird etwa vertreten, die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips sei ein Gebot politischer Klugheit, an das sich der Verfassungsgeber in der Regel halte, das für ihn aber nicht verbindlich sei, weil es ihm an Justiziabilität mangle.Footnote 104 Als staatspolitische Maxime habe sich das Subsidiaritätsprinzip in der schweizerischen Verfassungswirklichkeit jedoch stark niedergeschlagen,Footnote 105 die Staatspraxis biete reiches Anschauungsmaterial für ein Wirksamwerden des Subsidiaritätsprinzips avant la lettre.Footnote 106

Auch in Deutschland wird diskutiert, ob das Subsidiaritätsprinzip als Verfassungsprinzip in Bezug auf die Kompetenzzuweisung Geltung beansprucht.Footnote 107 Im Gegensatz zur Schweiz ist das Subsidiaritätsprinzip im deutschen Grundgesetz in Bezug auf die Kompetenzzuweisung durch den Verfassungsgeber nicht explizit erwähnt. Nach Isensee lässt sich der (deutsche) Bundesstaat aber trotz der fehlenden Verankerung in Bezug auf die Kompetenzzuweisung als „Erscheinungsform der Subsidiarität deuten und rechtfertigen“,Footnote 108 Subsidiarität bilde den Maßstab, an dem sich die gegebene Kompetenzordnung messen lassen müsse. Der Verfassungsgeber sei deshalb bei der Zuweisung von Kompetenzen trotz fehlender ausdrücklicher Verankerung im Grundgesetz an das Subsidiaritätsprinzip gebunden.Footnote 109

Tatsächlich ist die rechtliche Wirksamkeit des Subsidiaritätsprinzips als Kompetenzzuweisungsregel sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz insofern beschränkt, als keine gerichtsförmigen Mechanismen bestehen, welche ex post eine Überprüfung der Kompetenzverteilung am Maßstab der Subsidiarität erlauben würden. Das Fehlen solcher Mechanismen ergibt sich im Wesentlichen daraus, dass es sich bei der Kompetenzverteilung um eine politisch zu entscheidende Grundfrage des Institutionenaufbaus handelt, die durch den Verfassungsgeber und den die Verfassung interpretierenden Gesetzgeber zu entscheiden ist, jedoch der (verfassungs-)gerichtlichen Kontrolle entzogen werden soll. Diese Auffassung ist rechtspolitisch nicht unumstritten und teilweise wird diesbezüglich eine verfahrensrechtliche Stärkung der Verbindlichkeit des Subsidiaritätsprinzips vorgeschlagen.Footnote 110 Aufgrund der fehlenden gerichtlichen Überprüfungsmechanismen kann dem Subsidiaritätsgrundsatz jedoch auch de lege lata nicht der Charakter eines Rechtsgrundsatzes abgesprochen werden, wenn auch sein Gehalt vorrangig programmatischer Natur ist. In Bezug auf den programmatischen Gehalt bestehen nämlich durchaus Mechanismen, die dem Grundsatz zu einer angemessenen Beachtung verhelfen.Footnote 111

In diesem Sinne bestehen sowohl in der Schweiz als auch in Deutschland institutionelle Schutzvorkehrungen, welche präventiv eine übermäßige Ausweitung der Bundeskompetenzen verhindern. In der Schweiz ist für die Begründung neuer Kompetenzen des Bundes eine Verfassungsänderung nötig (Art. 42 Abs. 1 BV), die neben der Mehrheit des Volkes auch eine Mehrheit der Stände (Kantone) voraussetzt (Art. 140 Abs. 1 Bst. a BV). Dieses Erfordernis stellt die Mitwirkung der Kantone sicher und schützt sie damit vor einem ungewollten Kompetenzverlust. In Deutschland ist eine Änderung des Grundgesetzes nur mit einer Zweidrittelsmehrheit sowohl im Deutschen Bundestag als auch im Bundesrat möglich (Art. 79 Abs. 2 GG). Auch hier sind also die Länder durch die vorgeschriebene Mitwirkung „ihrer“ Parlamentskammer (des Bundesrates) vor einer unzweckmäßigen Zentralisierung der Kompetenzen durch den Verfassungsgeber geschützt. Ob man das Subsidiaritätsprinzip nun als verbindliches Rechtsprinzip bezeichnet oder als unverbindliche staatspolitische Maxime ansieht – aus den vorangegangenen Ausführungen wird deutlich, dass das Subsidiaritätsprinzip im Rahmen der primären Kompetenzzuweisung durch den Verfassungsgeber in erster Linie eine legitimatorische Funktion hat und im Prinzip nicht justiziabel ist.Footnote 112

Dies gilt auch im Kontext des Völkerrechts, jedenfalls soweit Subsidiarität als „inhärentes Strukturmerkmal“ eines Mehrebenensystems betrachtet wird, wie es bei der EMRK der Fall ist.Footnote 113 In gewisser Weise vergleichbar mit den oben dargestellten institutionellen Schutzmechanismen in Bundesstaaten verhindert im Völkerrecht das Konsensprinzip eine dysfunktionale Zentralisierung von Kompetenzen gegen den Willen der Mitgliedstaaten als untergeordneter Ebene. Nach dem Konsensprinzip können neue Kompetenzen internationaler Organisationen nur mit dem Einverständnis aller Mitgliedstaaten verliehen werden.Footnote 114 Ganz grundlegend kann daher das Konsensprinzip als Ausprägung des Subsidiaritätsgedankens verstanden werden.Footnote 115 Allerdings besteht für die Vertragsstaaten bei der Gestaltung ihrer Beziehungen keine Verpflichtung, den Subsidiaritätsgrundsatz einzuhalten; sie können auch völkerrechtliche Verträge abschließen und internationale Institutionen schaffen, deren Aufbau dem Subsidiaritätsgedanken widerspricht. In der Funktion als Kompetenzabgrenzungsregel ist das Subsidiaritätsprinzip im Völkerrecht daher kein Rechtsprinzip, sondern dient als rechtspolitisches Argument für die Änderung oder Beibehaltung einer gegebenen Kompetenzordnung.Footnote 116 Als solches Argument hat das Subsidiaritätsprinzip in erster Linie Bedeutung im rechtspolitischen Diskurs.Footnote 117

Anders stellt sich die Lage dar, wenn verfassungs- oder völkervertragsrechtlich konkurrierende Kompetenzen vorgesehen sind, deren Ausübung durch die Institutionen der übergeordneten Ebene unter den Vorbehalt des Subsidiaritätsgrundsatzes gestellt wird. Dieser Sonderfall ist nachfolgend in den Blick zu nehmen.

ba. Der Sonderfall der konkurrierenden Kompetenzen

In der Schweiz sieht Art. 5a BV vor, dass bei der „[…] Erfüllung staatlicher Aufgaben“ der Grundsatz der Subsidiarität zu beachten ist. Nach vorherrschender Meinung ist mit dem Terminus der „Erfüllung“ nicht in erster Linie die Ausübung einer einmal beim Bund verorteten Kompetenz gemeint; das Subsidiaritätsprinzip ist in diesem Sinne kein Übermaßverbot bei der Ausübung einer Kompetenz, sondern stellt die Wahrnehmung einer konkurrierenden Kompetenz durch den Bund unter den Vorbehalt des Subsidiaritätsgrundsatzes.Footnote 118 Justiziabel ist der Subsidiaritätsgrundsatz allerdings in der Schweiz wegen Art. 190 BV auch in Bezug auf die Wahrnehmung konkurrierender Kompetenzen nicht, zumindest soweit der Bundesgesetzgeber (und nicht der Verordnungsgeber) die Kompetenzfrage durch Ausübung einer konkurrierenden Kompetenz zugunsten des Bundes entscheidet.Footnote 119

Demgegenüber stehen beispielsweise in Deutschland und in Kanada auch gerichtliche Durchsetzungsmechanismen zur Verfügung, um dem Subsidiaritätsprinzip in Bezug auf die Wahrnehmung einer konkurrierenden Kompetenz durch den Bund zum Durchbruch zu verhelfen: Nach Art. 72 Abs. 2 GG ist das Gesetzgebungsrecht des Bundes in den dort erwähnten Bereichen davon abhängig, dass „die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftsfreiheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich macht“. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits mehrfach Erlasse des Bundesgesetzgebers auf ihre Vereinbarkeit mit Art. 72 Abs. 2 GG überprüft und teilweise aufgehoben.Footnote 120

Section 91 der kanadischen Verfassung ermächtigt den kanadischen Bundesgesetzgeber „to make laws for the Peace, Order, and good Government of Canada, in relation to all Matters not coming within the Classes of Subjects by this Act assigned exclusively to the Legislatures of the Provinces“. Gestützt auf diese Klausel hat der kanadische Supreme Court die „national concern doctrine“ entwickelt, welche das Gesetzgebungsrecht des Bundesstaats unter anderem davon abhängig macht, dass gliedstaatliches Versagen in einem Politikbereich zu einer Beeinträchtigung übergeordneter Interessen führt.Footnote 121 Auch hier kommt also ein Tätigwerden der übergeordneten Ebene nur in Betracht, wenn die Gliedstaaten eine Staatsaufgabe nicht selbständig gewährleisten können.

Auch im EU-Recht überwacht mit dem EuGH ein Gericht die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips in Bezug auf die Ausübung konkurrierender Kompetenzen von Union und Mitgliedstaaten (Art. 8 des Protokolls [Nr. 2] über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit in Verbindung mit Art. 263 AEUV).Footnote 122 Art. 5 Abs. 3 EUV sieht vor: „Nach dem Subsidiaritätsprinzip wird die Union in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können, sondern vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind.“ Die Bestimmung bezieht sich nach der Rechtsprechung des EuGH auch auf Maßnahmen der Rechtsangleichung im Rahmen des Binnenmarkts, für dessen Funktionieren die Union nach Art. 26 Abs. 1 AEUV die erforderlichen Maßnahmen erlässt.Footnote 123 Weil die Kompetenz zur Verbesserung der Funktionsbedingungen des Binnenmarktes keine ausschließliche Zuständigkeit für die Regelung der wirtschaftlichen Tätigkeiten im Binnenmarkt verleiht, gilt das Subsidiaritätsprinzip auch hier.Footnote 124 Der EuGH überprüft in diesem Zusammenhang, ob das mit der Harmonisierung angestrebte Ziel allein auf mitgliedstaatlicher Ebene oder besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden kann.Footnote 125 Zusätzlich prüft er, ob das Subsidiaritätsprinzip auch im Hinblick auf die vom Unionsgesetzgeber gewählte Regelungsdichte eingehalten ist.

ca. Subsidiarität als Kompetenzausübungsregel

Genau genommen handelt es sich beim letztgenannten Prüfungspunkt des EuGH jedoch nicht um die bisher in den Blick genommene Frage, ob eine Unionszuständigkeit besteht beziehungsweise ob sie ausgeübt und damit die Zuständigkeitsfrage zugunsten der umfassenden Ebene entschieden werden soll, sondern um die Frage, wie die einmal bestehende Zuständigkeit auszuüben ist. Im EU-Recht ist diese Frage dem Wortlaut der Verträge nach Gegenstand des Verhältnismäßigkeitsprinzips, wie es in Art. 5 Abs. 4 EUV verankert ist: „Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gehen die Maßnahmen der Union inhaltlich wie formal nicht über das zur Erreichung der Ziele der Verträge erforderliche Maß hinaus.“ Dies wirft zwangsläufig die Frage nach der Abgrenzung von Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Subsidiaritätsprinzip auf.Footnote 126

Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (in der deutschen Literatur auch als „Übermaßverbot“ bezeichnet)Footnote 127 zerfällt nach traditioneller Auffassung in drei Teilaspekte:Footnote 128 Staatliches Handeln muss erstens geeignet sein, das verfolgte öffentliche Interesse zu verwirklichen; staatliches Handeln muss zweitens erforderlich sein, darf also nicht weiter gehen als nötig, um das verfolgte öffentliche Interesse zu verwirklichen; drittens muss staatliches Handeln angemessen sein, das heißt der verfolgte Zweck darf nicht in einem Missverhältnis zu anderen betroffenen Interessen stehen. Die strukturelle Nähe des Subsidiaritätsprinzips zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz liegt auf der Hand: Insbesondere das Eignungs- und das Erforderlichkeitskriterium sind im Subsidiaritätsprinzip ebenso angelegt wie im Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Die übergeordnete Ebene soll gemäß dem allgemeinen Subsidiaritätsgrundsatz nur dann tätig werden, wenn sie zur Aufgabenerfüllung besser geeignet ist als die untergeordnete Ebene, und sie soll ihr Tätigwerden zudem auf das Notwendige beschränken.Footnote 129 Es erscheint aus dieser Perspektive durchaus richtig, von einer „intrinsischen Verknüpfung“ der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit zu sprechen.Footnote 130

Hinzu kommt, dass die Stoßrichtung von Art. 5 Abs. 3 EUV und Art. 5 Abs. 4 EUV dieselbe ist: Unter der Terminologie des EUV sichern sowohl Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als auch Subsidiaritätsprinzip die Handlungsspielräume der „untergeordneten“ Institutionen ab – Subsidiarität gegenüber einer unzweckmäßigen Zentralisierung von Kompetenzen, Verhältnismäßigkeit gegenüber einer übermäßigen Ausübung von Kompetenzen. Aus diesem Grunde wird die bereits genannte Bestimmung von Art. 5 Abs. 4 EUV in der Literatur zum Unionsrecht – zusammen mit Art. 5 Abs. 2 EUV (Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung) – dem Subsidiaritätsprinzip in einem weiteren Sinne zugerechnet.Footnote 131 Die Zusammenfassung unter einen einzigen Begriff macht insofern Sinn, als die drei in den Absätzen 2, 3 und 4 verankerten Grundsätze wie aufgezeigt alle auf eine zweckmäßige und autonomiewahrende Aufgabenteilung zwischen Union und Mitgliedstaaten abzielen.Footnote 132

Auch dem schweizerischen Verfassungsrecht liegt ein breiter Subsidiaritätsbegriff zugrunde. Der Subsidiaritätsgrundsatz ist nicht nur in der Verfassungsgebung, sondern in allen Phasen der Rechtsetzung und Rechtsumsetzung zu beachten.Footnote 133 Weil es im Bereich der verfassungsgeberischen Kompetenzverteilung nicht justiziabel ist, richtet sich der Subsidiaritätsgrundsatz in erster Linie an den Bundesgesetzgeber in Ausübung zugewiesener Bundeskompetenzen; dieser soll die eidgenössischen Kompetenzen möglichst schonend wahrnehmen.Footnote 134 Der Bund soll sich also selbst dann, wenn er zur Regelung einer bestimmten Materie berufen ist, bezüglich Umfang und Intensität seiner Regelung am Grundsatz der Subsidiarität orientieren, und sich auf den Erlass von Grundsätzen beschränken, wenn eine detaillierte gesamtschweizerische Regelung nicht notwendig ist.Footnote 135 Dass der Bund seine ihm verfassungsrechtlich zustehenden Regelungskompetenzen in bestimmten Fällen nur teilweise oder überhaupt nicht ausgeübt und sich in anderen Fällen damit Zeit gelassen hat, wird ebenfalls als Ausdruck „gelebter Subsidiarität“ betrachtet.Footnote 136 Diesem Gedanken folgt auch das Konzept des Vollzugsföderalismus, wonach nach Möglichkeit die Umsetzung von Bundesrecht den Kantonen zu überlassen ist.Footnote 137

Im Hinblick auf ein zweckmäßiges Zusammenwirken der verschiedenen Institutionen eines Mehrebenensystems lässt sich die Frage der Kompetenzverteilung tatsächlich nicht von jener der Ausübung dieser Kompetenzen trennen.Footnote 138 Insbesondere diese Überlegung spricht dafür, die interinstitutionellen Beziehungen in ihrer Gesamtheit – sowohl was die Aufgabenverteilung als auch was die Aufgabenausübung betrifft – mit dem Konzept der Subsidiarität einzufangen.Footnote 139 Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass der Subsidiaritätsgrundsatz in einem weit verstandenen Sinn nicht nur die Allokation von Kompetenzen in einem Mehrebenensystem, sondern auch die Ausübung dieser Kompetenzen betrifft.Footnote 140

4. Verwendung des Subsidiaritätsbegriffs in weiteren Zusammenhängen

Der Gesetzgeber, die rechtsanwendenden Behörden und die Lehre greifen teilweise auch außerhalb der oben dargelegten Zusammenhänge auf den Subsidiaritätsbegriff zurück. Von Subsidiarität die Rede ist etwa im Prozessrecht, im strafrechtlichen Maßnahmenrecht, im Haftungsrecht oder im Opferhilferecht.

Im Prozessrecht wird der Begriff dazu verwendet, die Nachrangigkeit eines Verfahrenswegs im Verhältnis zu anderen Verfahrenswegen zu beschreiben. Eine Aufsichtsbeschwerde soll in diesem Sinne aufgrund des Subsidiaritätsgrundsatzes erst zulässig sein, wenn das in Frage stehende Verhalten der hierarchisch untergeordneten Behörde weder mit einem ordentlichen oder außerordentlichen Rechtsmittel angefochten werden kann.Footnote 141 Ebenfalls subsidiär sind nach Art. 25 VwVG Feststellungsbegehren innerhalb eines verwaltungsrechtlichen Beschwerdeverfahrens; auf sie kann erst zurückgegriffen werden, wenn kein Leistungsbegehren zur Verfügung steht.Footnote 142 Und die subsidiäre Verfassungsbeschwerde an das Bundesgericht kommt nach Art. 113 BGG erst in Frage, wenn die (ordentlichen) Beschwerdewege nicht beschritten werden können.Footnote 143

Dass der Begriff der Subsidiarität in diesen prozessrechtlichen Zusammenhängen (auch vom Gesetzgeber) herangezogen wird, ist erklärungsbedürftig. Es geht nämlich nicht um die Abgrenzung von Verantwortungsbereichen von Institutionen verschiedener Hierarchiestufen, sondern um die Organisation von Verwaltungs- beziehungsweise Gerichtsverfahren und die damit zusammenhängende Systematisierung von Rechtsnormen. Im Zusammenhang rein rechtstechnischer Bestimmungen fehlt es dem Begriff der Subsidiarität also an der sonst üblichen normativen Wertung, dass einer institutionellen Ebene in Bezug auf eine in einem Mehrebenensystem anfallende Aufgabe grundsätzlich ein Handlungsvorrang zukommt.

Als rein rechtstechnische Regel wird der Subsidiaritätsgrundsatz auch im Straf-, im Opferhilfe- und im Staatshaftungsrecht angerufen: Im Strafrecht wird der Begriff der Subsidiarität dazu verwendet, den Vorrang von Strafen gegenüber Maßnahmen gemäß Art. 56 Abs. 1 Bst. a StGB zu beschreiben.Footnote 144 Im Opferhilferecht bezeichnet der Begriff der Subsidiarität die Nachrangigkeit von Leistungen der Opferhilfe. Diese werden nach Art. 4 Abs. 1 OHG nur dann endgültig gewährt, wenn „der Täter oder die Täterin oder eine andere verpflichtete Person oder Institution keine oder keine genügende Leistung erbringt“. In ähnlicher Weise bezeichnet der Begriff der Subsidiarität der Staatshaftung die Nachrangigkeit staatlicher Haftung, die nur dann zum Zuge kommen soll, wenn keine andere (natürliche oder juristische) Person belangt werden kann.Footnote 145

Gemeinsam ist all diesen dogmatischen Anknüpfungen an die Subsidiarität, dass der Begriff ohne jede Wertbezogenheit als rein rechtstechnische Regel gebraucht wird.Footnote 146 Insofern unterscheiden sie sich deutlich von den oben dargestellten Formen von Subsidiarität, die immer (und begriffsinhärent) wertbezogen sind. Es ist zumindest auf den ersten Blick nicht ersichtlich, warum im Zusammenhang solcher rechtstechnischer Regeln überhaupt auf den Begriff der Subsidiarität zurückgegriffen wird, denn es würden durchaus passendere Begriffe existieren. So wäre es beispielsweise treffender, von Nachrangigkeit der Aufsichtsbeschwerde zu sprechen. Die Frage braucht hier jedoch nicht vertieft zu werden, zumal der Subsidiaritätsbegriff der EMRK offensichtlich keine rein rechtstechnische Regel darstellt, sondern in vielerlei Hinsicht wertbezogen ist.

5. Zusammenfassende Betrachtung zu den verschiedenen Subsidiaritätsformen

Der Begriff der Subsidiarität besitzt nach dem Gesagten nicht nur eine „bundesstaatliche Dimension“, sondern wird in verschiedenen Zusammenhängen angewandt. Subsidiarität kann als Ordnungsprinzip zum Tragen kommen, sobald soziale oder politische Entitäten verschiedener Hierarchiestufen für die Erfüllung einer bestimmten Aufgabe in Frage kommen. Ursprünglich diente Subsidiarität dem Schutz des Individuums und grenzte den persönlichen Einflussbereich von demjenigen der Gesellschafts- und Staatstätigkeit ab.Footnote 147 Bis heute wird Subsidiarität als Rechtsprinzip in diesem Sinne verwendet, wenn auch teilweise nur mit einem beschränkten Anwendungsbereich.Footnote 148 Gebräuchlicher ist heute in Anknüpfung an die Prägung des Begriffs durch Papst Pius XI. die Verwendung des Begriffs im interinstitutionellen Kontext.

Hier ist Subsidiarität anwendbar, sobald die Institutionen von Gemeinwesen verschiedener Hierarchiestufen zu einem bestimmten Zweck in einem Mehrebenensystem zusammengefasst sind und zur Erreichung dieses Zwecks die Zuständigkeiten der verschiedenen Ebenen festgelegt werden müssen.Footnote 149 Klassischer Anwendungsfall ist die Abgrenzung der Zuständigkeiten von Gliedstaaten und Bund im Bundesstaat. Subsidiarität hat als Rechtsprinzip aber einen viel weiteren Anwendungsbereich: Das Prinzip kann auch zum Tragen kommen, wenn in einem supranationalen Verbund wie der EU die Aufgaben zwischen Union und Mitgliedstaaten aufgeteilt werden müssen oder wenn ein internationaler Vertrag komplementär zu den innerstaatlichen Instanzen übergeordnete Institutionen etabliert. Paradigmatisches Beispiel für die Kategorie der internationalen Verträge mit überstaatlichen Durchsetzungsmechanismen ist die EMRK.

Einem weiten Begriffsverständnis folgend ist Subsidiarität zudem nicht nur anwendbar, wenn es um die Kompetenzverteilung als solche geht, sondern auch, wenn die Ausübung dieser Kompetenzen durch die verschiedenen Akteure in Frage steht. Zwar wirft eine solche Verwendung des Begriffs gewisse Abgrenzungsprobleme zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auf und tatsächlich ist selbst im wissenschaftlichen Diskurs nicht immer klar, welcher Subsidiaritätsbegriff verwendet wird.Footnote 150 Die Verwendung eines weiten Begriffs ist jedoch dadurch gerechtfertigt, dass selbst innerhalb einer gegebenen Kompetenzordnung verschiedene Handlungsmöglichkeiten offen stehen. Erst durch die Art der Ausübung einer Kompetenz wird der Kompetenzordnung in diesem Sinne Leben verliehen.

Zentral ist jedoch, dass das Subsidiaritätsprinzip im institutionellen Zusammenhang keiner rein personalen Begründung folgt, welche eine Aufgabenkonzentrierung auf der tiefstmöglichen Ebene per se als erstrebenswert erscheinen ließe. Das Prinzip zielt vielmehr zuallererst auf eine Aufgabenverteilung ab, welche dem vorgegebenen Verbundzweck gerecht wird. Zudem nimmt es sämtliche beteiligten Institutionen in die Pflicht, die ihnen zugewiesenen Aufgaben im Sinne des übergeordneten Verbundzwecks auch wahrzunehmen. Subsidiarität kann aus dieser Sicht ebenso für die Beibehaltung von Zuständigkeiten der untergeordneten Ebene sprechen wie für eine Verlagerung von Kompetenzen nach „oben“ auf die „weiter entfernten Institutionen“.Footnote 151

Ungeachtet dieser vielfältigen Schattierungen wird Subsidiarität als politischer Kampfbegriff immer wieder verwendet, um eine Aufgabenverlagerung von „unten“ nach „oben“ oder die angeblich anmaßende Tätigkeit übergeordneter Institutionen anzuprangern.Footnote 152 Nicht nur, aber auch diese politische Einfärbung des – an sich – juristischen Begriffs der Subsidiarität gilt es immer im Auge zu behalten, gerade auch wenn im Folgenden spezifisch von der Subsidiarität in der EMRK die Rede sein wird.

B. Subsidiarität in der EMRK

Der Subsidiaritätsgrundsatz ist in der EMRK nicht ausdrücklich verankert.Footnote 153 Dennoch bildet er nach allgemeiner Auffassung eines der Strukturelemente der EMRK und des durch die EMRK etablierten Schutzmechanismus.Footnote 154 Manche Autorinnen und Autoren sprechen sogar von Subsidiarität als dem Grundbaustein der EMRKFootnote 155 und sehen in Straßburg seit den „High Level Conferences on the Future of the European Court of Human Rights“ im Februar 2010 in InterlakenFootnote 156 sowie im April 2012 in BrightonFootnote 157 das „Zeitalter der Subsidiarität“ angebrochen.Footnote 158 In einem gewissen Kontrast zur prominenten Rolle, die dem Subsidiaritätsgrundsatz vielerorts zugebilligt wird, steht die diffuse Verwendung des Begriffs in der Literatur, welche maßgeblich darauf zurückzuführen ist, dass der Subsidiaritätsgrundsatz – wie oben aufgezeigt – in anderen Rechtsordnungen sehr verschiedene Bedeutungen erfahren hat.Footnote 159

In den folgenden Abschnitten sollen vor diesem Hintergrund zunächst strukturelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede des Subsidiaritätsgrundsatzes der EMRK zu anderen Subsidiaritätskonzeptionen herausgearbeitet werden.Footnote 160 Auf der Grundlage dieser vergleichenden Betrachtung aus der „Vogelperspektive“ sind dann die verschiedenen Wirkungsdimensionen des Subsidiaritätsgrundsatzes unter der EMRKFootnote 161 sowie deren dogmatische Verankerung und normativer Gehalt zu untersuchen.Footnote 162 Darauf aufbauend wird es möglich sein, die Tatsachenfeststellung unter der EMRK aus dem Blickwinkel des Subsidiaritätsgrundsatzes ein erstes Mal summarisch in den Blick zu nehmen.Footnote 163

1. Vergleichende Einordnung des Subsidiaritätsbegriffs der EMRK

Auch im Kontext der EMRK stehen sich mit dem EGMR (und dem Ministerkomitee des Europarates)Footnote 164 einerseits und den Behörden der Mitgliedstaaten anderseits eine „umfassende“ und eine „umfasste Ebene“Footnote 165 gegenüber. Die beiden Ebenen sind auf das gemeinsame Ziel ausgerichtet, die materiellen Konventionsgarantien zu schützen; sie besitzen insoweit einen gemeinsamen Aufgabenkreis.Footnote 166 Wie der EGMR immer wieder betont, soll dieser Schutz nicht nur auf dem Papier bestehen, sondern effektiv sein.Footnote 167

Das Subsidiaritätsprinzip unter der EMRK bezweckt also ein Zusammenspiel zwischen mitgliedstaatlichen Institutionen und EGMR,Footnote 168 das dem solchermaßen vorgegebenen Verbundzweck gerecht wird,Footnote 169 ohne in dysfunktionaler Art und Weise die Handlungsbefugnisse der Konventionsstaaten als primär zuständiger Ebene einzuschränken.Footnote 170 Der wirksame europäische Grundrechtsschutz ist gewissermaßen der Leitstern, den der Interpret oder die Interpretin der EMRK immer im Auge behalten muss. Die Orientierung an diesem Leitstern ermöglicht es überhaupt erst, dem Subsidiaritätsprinzip im Kontext der EMRK einen fassbaren Gehalt zu vermitteln. Diese Definition des Anwendungsbereichs des Subsidiaritätsgrundsatzes unter der EMRK ist an sich nichts Überraschendes, deckt er sich doch mit den in der Literatur formulierten Begründungsansätzen der Subsidiarität im interinstitutionellen Verhältnis.Footnote 171

Die Anwendung des Subsidiaritätsgrundsatzes im Grundrechtsverbund der EMRK weist auch im Weiteren verschiedene Parallelen zum bundesstaatlichen und supranationalen Kontext auf. So begründet er namentlich einen (zeitlichen) Handlungsvorrang der mitgliedstaatlichen Institutionen vor dem EGMR.Footnote 172 Diese weit verbreitete Definition des Subsidiaritätsbegriffs der EMRK greift jedoch zu kurz und unterschlägt die teils subtilen Unterschiede zu den oben dargestellten Subsidiaritätskonzeptionen. Gerade diese Unterschiede sind es aber, die in der allgemeinen, teilweise politisch aufgeladenen Diskussion nicht immer ausreichend berücksichtigt werden. Für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung und eine kritische Aufarbeitung dieser (politischen) Diskussion sind solche Nuancierungen aber essenziell, weshalb sie im Folgenden in den Vordergrund gerückt werden sollen.

a. Subsidiarität als Kompetenzausübungsregel

Wie oben gesehen richtet sich das Subsidiaritätsprinzip in seiner traditionellen Verwendung im interinstitutionellen Verhältnis in erster Linie an die politischen Organe einer umfassenden Ebene, denen als Verfassungs- beziehungsweise Gesetzgeber die Abgrenzung der Zuständigkeitsbereiche der verschiedenen bundesstaatlichen Ebenen obliegt.Footnote 173 In dieser Funktion wurde das Prinzip in der vorliegenden Arbeit als Kompetenzabgrenzungsregel bezeichnet. Nicht angesprochen durch das Subsidiaritätsprinzip als Kompetenzabgrenzungsregel sind jedoch die Gerichte der verschiedenen bundesstaatlichen Ebenen: Sie entscheiden zwar mitunter verbindlich über die Auslegung der Normen der Kompetenzordnung und haben in diesem Zusammenhang auch darüber zu urteilen, ob die politischen Organe bei der Kompetenzverteilung den Subsidiaritätsgrundsatz eingehalten haben.Footnote 174 In diesen Tätigkeiten sind sie jedoch selbst nicht an den Subsidiaritätsgrundsatz gebunden und müssen subsidiaritätsrechtliche Überlegungen nur als teleologischen Gesichtspunkt bei der Auslegung der Kompetenzordnung berücksichtigen. Sie sind also regelmäßig nicht Adressaten des Subsidiaritätsgrundsatzes als Kompetenzabgrenzungsregel, sondern legen die auf dem Subsidiaritätsgedanken basierende Kompetenzordnung lediglich aus, um Streitfälle zu entscheiden.Footnote 175

Unter der EMRK nimmt der Subsidiaritätsgrundsatz als Rechtsprinzip demgegenüber nicht die rechtssetzenden, sondern die rechtsanwendenden Organe und mit dem EGMR namentlich ein Gericht in die Pflicht.Footnote 176 Als politische Urheber der Konvention sind die Vertragsstaaten gerade nicht an den Subsidiaritätsgrundsatz gebunden. Ihnen ist es nämlich – unter Vorbehalt des KonsensprinzipsFootnote 177 – unbenommen, den Schutzmechanismus der EMRK auch im Widerspruch zum Subsidiaritätsgedanken auszugestalten. Subsidiarität ist damit aus Sicht der Vertragsstaaten in Bezug auf die Weiterentwicklung der Konvention lediglich ein Gebot politischer Klugheit, dem im Hinblick auf die Zukunft und die Legitimität des Schutzmechanismus zwar große Tragweite zukommt, das jedoch letztlich rechtlich unverbindlich bleibt.

In diesem Sinne kann dem Subsidiaritätsgrundsatz als Kompetenzabgrenzungsregel unter der EMRK lediglich die Qualität einer politischen Leitmaxime zugeschrieben werden. Rechtliche Wirkung entfaltet der Subsidiaritätsgrundsatz unter der EMRK nur als Kompetenzausübungsregel.Footnote 178 Adressat ist dabei in erster Linie der EGMR in seiner Überwachungsfunktion (Art. 19 EMRK). Mittelbar verpflichtet sind jedoch auch die nationalen rechtsanwendenden Behörden, die den Konventionsgarantien in konkreten Einzelfällen auf innerstaatlicher Ebene zum Durchbruch verhelfen müssen (Art. 1 EMRK).

b. Nationale Behörden als Subsidiaritätsverpflichtete

Ausgehend vom allgemeinen politischen (und selbst juristischen) DiskursFootnote 179 dürfte es manche überraschen, dass der Subsidiaritätsgrundsatz der EMRK auch die Institutionen der Konventionsstaaten in die Pflicht nimmt.Footnote 180 Dem liegt jedoch eine einfache Überlegung zugrunde: Das Funktionieren von institutionellen Mehrebenensystemen setzt immer voraus, dass sämtliche involvierten Akteure die ihnen zugewiesenen Aufgaben erfüllen. Soweit aus subsidiaritätsrechtlichen Überlegungen vorrangig den Institutionen der „umfassten“ Ebene Aufgaben zugewiesen werden, müssen sie diese auch tatsächlich wahrnehmen, um dem Verbundzweck Genüge zu tun. Kommen sie ihren Aufgaben nicht nach, führt dies zwangsläufig zu einem Vakuum, das die übergeordnete Ebene ausfüllen muss, um den vorgegebenen Verbundzweck zu gewährleisten.Footnote 181

Ganz im Sinne des allgemeinen Subsidiaritätsgrundsatzes räumt der subsidiaritätsrechtlich geprägte Institutionenaufbau der EMRK den mitgliedstaatlichen Institutionen damit zwar bestimmte Freiräume ein.Footnote 182 Namentlich genießen die mitgliedstaatlichen Behörden bei der Implementierung der EMRK großes Ermessen in der Abwägung verschiedener RechtsgüterFootnote 183 und der EGMR greift in dieses Ermessen nicht ohne Not ein. Umgekehrt nimmt die EMRK ihre Mitgliedsstaaten aber in die Pflicht, die Verletzung von Konventionsgarantien nach Möglichkeit schon innerstaatlich zu beseitigen.Footnote 184 Einzelne Autorinnen und Autoren bezeichnen diese „Primärverpflichtung“ der mitgliedstaatlichen Institutionen als „Kehrseite“ der subsidiaritätsrechtlichen Beschränkungen, die sich der EGMR auferlegt.Footnote 185 Der Begriff der „Primärverpflichtungen“ macht deutlich, dass der Subsidiaritätsgrundsatz nicht nur den Handlungsspielraum der Institutionen der Konventionsstaaten absichert, sondern indirekt auch die Erfüllung ihrer durch die EMRK begründeten Pflichten einfordert und bei Missachtung eine Aufgabenverlagerung auf den EGMR gebietet.

Diese Erkenntnis steht in Einklang mit der allgemeinen Begründung des Subsidiaritätsgrundsatzes im interinstitutionellen Kontext: Im Vordergrund steht die Verwirklichung des Verbundzwecks, nicht dessen Realisierung auf der tiefstmöglichen Ebene. Der Subsidiaritätsgrundsatz der EMRK folgt insofern entgegen anderslautenden Meinungen nur mittelbar einer personalistischen (oder demokratischen) Begründung.Footnote 186 Zwar trifft zu, dass die EMRK nicht nur eine freiheitliche, sondern auch eine demokratische Grundordnung in den Mitgliedstaaten des Europarates gewährleisten soll.Footnote 187 Von diesem Ziel ausgehend soll Subsidiarität dazu beitragen, im Grundrechtsverbund der EMRK die für den Schutz von demokratischer Rechtsstaatlichkeit erforderlichen institutionellen Strukturen zu gewährleisten. Letztlich ist der Schutz einer demokratisch-rechtsstaatlichen Grundordnung jedoch nur das Ziel, dem der Subsidiaritätsgrundsatz verpflichtet ist; seine Funktion ist es, im Hinblick auf dieses Ziel eine zweckmäßige Abgrenzung der Aufgaben der verschiedenen Ebenen bereitzustellen.Footnote 188

c. Keine subsidiarité concurrence

Maßgeblicher Referenzpunkt, dem sowohl die rechtsanwendenden Behörden der Mitgliedstaaten als auch der EGMR verpflichtet sind, ist wie bereits erläutert der effektive Schutz der materiellen Konventionsrechte. Die Überprüfungsbefugnis des EGMR als übergeordnete Ebene soll gemäß der Ausschöpfungsregel von Art. 35 Ziff. 1 EMRK erst eingreifen, wenn der nationale Grundrechtsschutz versagt. Der durch die EMRK implementierte Überwachungsmechanismus ersetzt die mitgliedstaatliche Obliegenheit zum Schutz von Grundrechten also nicht, sondern ergänzt sie.Footnote 189 Im Unterschied zur „Entweder-oder-Regel“ der Kompetenzabgrenzung in den untersuchten bundesstaatlichen Verfassungen und in den EU-Verträgen, für welche mitunter der instruktive Begriff der „subsidiarité concurrence“ verwendet wird,Footnote 190 sind unter der EMRK sowohl die nationalen Behörden als auch die Europaratsinstitutionen (namentlich der EGMR) für die Gewährleistung der Konventionsrechte zuständig.Footnote 191 Ihre Verantwortlichkeitsbereiche schließen sich nicht etwa gegenseitig aus, sondern verhalten sich komplementär zueinander.Footnote 192 Aus dieser Komplementarität ergeben sich unter der EMRK – ganz grundsätzlich gedacht – zwei Anwendungsbereiche des Subsidiaritätsgrundsatzes:

Zum einen stellt sich die Frage, wann welche der beiden Ebenen für den Schutz der Konventionsrechte zuständig ist; eine zeitliche Überlappung der Zuständigkeiten würde nämlich Redundanzen und damit unnötigen Zusatzaufwand für beide beteiligten Ebenen bewirken. Diesem Gesichtspunkt sind die in der EMRK formulierten Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Beschwerde an den EGMR gewidmet, wobei namentlich die Ausschöpfungsregel (Art. 35 Ziff. 1 EMRK) von besonderer Bedeutung ist. Subsidiarität als grundlegender teleologischer Referenzpunkt bei der Auslegung der Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Beschwerde an den EGMR (namentlich bezüglich Art. 35 Ziff. 1 EMRK) dient insofern einer zweckmäßigen zeitlichen Sequenzierung der Zuständigkeiten der verschiedenen Ebenen.

Zum anderen stellt sich aufgrund des Zusammenwirkens verschiedener Ebenen die Frage, welchen Umfang die Prüfung einer allfälligen Konventionsverletzung auf der Ebene des EGMR nach dem Durchlaufen eines innerstaatlichen Verfahrens noch einnehmen soll.Footnote 193 Tatsächlich zieht der EGMR den Subsidiaritätsgrundsatz oft heran, um im Einzelfall seine Kontrolldichte festzulegen.Footnote 194 Hier geht es jedoch nicht um eine zeitliche Sequenzierung der Zuständigkeiten, sondern darum, dass der EGMR angepasst an die Verhältnisse des Einzelfalls jene Kontrolldichte findet, die den effektiven Schutz der Konventionsrechte erlaubt. Besondere Bedeutung hat diese Frage, wenn aufgrund des konkret zu beurteilenden Sachverhalts und der bisherigen Rechtsprechung des EGMR nicht von vornherein klar ist, ob eine Konventionsverletzung vorliegt oder nicht.Footnote 195

Maßgebliches Kriterium muss hier sein, ob die Institutionen der Konventionsstaaten ihrer Verpflichtung zum Schutz der Konventionsrechte bereits nachgekommen sind. Wurde die behauptete Konventionsverletzung bereits innerstaatlich in einem fairen Verfahren umfassend geprüft und in überzeugender Art und Weise verneint, hält sich der EGMR in der Regel zurück, selbst noch eine ausgedehnte Prüfung vorzunehmen.Footnote 196 Umgekehrt muss der EGMR ein allfälliges Versagen der innerstaatlichen Institutionen mit einer erhöhten Prüfungsdichte gewissermaßen kompensieren, um dem Verbundzweck eines effektiven Menschenrechtsschutzes Genüge zu tun. Auch in diesem Zusammenhang wird also wieder deutlich, dass der Subsidiaritätsgrundsatz als dynamisches Prinzip sowohl für eine Zurückhaltung des EGMR als auch für dessen Einschreiten sprechen kann.Footnote 197

2. Dimensionen des Subsidiaritätsbegriffs in der EMRK

Nach dem Gesagten lassen sich zwei Hauptdimensionen des Subsidiaritätsbegriffs unter der EMRK ausmachen. Zu unterscheiden ist zwischen Subsidiarität als (unverbindlicher) Kompetenzabgrenzungsregel und Subsidiarität als (verbindlicher) Kompetenzausübungsregel (Abb. 1):Footnote 198

Abb. 1
figure 1

Dimensionen des Subsidiaritätskonzepts unter der EMRK

a. Subsidiarität als unverbindliche Kompetenzzuweisungsmaxime

In Bezug auf die Kompetenzabgrenzung kommt Subsidiarität als politisches Leitmotiv der Konventionsstaaten in verschiedenen heute geltenden Bestimmungen zum Vorschein. Insbesondere hinsichtlich der zeitlichen Abgrenzung der Kompetenzen zwischen mitgliedstaatlichen Behörden und EGMR war der Subsidiaritätsgrundsatz offensichtlich tragender Gesichtspunkt bei der Ausarbeitung der EMRK.Footnote 199 Im Einzelnen ist in diesem Zusammenhang namentlich auf Art. 1 EMRK, Art. 13 EMRK in Verbindung mit Art. 35 EMRKFootnote 200 und Art. 46 EMRK hinzuweisen.Footnote 201 Einzelne Kommentatorinnen und Kommentatoren – und auch der EGMR – haben außerdem auch in Art. 41 EMRK (gerechte Entschädigung) und Art. 53 EMRK (Wahrung anerkannter Menschenrechte, Günstigkeitsprinzip) Subsidiaritätselemente erkannt.Footnote 202

Aus Art. 1 EMRK, der die „Hohen Vertragsparteien“ zur Achtung der EMRK-Garantien verpflichtet und den EGMR unerwähnt lässt, wird in der Literatur abgeleitet, dass die Gewährleistung der EMRK-Garantien in erster Linie den Vertragsstaaten obliegtFootnote 203 und der durch Art. 19 EMRK eingesetzte EGMR erst eingreifen darf, wenn die nationalen Institutionen dieser Aufgabe nicht nachkommen.Footnote 204 Konkretisiert wird diese Konzeption durch den Ausschöpfungsgrundsatz, gemäß welchem im konkreten Einzelfall erst dann Beschwerde an den EGMR erhoben werden kann, wenn alle innerstaatlichen Rechtsmittel ausgeschöpft wurden (Art. 35 Ziff. 1 EMRK)Footnote 205 und die weiteren Zulässigkeitsvoraussetzungen erfüllt sind (Art. 35 Ziff. 2–4 EMRK). Umgekehrt sind die Konventionsstaaten aber aufgrund von Art. 13 EMRK im Sinne des Subsidiaritätsgrundsatzes auch verpflichtet, innerstaatlich wirksame Rechtsmittel zur Durchsetzung der Konventionsgarantien zur Verfügung zu stellen.Footnote 206 Die pilot-judgment-Verfahren, die der EGMR von Zeit zu Zeit durchführt, um einen Konventionsstaat auf strukturell bedingte und daher großflächige Verletzungen der EMRK aufmerksam zu machen, zielen ganz im Sinne des Subsidiaritätsgrundsatzes darauf ab, innerstaatlich Gesetzes- beziehungsweise Praxisänderungen anzustoßen, welche die rasche Beseitigung der Konventionsverletzung schon auf innerstaatlicher Ebene sicherstellen sollen.Footnote 207

Schließlich greifen die Überwachungsbefugnisse des Ministerrats zur Einhaltung der Urteile des EGMR (Art. 46 Ziff. 2–5 EMRK) in der Regel erst ein, wenn die Konventionsstaaten ihrer Pflicht zur Befolgung der Urteile (Art. 46 Ziff. 1 EMRK) nicht nachkommen. Kürzlich wurde ergänzend hierzu vertreten, dass auch die politischen Befugnisse des Europarates als Ausprägung der Subsidiarität angesehen werden können, zumal insbesondere systemische Probleme, die zu wiederholten Verurteilungen einzelner Konventionsstaaten durch den EGMR führen, auf jener (politischen) Ebene besser angegangen werden können als in den Individualverfahren vor dem EGMR.Footnote 208

Weil der Subsidiaritätsgedanke beim Aufbau des institutionellen Arrangements der EMRK als tragender politischer Gesichtspunkt angesehen werden muss, ist er vom EGMR auch zur Auslegung der erwähnten Bestimmungen heranzuziehen. Tatsächlich wird er vom EGMR im Zusammenhang mit Art. 34 und Art. 35 EMRK immer wieder erwähnt.Footnote 209 Insoweit ist der Grundsatz funktional jedoch keine Kompetenzausübungsregel, sondern eine Kompetenzabgrenzungsregel, die den EGMR in seiner Rechtsprechungstätigkeit – und namentlich bei der Auslegung der eben erwähnten Bestimmungen – lediglich im Sinne eines teleologischen Bezugspunktes im Rahmen der Auslegung der erwähnten Bestimmungen betrifft. In der Literatur wird der Grundsatz in dieser Funktion oft als „formelle Subsidiarität“ bezeichnet.Footnote 210

Soweit rechtspolitische Kritik an diesem Institutionenaufbau geübt wird, betrifft dies allerdings in erster Linie die Vertragsstaaten als „Gesetzgeber der EMRK“ und nicht den EGMR. Es sind die Vertragsstaaten, welche durch ihre Ratifizierung der EMRK in der gegenwärtigen Form die bestehende Kompetenzordnung gutgeheißen haben und insofern die Verantwortung dafür tragen, dass der Verbundzweck erreicht wird. Auch der EGMR als Hauptinterpret der EMRK trägt durch seine Rechtsprechungstätigkeit zwar Wesentliches zur Fortentwicklung und Konkretisierung der Kompetenzordnung der EMRK bei. Man könnte sich deshalb überlegen, den EGMR in dieser Hinsicht als „wichtigen institutionellen Akteur“ zu begreifen, und ihn bei der Auslegung der Kompetenzsequenzierungsordnung der EMRK auch rechtlich an das Subsidiaritätsprinzip zu binden.Footnote 211 Diese rechtliche Bindung käme für den EGMR dann namentlich bei der Auslegung der Ausschöpfungsregel und der weiteren Zulässigkeitsvoraussetzungen zum Tragen. Eine solche Konzeption stünde dogmatisch jedoch auf schwachen Beinen.Footnote 212 Weil sie auch praktisch keine Auswirkungen zeitigen würde, soll diese Diskussion hier nicht vertieft werden.

b. Subsidiarität als an den EGMR gerichtete Kompetenzausübungsregel

Der Subsidiaritätsgrundsatz hat unter der EMRK aber auch einen anderen, für den EGMR und die mitgliedstaatlichen Behörden und Gerichte bei der Anwendung der EMRK verbindlichen rechtlichen Anwendungsbereich. Auch wenn bis anhin eine explizite Verankerung des Grundsatzes im Text der Konvention fehlte, fühlt sich der EGMR nämlich in seiner Rechtsprechung nicht nur in der Auslegung der Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Beschwerde, sondern ganz allgemein an den Grundsatz der Subsidiarität gebunden. Als Folge dessen macht er seine Kontrolldichte im Einzelfall regelmäßig von subsidiaritätsrechtlichen Überlegungen abhängig. Insoweit fungiert Subsidiarität jedoch nicht als teleologischer Gesichtspunkt bei der Auslegung der Bestimmungen zur Kompetenzabgrenzung, sondern als vom EGMR selbstauferlegte Kompetenzausübungsregel.

Als Kompetenzausübungsregel kommt der Subsidiaritätsgrundsatz beispielsweise in der margin-of-appreciation-Doktrin und der fourth-instance-Doktrin zum Tragen – beides richterrechtlich entwickelte Konzepte, deren dogmatische Grundlagen unten noch aufzugreifen sind. In Frage steht hier nicht die Zuständigkeit des EGMR zur Überwachung der Einhaltung der Konventionsrechte in einem bestimmten Fall, sondern die Ausübung dieser Überwachungsbefugnis. Diese soll nämlich die besondere institutionelle Stellung des EGMR als internationales Gericht berücksichtigen, wobei sowohl die Eigenschaft seiner völkerrechtlichen Konstituierung als auch seine justizielle Funktion Auswirkungen zeitigt.Footnote 213 Die Berücksichtigung der besonderen Stellung erfolgt dabei über das (variable) Instrument der Kontrolldichte, welche der EGMR namentlich auch von der Qualität des innerstaatlichen Verfahrens abhängig macht. Unter dem Aspekt des Subsidiaritätsgrundsatzes als an den EGMR gerichtete Kompetenzausübungsregel sind deshalb auch verfahrensrechtliche Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aufzugreifen, welche in der Literatur teils unter dem Begriff der „Primärverantwortung“ abgehandelt werden.

Während die aus dem Subsidiaritätsprinzip fließenden Primärverpflichtungen der Konventionsstaaten mit Beschwerde an den EGMR durchgesetzt werden können, fehlt dem Subsidiaritätsprinzip im Verhältnis zum EGMR die Justiziabilität, zumal dessen Entscheidungen nicht überprüfbar sind. Es ist gewissermaßen der EGMR als ‚letztes‘ Gericht, der sich bei der Anwendung des Subsidiaritätsgrundsatzes als Kompetenzausübungsregel selbst überwacht.Footnote 214

Manche würden dem Subsidiaritätsgrundsatz aufgrund der mangelnden Justiziabilität den Rechtscharakter absprechen. Bei Lichte konvergiert mangelnde Justiziabilität jedoch nicht zwingend mit mangelnder Rechtsverbindlichkeit;Footnote 215 in Frage steht vielmehr die Wirksamkeit des Subsidiaritätsgrundsatzes. In diesem Zusammenhang steht es den Konventionsstaaten offen, den EGMR durch politische Stellungnahmen in den Europaratsinstitutionen zur Einhaltung des Subsidiaritätsgrundsatzes anzuhalten. Letztlich hat der EGMR selbst das größte Interesse an der Einhaltung der Subsidiarität, hängt doch seine Legitimität ganz entscheidend vom Zuspruch der Konventionsstaaten ab.Footnote 216 Damit soll nicht gesagt sein, dass der EGMR sich als unbequemer Akteur zurückhalten soll; der Blick von außen ist nötig, um mögliche Fehlentwicklungen zu korrigieren. Gerade deshalb sollte der EGMR alles daran setzen, durch eine umsichtige Rechtsprechung seine Rolle als „menschenrechtliches Gewissen“ EuropasFootnote 217 zu bewahren. Die vielfachen Bezugnahmen auf den Subsidiaritätsgrundsatz in der Rechtsprechung zeigen, dass sich der EGMR der legitimitätsstiftenden Funktion des Subsidiaritätsgrundsatzes durchaus bewusst ist.Footnote 218

c. Terminologische Abgrenzungen

Bevor nachstehend auf die dogmatischen Grundlagen des Subsidiaritätsgrundsatzes in seiner Erscheinungsform als Rechtsregel zur Kompetenzausübung durch den EGMR eingegangen wird, erscheint es angesichts der in diesem Zusammenhang sowohl in der Literatur als auch in der Rechtsprechung teilweise synonym, teilweise mehrdeutig verwendeten Begriffe dienlich, sich einen diesbezüglichen Überblick zu verschaffen.

Die hier vorgenommene Unterscheidung zwischen Subsidiarität als (unverbindlichem) teleologischem Charakterzug der Zuständigkeitsregelungen der EMRK und Subsidiarität als (verbindlicher) an den EGMR gerichteter Kompetenzausübungsregel deckt sich inhaltlich mit der in der Literatur mitunter gebrauchten Unterscheidung zwischen formeller und materieller Subsidiarität.Footnote 219 Anders als die angestammte Terminologie macht die hier vorgenommene Unterscheidung jedoch deutlich, dass Subsidiarität in Bezug auf die Kompetenzabgrenzung zwischen dem EGMR und den nationalstaatlichen Institutionen kein eigentlicher Rechtssatz, sondern nur einer unter mehreren Gesichtspunkten ist, welche vom EGMR bei der Auslegung der Zuständigkeitsbestimmungen zu berücksichtigen sind. Die insofern nichtssagende Unterscheidung zwischen „formeller“ und „materieller“ Subsidiarität legt zu wenig offen, dass solche Unterschiede in der Rechtsverbindlichkeit des Subsidiaritätsgrundsatzes überhaupt bestehen. Nicht zufällig wird in der Literatur in gedanklichem Rückgriff auf das „formelle“ Verständnis von Subsidiarität oft auf eine Definition des Subsidiaritätsprinzips zurückgegriffen, welche eigentlich nur auf seine Funktion als Kompetenzabgrenzungsregel passt und sich (naheliegenderweise) an den bundesstaatlichen Subsidiaritätsbegriff anlehnt.Footnote 220

Im Weiteren ist der Subsidiaritätsgrundsatz als (für den EGMR verbindliche) Kompetenzausübungsregel zu unterscheiden vom Begriff des Ermessens der innerstaatlichen Behörden in der Umsetzung der EMRK (engl. discretion). Ermessen genießen die Konventionsstaaten schon allein aufgrund ihrer Freiheit in der Wahl der Mittel zur Umsetzung der EMRK-Garantien.Footnote 221 In gefestigter Rechtsprechung äußert der EGMR deshalb immer wieder, dass die EMRK nicht vorschreibt, welche Mittel die Konventionsstaaten zu ihrer Implementierung anzuwenden haben, sondern lediglich im Ergebnis Beachtung verlangt.Footnote 222 Der damit ohnehin bestehende Ermessensspielraum der Konventionsstaaten in der Anwendung der EMRK dehnt sich aber aus, wenn der EGMR in Beurteilung eines an ihn getragenen Einzelfalls seine Kontrolldichte unter Berufung auf den Subsidiaritätsgrundsatz zurückfährt.Footnote 223

Die in diesem Zusammenhang festzustellenden begrifflichen Unsicherheiten sind maßgeblich darauf zurückzuführen, dass der Begriff der margin of appreciation einerseits herangezogen wird, um das Ermessen der Konventionsstaaten bei der Implementierung der Konventionsgarantien zu beschreiben (synonym zur Implementierungsfreiheit [engl. freedom of implementation] beziehungsweise zum englischen Begriff discretion), anderseits aber auch im Zusammenhang der vom EGMR gewählten Kontrolldichte verwendet und in diesem Sinne mit dem Subsidiaritätgrundsatz (engl. subsidiarity principle) gleichgesetzt wird.Footnote 224 Bei der Lektüre sowohl der Entscheidungen und Urteile des EGMR als auch der Literatur muss diese Mehrdeutigkeit der verschiedenen Begriffe im Auge behalten werden.

Für die Zwecke der vorliegenden Arbeit wird in Bezug auf die institutionell begründete, aber variable Prüfungsdichte des EGMR im Folgenden immer der Begriff des Subsidiaritätsgrundsatzes verwendet und die margin-of-appreciation-Doktrin (ebenso wie die fourth-instance-Doktrin) lediglich als einer von mehreren Anwendungsfällen behandelt.Footnote 225 Soweit hingegen von der allgemeinen völkerrechtlichen Implementierungsfreiheit der Konventionsstaaten die Rede ist, wird im Folgenden der Terminus des Ermessens gebraucht.

3. Dogmatische Grundlagen und Ausprägungen des Subsidiaritätsgrundsatzes als Kompetenzausübungsregel

Wie bereits erwähnt worden ist, fehlt in der EMRK – zumindest bis das 15. Zusatzprotokoll in Kraft trittFootnote 226 – eine ausdrückliche Bezugnahme auf den Subsidiaritätsgrundsatz.Footnote 227 Auch in den Materialien zur Entstehungsgeschichte der Konvention sucht man vergeblich nach dem Subsidiaritätsbegriff.Footnote 228 Vor diesem Hintergrund fragt sich, worin die dogmatischen Grundlagen des Subsidiaritätsgrundsatzes als verbindliche Kompetenzausübungsregel zu erblicken sind.

Antworten auf diese Frage finden sich in der frühen Rechtsprechung des EGMR,Footnote 229 wobei für die heutige Praxis insbesondere zwei Urteile aus den Jahren 1968Footnote 230 beziehungsweise 1976Footnote 231 wegweisend waren. Die entscheidenden Passagen dieser Urteile sollen nachfolgend kurz skizziert werden, zumal in ihnen schon sämtliche – nachfolgend ebenfalls kurz darzulegenden – Wirkungsdimensionen des Subsidiaritätsgrundsatzes in der heutigen Praxis vorgezeichnet sind. Sodann soll die Frage in den Raum gestellt werden, ob – und gegebenenfalls inwiefern – eine mögliche zukünftige Verankerung des Subsidiaritätsgrundsatzes in der Präambel der EMRK Änderungen an der Rechtslage bewirken würde.

a. Frühe Rechtsprechung des EGMR

Im Urteil Case „Relating to Certain Aspects of the Law on the Use of Languages in Education in Belgium“ v. Belgien (1968) nahm der EGMR soweit ersichtlich erstmals ausdrücklich auf den Subsidiaritätsgrundsatz Bezug. Der EGMR hatte in jenem Fall zu beurteilen, ob die belgische Schulgesetzgebung, welche es den Kindern der Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer faktisch verunmöglichte, in ihren (mehrheitlich niederländischsprachigen) Bezirken die französischsprachigen Sekundarschulen zu besuchen, mit dem Recht auf Bildung (Art. 2 Zusatzprotokoll 1 EMRK) und dem Diskriminierungsverbot (Art. 14 EMRK) vereinbar sei.

Der EGMR hatte dabei insbesondere die Frage zu beantworten, ob die gesetzgeberische Ungleichbehandlung niederländisch- und französischsprachiger Kinder bezüglich der sprachlichen Beschulung gerechtfertigt werden könne. Der EGMR hielt fest, bei der Beantwortung dieser Frage dürfe nicht außer Acht gelassen werden, welche rechtlichen und tatsächlichen Verhältnisse das gesellschaftliche Zusammenleben in Belgien prägten. In Erfüllung seiner Kontrollaufgabe dürfe der Gerichtshof nicht die Rolle der zuständigen nationalen Behörden übernehmen, zumal er sonst die subsidiäre Natur des konventionsrechtlich installierten Durchsetzungsmechanismus aus den Augen verlieren würde.Footnote 232 Implizit geht aus dieser Urteilspassage hervor, dass der EGMR den belgischen Behörden gerade deshalb eine Beurteilungsprärogative einräumte, weil sie aufgrund der Nähe zum Geschehen besser einschätzen könnten, ob eine Ungleichbehandlung sachlich begründet sei.

Die Frage dieser Einschätzungsprärogative der nationalen Behörden stellte sich kurze Zeit später wieder. Im Fall Handyside v. Vereinigtes Königreich (1976) hatte der EGMR zu beurteilen, ob es mit der Meinungsäußerungsfreiheit (Art. 10 EMRK) zu vereinbaren war, dass die britischen Behörden unter Berufung auf die öffentliche Moral ein für Jugendliche gedachtes Buch konfisziert hatten, das verschiedene Aspekte der Sexualität (Verhütungsmittel, Menstruation, Pornografie, Homosexualität und Abtreibung) veranschaulichte. In seinem Urteil bestätigte der EGMR zunächst den Subsidiaritätsansatz, den er im Urteil Case „Relating to Certain Aspects of the Law on the Use of Languages in Education in Belgium“ v. Belgien vorgezeichnet hatte und statuierte, es obliege in erster Linie den Konventionsstaaten, die EMRK-Garantien zu gewährleisten. Weiter hob er – unter Hinweis auf die zeitlich und räumlich stark divergierenden Moralvorstellungen zur Rolle der Sexualität in der Erziehung – hervor, dass die nationalen Behörden aufgrund ihres direkten und kontinuierlichen Kontakts mit den gesellschaftlichen Gruppierungen ihres Landes im Grundsatz besser geeignet seien, die Tragweite der Moralvorstellungen sowie die sich daraus ergebende Notwendigkeit einer Einschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit (vgl. Art. 10 Ziff. 2 EMRK) zu beurteilen.Footnote 233

Es sind im Wesentlichen also zwei Argumente, welche der EGMR in den beiden Urteilen dafür anführte, aus subsidiaritätsrechtlichen Überlegungen seine eigene Kontrolldichte zugunsten eines erweiterten Beurteilungsspielraums der nationalen Behörden zurückzufahren: Einerseits die konventionsrechtlich begründete primäre Zuständigkeit der Konventionsstaaten zur Gewährleistung der Konventionsgarantien in ihrer nationalen Gesetzgebung;Footnote 234 anderseits die größere räumliche, zeitliche und persönliche Nähe der nationalen Behörden und ihre damit verbundene Kenntnis der Umstände des fraglichen Einzelfalls.

Im Urteil Hatton v. Vereinigtes Königreich ergänzte der EGMR den dargelegten dualen Begründungsstrang zwar um den Hinweis, die nationalen Behörden seien im Unterschied zum EGMR stärker demokratisch legitimiert.Footnote 235 Im Urteil Hirst v. Vereinigtes Königreich hingegen relativierte er die subsidiaritätsrechtliche Bedeutung dieser demokratischen Legitimation der nationalen Behörden, indem er statuierte, im Zusammenhang des englischen Wahlrechtsausschlusses für Gefängnisinsassinnen und -insassen vermöge nur die aktive Reflexion des Gesetzgebers über die diesbezüglichen Anforderungen der EMRK einen erweiterten Ermessensspielraum zu begründen, nicht jedoch die unhinterfragte und passive Übernahme tradierter Rechtsbestände.Footnote 236

Diese letztere Erwägung macht deutlich, dass der demokratischen Legitimation und der räumlichen, zeitlichen und persönlichen Nähe der nationalen Behörden subsidiaritätsrechtlich für sich genommen keine durchschlagende Bedeutung zukommt; als Faktoren zur Bemessung der Tragweite des Subsidiaritätsgrundsatzes sind sie vielmehr nur dann von Bedeutung, wenn sie dazu führen, dass (innerstaatlich) eine fundiertere Auseinandersetzung mit den Konventionsgarantien stattfindet, als dies auf Ebene des EGMR flächendeckend möglich wäre. Insofern konvergiert der Begründungsansatz des EGMR mit dem allgemeinen Subsidiaritätsdenken: Zwar verfügen die „untergeordneten“ nationalen Behörden unter der EMRK grundsätzlich in verschiedener Hinsicht über eine Einschätzungsprärogative, sie müssen ihrer Primärverpflichtung zum Schutze der Konventionsrechte jedoch nachkommen, weil sonst der EGMR verpflichtet ist, das entstandene Verantwortlichkeitsvakuum aufzufüllen.Footnote 237

Die dargelegte doppelte Begründung des EGMR für die Geltung des Subsidiaritätsgrundsatzes als Kompetenzausübungsregel lässt auch auf dessen dogmatische Grundlagen schließen: Es ist der („formell-subsidiäre“) Institutionenaufbau der EMRK, wie er insbesondere in Art. 1 EMRK, Art. 13 EMRK, Art. 35 EMRK und Art. 46 EMRK zum Ausdruck kommt,Footnote 238 welcher den EGMR auch im Sinne einer Kompetenzausübungsregel an den Subsidiaritätsgrundsatz bindet.

Aus dieser dogmatischen Herleitung folgt auch, dass der EGMR in der Beurteilung konkreter Einzelfälle nicht nur in Bezug auf die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Einschränkung der EMRK-Rechte an den Subsidiaritätsgrundsatz gebunden ist, obwohl dies zweifellos einen wichtigen Aspekt der margin-of-appreciation-Doktrin darstellt (vgl. dazu zum Beispiel das bereits dargelegte Handyside-Urteil des EGMR).Footnote 239 Vielmehr gilt der Subsidiaritätsgrundsatz als Kompetenzausübungsregel ganz allgemein für die Rechtsprechungstätigkeit des EGMR. In diesem Sinne kann aufgrund der neueren Rechtsprechung des EGMR kaum mehr ein Zweifel daran bestehen, dass der Subsidiaritätsgrundsatz eine allgemeine Kompetenzausübungsregel darstellt, welche auch auf die Tatsachenfeststellung Anwendung findet. Bevor jedoch diese spezifische Wirkungsdimension des Subsidiaritätsgrundsatzes im Bereich der Tatsachenfeststellung durch den EGMR aufgegriffen werden kann, ist kurz überblicksweise darzulegen, in welcher Form sich der Subsidiaritätsgrundsatz als Kompetenzausübungsregel sonst in der Rechtsprechungstätigkeit des EGMR niederschlägt.

b. Anwendungsbereich des Subsidiaritätsprinzips als Kompetenzausübungsregel

Im politischen Diskurs um den Subsidiaritätsgrundsatz unter der EMRK wird das lex generalis-lex specialis-Verhältnis zwischen Subsidiaritätsgrundsatz und margin-of-appreciation-Doktrin nicht immer ausreichend klar beschrieben.Footnote 240 Insofern bleibt mitunter unklar, dass die margin-of-appreciation-Doktrin lediglich einen der vielfältigen Anwendungsbereiche des ausgreifenderen Subsidiaritätsgrundsatzes darstellt.Footnote 241

Gemäß herrschender Lesart deckt die margin-of-appreciation-Doktrin nämlich nur die Frage ab, welchen materiellen Prüfungsmaßstab der EGMR bei der Prüfung einer behaupteten Konventionsverletzung im Hinblick auf eine von den innerstaatlichen GesetzgebernFootnote 242 und Gerichten bereits vorgenommene Abwägung verschiedener Rechtsgüter noch anwenden soll.Footnote 243 Anwendung findet sie daher vor allem im Rahmen der in der EMRK teilweise vorgesehenen Verhältnismäßigkeitsprüfung bei Einschränkungen der Konventionsrechte (Art. 8 Ziff. 2, Art. 9 Ziff. 2, Art. 10 Ziff. 2, Art. 11 Ziff. 2 und Art. 15 EMRK) und bei der Frage, ob eine (vor allem gesetzgeberische) Ungleichbehandlung verschiedener Personengruppen im Hinblick auf das Diskriminierungsverbot (Art. 14 EMRK) sachlich gerechtfertigt werden kann. Herangezogen wird sie weiter bei der Abwägung verschiedener in der Konvention niedergelegter RechteFootnote 244 und bei der Bestimmung des Umfangs positiver staatlicher Schutzpflichten.Footnote 245 Seltener findet sie zudem auch Beachtung, um den Schutzbereich der Konventionsgarantien zu bestimmen, so beispielsweise bei umstrittenen Wertungsfragen wie jener nach dem Beginn menschlichen Lebens im Hinblick auf die Anwendung von Art. 2 EMRK.Footnote 246

In der Literatur wird – teilweise auch gestützt auf missverständliche Urteilspassagen des EGMRFootnote 247 – vertreten, der Anwendungsbereich der margin-of-appreciation-Doktrin sei weiter gesteckt und schütze auch einen bestimmten innerstaatlichen Entscheidungsspielraum bei der Feststellung des Sachverhalts.Footnote 248 Eine solche Interpretation ist jedoch abzulehnen, zumal sie die Grenzen zwischen den verschiedenen Anwendungsbereichen des Subsidiaritätsgrundsatzes als Kompetenzausübungsregel unter der EMRK unnötigerweise verwischt.

Die selbstauferlegte Zurückhaltung des EGMR, in seinem eigenen Verfahren von dem innerstaatlich bereits festgestellten Sachverhalt abzuweichen, ist vielmehr – zusammen mit seiner Zurückhaltung gegenüber einer abweichenden Auslegung nationalen Rechts – entweder allgemein unter den Subsidiaritätsgrundsatz als Kompetenzausübungsregel oder aber spezifischer unter die „fourth- und die first-instance-Doktrin“ zu fassen. Unter der fourth-instance-DoktrinFootnote 249 hält der Gerichtshof im Sinne des Subsidiaritätsgrundsatzes regelmäßig fest, er müsse sich aufgrund seiner besonderen Stellung bei der Auslegung innerstaatlichen RechtsFootnote 250 und der Würdigung der TatsachenFootnote 251 im Verhältnis zu den innerstaatlichen Gerichten Zurückhaltung auferlegen.Footnote 252 Die first-instance-Doktrin betrifft ausschließlich die Tatsachenfeststellung und legt im Sinne einer Leitlinie fest, dass der EGMR die Rolle eines erstinstanzlichen Tatsachengerichts nur mit Zurückhaltung und nur dann einnehmen soll, wenn dies aufgrund der Umstände als unabdingbar erscheint („where this is […] rendered unavoidable by the circumstances of a particular case“).Footnote 253 In der Literatur wird die selbstauferlegte Zurückhaltung des EGMR bei der Auslegung innerstaatlichen Rechts auch als „lawfulness-subsidiarityFootnote 254 bezeichnet, während für den Bereich der Tatsachenfeststellung der Begriff der „fact-subsidiarityFootnote 255 verwendet wird.

Die Verwendung dieser Terminologie verfolgt nicht zuletzt den Anspruch herauszustreichen, dass es sich bei all diesen Aspekten um verschiedene Ausprägungen ein- und desselben Subsidiaritätsgrundsatzes handelt,Footnote 256 welcher sich allgemein auf die Rechtsprechungstätigkeit des EGMR auswirkt und neben den erwähnten Bereichen daher insbesondere auch dann wirksam wird, wenn der EGMR über die Reichweite der EMRK gegenüber anderen völkerrechtlichen Rechtssätzen wie der UN-ChartaFootnote 257 oder Verordnungen der Europäischen UnionFootnote 258 entscheidet.Footnote 259 Es ist hier nicht der Platz, die verschiedenen Dimensionen des Subsidiaritätsgrundsatzes in ihrer ganzen Vielschichtigkeit auszuleuchten. Wichtig ist aber die Erkenntnis, dass der Subsidiaritätsgrundsatz querschnittsartig verschiedenste Facetten der Rechtsprechungstätigkeit des EGMR (Art. 19 EMRK) durchzieht. Durch den Subsidiaritätsgrundsatz ist damit zweifellos auch die Tatsachenfeststellungsfunktion des EGMR angesprochen, zumal jede Rechtsanwendung – wie bereits oben aufgezeigt – die Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts voraussetzt.Footnote 260

c. Künftige Verankerung in der Präambel der EMRK

An der Brighton-Konferenz vom 19. und 20. April 2012 beschloss die Ministerkonferenz unter anderem, dass die Präambel der EMRK im Sinne der Transparenz und Zugänglichkeit um einen Hinweis auf den Subsidiaritätsgrundsatz und die margin-of-appreciation-Doktrin ergänzt werden solle.Footnote 261 Das Ministerkomitee des Europarates erteilte in der Folge seinem Lenkungsausschuss für Menschenrechte den Auftrag, einen Entwurf zu zwei Protokollen zur Ergänzung und zur Änderung der EMRK auszuarbeiten. Der Entwurf sah unter anderem vor, die Präambel der EMRK um die Erwägung zu ergänzen, „[…] qu’il incombe au premier chef aux Hautes Parties contractantes, conformément au principe de subsidiarité, de garantir le respect des droits et libertés définis dans la présente Convention et ses protocoles, et que, ce faisant, elles jouissent d’une marge d’appréciation, sous le contrôle de la Cour européenne des Droits de l’Homme instituée par la présente Convention, […].“Footnote 262 Nach Ablieferung des Entwurfs durch den Lenkungsausschuss im November 2012 konsultierte das Ministerkomitee am 17. Januar 2013 den EGMR und die Parlamentarische Versammlung.Footnote 263

In seiner Stellungnahme vom 6. Februar 2013 hielt der EGMR fest, aus der Entstehungsgeschichte des 15. Zusatzprotokolls werde klar, dass die Konventionsstaaten mit der Erwähnung der margin-of-appreciation-Doktrin die materielle Rechtslage nicht hätten verändern wollen; die Bezugnahme auf den Subsidiaritätsgrundsatz widerspiegle die Rechtsprechung des EGMR.Footnote 264 Auch die Parlamentarische Versammlung hielt in ihrer Stellungnahme fest, dass die Erwähnung der margin-of-appreciation-Doktrin nicht über die schon bisher vom EGMR angewandte Rechtsprechung hinausgehe.Footnote 265 Das Ministerkomitee verabschiedete das Protokoll Nr. 15 an seiner 123. Tagung und legte es am 24. Juni 2013 zur Unterzeichnung durch die Mitgliedstaaten auf.Footnote 266

Aus der Entstehungsgeschichte wird klar, dass die Ergänzung der Präambel der EMRK um einen Hinweis auf den Subsidiaritätsgrundsatz und die margin-of-appreciation-Doktrin lediglich die bestehende Rechtsprechung kodifiziert und vorab dazu dient, die „Transparenz und die Zugänglichkeit der Eigenheiten des Kontrollmechanismus der EMRK zu verbessern“.Footnote 267,Footnote 268 Vor diesem Hintergrund ist nicht davon auszugehen, dass das Inkrafttreten des 15. Zusatzprotokolls in Bezug auf die Anwendung des Subsidiaritätsgrundsatzes etwas an der bestehenden Rechtslage ändern wird.Footnote 269

Bedauernswert ist, dass die nun vorgesehene Ergänzung der EMRK nichts zur Klarstellung des dogmatischen Verhältnisses zwischen Subsidiaritätsgrundsatz und margin-of-appreciation-Doktrin beitragen wird, sondern – im Gegenteil – geeignet ist, zusätzliche Verwirrung zu stiften. In der Ergänzung zur Präambel wird der Subsidiaritätsgrundsatz nämlich im Wesentlichen lediglich als Strukturmerkmal der heute bestehenden Kompetenzordnung dargestellt („[…] qu’il incombe au premier chef aux Hautes Parties contractantes […] de garantir le respect des droits et libertés définis dans la présente Convention et ses protocoles […]“), seine Funktion als an den EGMR gerichtete Kompetenzausübungsregel jedoch unterschlagen. Hinzu kommt, dass die margin-of-appreciation-Doktrin als Ausprägung des Subsidiaritätsgrundsatzes im Sinne einer Kompetenzausübungsregel logisch auf dieselbe Stufe gestellt wird, wie der Subsidiaritätsgrundsatz, obwohl sie lediglich eine der vielfältigen Ausprägungen desselben ist. Die in den parlamentarischen Beratungen zum bundesrätlichen Bericht „40 Jahre EMRK-Beitritt der Schweiz. Erfahrungen und Perspektiven“ geäußerte Hoffnung, dass mit der Verankerung des Subsidiaritätsgrundsatzes in der Präambel die „marge d`appréciation“ der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der EMRK besser definiert sein werde,Footnote 270 dürfte sich vor diesem Hintergrund kaum realisieren.

Vielmehr ist es Aufgabe des EGMR, in der zukünftigen Rechtsprechung klare Standards zur Tragweite des Subsidiaritätsgrundsatzes zu entwickeln und sie konsistent anzuwenden; auch die Wissenschaft ist dabei angerufen, aus der nur schwer überblickbaren Rechtsprechung des EGMR Leitlinien für bestimmte Fallgruppen abzuleiten. In Bezug auf die Tatsachenfeststellung soll die vorliegende Arbeit einen solchen Beitrag leisten. Bevor aber der Versuch einer solchen Systematisierung der Rechtsprechung zu Art. 3 EMRK unternommen wird, soll nachfolgend als Abschluss des vorliegenden Kapitels aufgezeigt werden, welche spezifische Begründung und Bedeutung der Subsidiaritätsgrundsatz für die Tatsachenfeststellung unter der EMRK aufweist. Verbindliche Leitlinien für den Einzelfall lassen sich aus dem Subsidiaritätsgrundsatz zwar kaum ableiten, weil er als Prinzipiennorm nicht nach umfassender Verwirklichung verlangt, sondern eine graduelle Beachtung und Abwägung mit anderen Prinzipien zulässt.Footnote 271 Als dogmatischer Begründungsansatz und Maßstab für die Einordnung der richterrechtlich entwickelten Leitsätze zur Tatsachenfeststellung im Verfahren vor dem EGMR lässt er sich jedoch sehr wohl heranziehen.

4. Bedeutung für die Tatsachenfeststellung unter der EMRK

Der Subsidiaritätsgrundsatz als Kompetenzausübungsregel beschlägt – wie oben herausgearbeitet – insbesondere auch die Tatsachenfeststellung.Footnote 272 Im Unterschied zu innerstaatlichen Instanzengerichten, welche aufgrund der anwendbaren Verfahrensrechtsordnungen oftmals an die Sachverhaltsfeststellungen unterer Gerichte gebunden sind,Footnote 273 sehen für den EGMR diesbezüglich weder die EMRK noch die EGMR-VerfO irgendwelche Beschränkungen vor.Footnote 274 Trotz dieser umfassenden Tatsachenkognition auferlegt sich der EGMR in der Würdigung der Tatsachen im Sinne des Subsidiaritätsgrundsatzes in vielen Fällen große Zurückhaltung.Footnote 275

Bereits in Klaas v. Deutschland hob der EGMR im Sinne des Subsidiaritätsgrundsatzes – jedoch ohne seine explizite Erwähnung – hervor, es liege im Regelfall nicht in seiner Kompetenz, die Beweiswürdigung der nationalen Gerichte durch eine eigene Würdigung der Tatsachen zu ersetzen.Footnote 276 In jenem Fall brachte die Beschwerdeführerin vor, zwei Polizisten seien anlässlich einer Verkehrskontrolle vor ihrem Wohnblock ohne jede Not und vor den Augen ihrer achtjährigen Tochter mit unverhältnismäßiger Gewalt gegen sie vorgegangen.Footnote 277 Die Polizisten hingegen behaupteten, die Beschwerdeführerin sei von Anfang an äußerst aggressiv gewesen. Erst als die Beschwerdeführerin unter einem Vorwand versucht habe, sich einer Kontrolle durch eine Flucht in ihre Wohnung zu entziehen, hätten sie Gewalt anwenden müssen; die Behändigung und Fesselung der Beschwerdeführerin sei nötig gewesen, weil diese großen Widerstand geleistet habe, als sie aufgefordert worden sei, für eine Blutkontrolle ins Spital mitzukommen.Footnote 278

Nach Anhörung der Nachbarin der Beschwerdeführerin, der beteiligten Polizisten und der Tochter der Beschwerdeführerin sowie einer umfassenden Würdigung dieser Zeugenaussagen kam das Regionalgericht Detmold zum Schluss, dass die Schilderungen der Polizisten glaubhaft seien und wies die Schadenersatzklage der Beschwerdeführerin ab.Footnote 279 Das Oberlandesgericht Hamm wies eine dagegen erhobene Beschwerde ab;Footnote 280 und das Bundesverfassungsgericht trat auf das dagegen erhobene Rechtsmittel gar nicht erst ein, weil die Beweiswürdigung durch das Oberlandesgericht Hamm weder willkürlich noch sonst verfassungswidrig erscheine.Footnote 281

Konfrontiert mit zwei unvereinbaren Tatsachenschilderungen hielt eine knappe Mehrheit der zuständigen Kammer des EGMR fest, das erstinstanzliche Gericht habe in seinem Verfahren – anders als die später befassten Gerichte, einschließlich des EGMR – einen unmittelbaren Eindruck der Glaubwürdigkeit der verschiedenen Zeuginnen und Zeugen erhalten. Angesichts des Fehlens konkreter anderslautender Beweise sei deshalb auf seine Tatsachenfeststellung abzustellen und das Vorliegen einer Verletzung von Art. 3 EMRK zu verneinen.Footnote 282 Die drei unterlegenen Richter hingegen hielten dafür, dass es nicht Sache der Beschwerdeführerin gewesen wäre, zu beweisen, dass sie unverhältnismäßiger Gewalt ausgesetzt gewesen sei. Vielmehr hätte ihrer Meinung nach der deutsche Staat beweisen müssen, dass die ausgeübte Gewalt verhältnismäßig gewesen sei. Dieser Beweis sei nicht erfolgt, weshalb eine Verletzung von Art. 3 EMRK anzunehmen sei.Footnote 283

Der Fall Klaas v. Deutschland macht exemplarisch deutlich, welche zentrale Rolle der Tatsachenfeststellung für den materiellen Ausgang der Verfahren vor dem EGMR zukommt.Footnote 284 Die obsiegende Mehrheit gewichtete die besondere institutionelle Stellung des EGMR und damit den Subsidiaritätsgrundsatz stärker als die unterliegende Minderheit. Unterschiede waren aber auch in Bezug auf die objektive Beweislast auszumachen, welche von der Mehrheit bei der Beschwerdeführerin, von der Minderheit bei den staatlichen Behörden verortet wurde.

Hatte der EGMR in Klaas v. Deutschland seine Zurückhaltung bei der Tatsachenfeststellung noch nicht ausdrücklich mit dem Subsidiaritätsgrundsatz verknüpft, strich er diesen Zusammenhang in der späteren Rechtsprechung auch ausdrücklich hervor. So verwies er beispielsweise in Bartesaghi Gallo und andere v. Italien – einem Fall zur polizeilichen Gewaltanwendung gegenüber Demonstrantinnen und Demonstranten anlässlich des G8-Gipfels in Genua im Jahr 2001 – zur Begründung seiner Zurückhaltung explizit auf den Subsidiaritätsgrundsatz: „Quant à l’appréciation des preuves, si la Cour a toujours souligné son devoir de se livrer à un examen particulièrement approfondi en cas d’allégations sur le terrain des articles 2 et 3 de la Convention […], elle a également affirmé que, soucieuse de respecter la nature subsidiaire de son rôle, elle n’a pas pour tâche de substituer sa propre vision des choses à celle des cours et tribunaux nationaux, auxquels il appartient en principe de peser les données recueillies par eux […].“Footnote 285

Weiter präzisiert hat der EGMR die Klaas-Rechtsprechung, indem er festhielt, dass es aufgrund seiner subsidiären Rolle im Normalfall („in normal circumstances“) zwingender Gründe („cogent elements“)Footnote 286 bedürfe, damit er von der Tatsachenfeststellung der innerstaatlichen Gerichte abweiche.Footnote 287 Nur stichhaltige Beweise („sound evidence“), nicht hypothetische Spekulationen („hypothetical speculation“), vermöchten die Tatsachenfeststellung unabhängiger innerstaatlicher Gerichte in Frage zu stellen.Footnote 288 Über diesen Leitsatz hinausgehend hielt der EGMR in jüngerer Zeit zudem fest, er dürfe die Rolle eines erstinstanzlichen Tatsachengerichts nur mit Zurückhaltung einnehmen, namentlich dann, wenn dies aufgrund der Umstände des Einzelfalls unabdingbar erscheine („where this is […] rendered unavoidable by the circumstances of a particular case“).Footnote 289

Nun scheint zwar im Ausgangspunkt klar zu sein, dass der EGMR aufgrund des Subsidiaritätsgrundsatzes nicht ohne Not in die Tatsachenfeststellung der innerstaatlichen Gerichte eingreift. Wiewohl in der diesbezüglich wegweisenden Klaas-Entscheidung zudem einzelne Gründe für diese Zurückhaltung ausgemacht werden können, bleibt aber erläuterungsbedürftig, worin die spezifische Rolle des Subsidiaritätsgrundsatzes für die Tatsachenfeststellung vor dem EGMR bestehen könnte. Zu beantworten sind außerdem die Fragen, wann „zwingende Gründe“ vorliegen, welche ausnahmsweise gebieten, dass der EGMR in die innerstaatliche Tatsachenfeststellung eingreift, und welche Umstände des Einzelfalls als so „außergewöhnlich“ zu werten sind, dass sie ein Tätigwerden des EGMR als „erstinstanzliches Tatsachengericht“ erforderlich machen. In Antwort auf diese beiden Fragen sollen im vorliegenden Kapitel nur einige typische Fallkonstellationen herausgebildet werden, welche dann im weiteren Verlauf der Arbeit genauer zu untersuchen sein werden.

a. Begründung des Subsidiaritätsgrundsatzes

Gemäß der oben herausgearbeiteten allgemeinen Definition zielt der Subsidiaritätsgrundsatz unter der EMRK auf ein Zusammenspiel zwischen mitgliedstaatlichen Institutionen und EGMR ab, welches dem Verbundzweck eines effektiven Menschenrechtsschutzes gerecht wird, ohne in dysfunktionaler Art und Weise die Handlungsbefugnisse der primär verantwortlichen Konventionsstaaten einzuschränken.Footnote 290 Diese Definition gilt mutatis mutandis auch für die Tatsachenfeststellung, welche – wie oben aufgezeigtFootnote 291 – ein Kernelement effektiven Menschenrechtsschutzes darstellt. Wie auch aus der Rechtsprechung des EGMR deutlich hervorgeht,Footnote 292 sollen in erster Linie die Konventionsstaaten im Einzelfall den maßgeblichen Sachverhalt feststellen. Der EGMR schreitet diesbezüglich nur ein, wenn und soweit die innerstaatlichen Institutionen dieser Aufgabe nicht nachgekommen sind oder nicht nachkommen konnten.

Der EGMR hat die Beurteilungsprärogative der innerstaatlichen Behörden schon im Case „Relating to Certain Aspects of the Law on the Use of Languages in Education in Belgium“ v. Belgien damit erklärt, dass sie aufgrund ihrer Nähe zum Geschehen im Grundsatz besser zur Entscheidung geeignet seien.Footnote 293 Die zentralen Erwägungen des Urteils betrafen dort zwar in erster Linie die Frage, ob eine gesetzgeberische Ungleichbehandlung verschiedener Sprachgruppen im Lichte der speziellen Begebenheiten in Belgien sachlich gerechtfertigt werden könne – eine Frage, die nur mittelbar mit der Tatsachenfeststellung zu tun hat. Die dort verwendete subsidiaritätsrechtliche Rechtfertigung der Beurteilungsprärogative innerstaatlicher Instanzen lässt sich jedoch ohne weiteres auf die Aufgabe der Tatsachenfeststellung übertragen: Auch im Bereich der Tatsachenfeststellung sind die nationalen Behörden aufgrund ihrer Nähe zu den Geschehnissen für die Einschätzung des Einzelfalls im Grundsatz besser geeignet als der EGMR. Die größere Nähe zum Geschehen manifestiert sich dabei in vielfältiger Art und Weise:

Hinzuweisen ist zunächst einmal auf die größere persönliche Nähe der innerstaatlichen Entscheidungsträgerinnen zu den Parteien eines konkreten Verfahrens. Insbesondere die Verwaltungsbehörden und erstinstanzlichen Gerichte haben in ihren Verfahren in der Regel die Möglichkeit, die Betroffenen sowie allfällige Zeuginnen persönlich anzuhören und sich damit auch ein direktes Bild über ihre Glaubwürdigkeit zu machen.Footnote 294 Dies ist in Verfahren vor dem EGMR kaum je der Fall. Zwar erlaubt das anwendbare Verfahrensrecht die persönliche Befragung der Beschwerdeführerinnen grundsätzlich (vgl. Art. 54 Abs. 5 und Art. 59 Abs. 3 EGMR-VerfO sowie Rule A1 des Annexes zur EGMR-VerfO). Solche Befragungen kommen in der Praxis aufgrund des damit verbundenen Aufwands jedoch kaum vor.Footnote 295 In der weit überwiegenden Zahl der Fälle wird das Verfahren vielmehr schriftlich durchgeführt und nur selten – insbesondere in Verfahren vor der Großen KammerFootnote 296 – findet überhaupt ein Hearing statt. Diese Hearings dienen dann jedoch in der Regel nicht der Abnahme von Beweisen, sondern ermöglichen den Parteien „lediglich“, in einer Verhandlung vor dem zuständigen Spruchkörper ihren Rechtsstandpunkt darzutun und auf spezifische Fragen der beteiligten Richterinnen und Richter einzugehen.Footnote 297 In der Regel ist es den zuständigen Richterinnen und Richtern des EGMR deshalb nicht möglich, sich einen persönlichen Eindruck über die Glaubwürdigkeit der entscheidenden Zeuginnen und Zeugen zu machen. In einzelnen Urteilen wird in diesem Sinne denn auch festgehalten, dass die nationalen Behörden im Grundsatz besser geeignet seien, die Glaubhaftigkeit von Parteibehauptungen zu überprüfen: „As a general rule, the national authorities are best placed to assess not just the facts but, more particularly, the credibility of witnesses since it is they who have had an opportunity to see, hear and assess the demeanour of the individual concerned.“Footnote 298

Die Distanz zur streitgegenständlichen Sache und den Parteien weist dabei zusätzlich eine sprachliche Dimension auf. Die Akten des innerstaatlichen Verfahrens – einschließlich allfälliger Befragungsprotokolle und Urteile – werden im Verfahren vor dem EGMR in der Regel nicht übersetzt.Footnote 299 Angesichts der Vielfalt der Amtssprachen der Europaratsstaaten würde daher oftmals nur eine Minderheit des urteilenden Spruchkörpers die maßgeblichen innerstaatlichen Akten überhaupt verstehen. Zentrale Bedeutung kommt vor diesem Hintergrund den schriftlichen – und im Falle von Verfahren vor der Großen Kammer auch mündlichen – Parteivorträgen zu, welche oftmalsFootnote 300 in französischer oder englischer Sprache verfasst sind (vgl. Art. 34 Abs. 2 und 3 EGMR-VerfO) und daher in der Regel vom gesamten Spruchkörper zur Kenntnis genommen werden können. Im Falle divergierender Tatsachendarstellungen obliegt es also insbesondere der Staatenvertreterin, im Verfahren vor dem EGMR auf die Tatsachenfeststellung der innerstaatlichen Instanzen und ihre Begründung hinzuweisen. Nur über diese „Vermittlerfunktion“ ist es indirekt möglich, dass der gesamte Spruchkörper die maßgeblichen innerstaatlichen Akten zur Kenntnis nimmt. Eine eigenständige Prüfung des rechtserheblichen Sachverhalts durch den gesamten Spruchkörper aufgrund sämtlicher vorliegender Beweismittel findet jedoch nicht statt; dies spricht umso mehr für Zurückhaltung gegenüber der innerstaatlichen Tatsachenfeststellung,Footnote 301 welche zumindest von den ersten Instanzen grundsätzlich mit voller Kognition durchgeführt wird.

Von erheblichem Belang ist weiter auch die zeitliche Distanz des EGMR zu den maßgeblichen Geschehnissen. Bevor eine Beschwerdeführerin an den EGMR gelangen kann, muss sie den nationalen Instanzenzug ausschöpfen (Art. 35 Ziff. 1 EMRK). Dies nimmt in der Regel mehrere Jahre in Anspruch. Hinzu kommt die Verfahrensdauer vor dem EGMR, die sich im Normalfall ebenfalls über mehrere Jahre erstreckt. Nicht selten urteilt der EGMR deshalb über Sachverhalte, die schon mehr als ein Jahrzehnt zurückliegen. Mehrere im Jahr 2017 gesprochene Urteile zu Art. 3 EMRK betrafen beispielsweise Geschehnisse rund um den G8-Gipfel in Genua im Juli 2001.Footnote 302 In den 182 im Untersuchungszeitraum ergangenen Urteilen des EGMR zur Vereinbarkeit von Polizeigewalt mit Art. 3 EMRK betrug die durchschnittliche Dauer zwischen den maßgeblichen Geschehnissen und dem Urteil des EGMR fast neuneinhalb Jahre.Footnote 303 Es ist offensichtlich, dass es nach einer solchen Zeitspanne aussichtslos wäre, die tatsächlichen Geschehnisse von neuem rekonstruieren zu wollen. Nicht ohne Grund verlangt der EGMR von den Konventionsstaaten bei glaubhaften Vorbringen einer Verletzung von Art. 3 EMRK die sofortige Einleitung einer Untersuchung, weil sonst wertvolle Zeit („precious time“) verloren ginge, und jegliche weitere Untersuchung der Geschehnisse erheblich erschwert, wenn nicht völlig verunmöglicht würde („[which makes] any further investigation of the applicant’s allegations complicated, if not impossible.“).Footnote 304 Dieses vom EGMR gegenüber den konventionsstaatlichen Institutionen verwendete Argument gilt mutatis mutandis auch für den EGMR, der auch aufgrund der zeitlichen Distanz seines Verfahrens zu den maßgeblichen Geschehnissen bezüglich der Tatsachenfeststellung funktional deutlich weniger geeignet ist als die innerstaatlichen Behörden.

Schließlich ist auch auf die eingeschränkte Kapazität des EGMR hinzuweisen. Der EGMR verfügt neben den 47 Richterinnen und Richtern (vgl. Art. 20 EMRK) über rund 640 Juristinnen und Juristen.Footnote 305 Der EGMR bewegt sich damit in der Größenordnung des Schweizerischen Bundesverwaltungsgerichts, das mit derzeit 77 Richterinnen und Richtern zwar über mehr Richterinnenstellen, mit rund 230 Gerichtsschreiberinnen und Gerichtsschreibern aber über deutlich weniger Juristinnenstellen verfügt.Footnote 306 Während das Bundesverwaltungsgericht im Jahr 2016 7517 Fälle erledigt hat,Footnote 307 beläuft sich dieselbe Kennzahl für den EGMR auf 38.505 Fälle (davon 1926 durch Urteil und 36.579 durch Unzulässigkeitsentscheidung beziehungsweise Streichung).Footnote 308 Per 31. Dezember 2016 waren weitere 79.750 Beschwerden vor dem EGMR hängig.Footnote 309

Allein dieses Zahlenverhältnis macht deutlich, dass der EGMR unmöglich in jedem Fall ein ausgedehntes Beweisverfahren durchführen kann. Schon allein aufgrund seiner Kapazitätsgrenzen ist es für den EGMR unumgänglich, die Aufgabe der Tatsachenfeststellung im Wesentlichen auf die innerstaatlichen Institutionen zu verlagern. Eigenständige Tatsachenfeststellungen wird er überdies auch deshalb nur in Ausnahmefällen vornehmen können, weil ihm teilweise das nötige Fachwissen fehlt: Soweit unter Art. 3 EMRK beispielsweise zu prüfen ist, ob die gesundheitliche Versorgung von Häftlingen angemessen war, fehlt dem EGMR die notwendige medizinische Expertise für eine methodisch fundierte Beurteilung.Footnote 310 Ähnliches gilt für die forensische Überprüfung der Echtheit eingereichter Dokumente; wohl auch deshalb hat der EGMR beispielsweise im Fall M.A. v. Schweiz explizit offengelassen, ob ein als Beweismittel eingereichtes iranisches Urteil echt sei.Footnote 311

Weil die innerstaatlichen Behörden und Gerichte funktional also in verschiedener Hinsicht besser geeignet sind, die konventionsrechtlich relevanten Tatsachen festzustellen, spricht der Subsidiaritätsgrundsatz für einen diesbezüglichen Handlungsvorrang der innerstaatlichen Behörden und Gerichte. Soweit die Aufgabe der Tatsachenfeststellung aus subsidiaritätsrechtlichen Überlegungen vorrangig den Institutionen der Konventionsstaaten zugewiesen wird, müssen sie diese im Einklang mit der allgemeinen Definition des SubsidiaritätsgrundsatzesFootnote 312 aber auch tatsächlich wahrnehmen, um dem Verbundzweck Genüge zu tun. Kommen sie der Aufgabe nicht nach, führt dies zwangsläufig zu einem Vakuum, das der EGMR ausfüllen muss, um einen effektiven Menschenrechtsschutz zu gewährleisten.

b. Der EGMR als erstinstanzliches Tatsachengericht: Konstellationen

Grundsätzlich greift der EGMR im Einklang mit diesem subsidiaritätsrechtlichen Grundgedanken nur in Ausnahmefällen in die innerstaatlichen Tatsachenfeststellungen ein. Solche Ausnahmefälle liegen gemäß der Rechtsprechung einerseits vor, wenn „zwingende Gründe“ eine Korrektur der innerstaatlichen Tatsachenfeststellungen gebieten, anderseits, wenn die Umstände des Einzelfalls als so „außergewöhnlich“ zu werten sind, dass sie ein Tätigwerden des EGMR als „erstinstanzliches Tatsachengericht“ erforderlich machen.Footnote 313 Es liegt nahe, das Vorliegen „zwingender Gründe“ beziehungsweise „außergewöhnlicher Umstände“ davon abhängig zu machen, ob das innerstaatliche Verfahren so durchgeführt worden ist, dass ein plausibler Sachverhalt erstellt werden konnte. Eine Zurückhaltung des EGMR ist nämlich nur angezeigt, wenn die nationalen Gerichte von ihrer funktional privilegierten Stellung Gebrauch machen und die maßgeblichen Tatsachen in methodisch nachvollziehbarer Art und Weise feststellen.

Insoweit besteht also ein enger subsidiaritätsrechtlicher Zusammenhang zwischen der Prüfungsdichte des EGMR bezüglich der Tatsachengrundlagen eines Falls einerseits und der Qualität der innerstaatlichen Tatsachenfeststellung anderseits. Im Folgenden ist deshalb zunächst aufzuzeigen, welche Anforderungen der EGMR an die innerstaatliche Tatsachenfeststellung stellt. Wie aufzuzeigen sein wird, nimmt der EGMR „zwingende Gründe“ für ein Eingreifen in die innerstaatliche Tatsachenfeststellung insbesondere dann an, wenn er gleichzeitig eine prozedurale Verletzung von Art. 3 EMRK oder eine Verletzung von Art. 13 EMRK festgestellt hat. Hand in Hand mit der Feststellung solcher zwingender Gründe geht das Tätigwerden des EGMR als „erstinstanzliches Tatsachengericht“. Es wird deshalb auch aufzuzeigen sein, welche Möglichkeiten der EGMR zur Hand hat, um innerstaatliche Versäumnisse zu kompensieren.

Der EGMR wird unter Art. 3 EMRK jedoch noch in einer zweiten Fallkonstellation wie ein „erstinstanzliches Tatsachengericht“ tätig – wenn sich nämlich der rechtserhebliche Sachverhalt seit der letzten innerstaatlichen Entscheidung derart verändert hat, dass eine neue rechtliche Würdigung daraus folgt. Wiederholt hat der EGMR in diesem Zusammenhang festgehalten, er müsse seinem Urteil die aktuellen Gegebenheiten zugrunde legen, um dem konventionsrechtlich vorgegebenen Ziel eines effektiven Menschenrechtsschutzes Genüge zu tun. Besondere Bedeutung hat diese ex-nunc-Rechtsprechung in Refoulement-Fällen, in denen die Wegweisung eines Ausländers in einen anderen Staat noch aussteht. In dieser wie in anderen Konstellationen kann es vorkommen, dass der EGMR seinem Urteil einen anderen Sachverhalt zugrunde legt als das letztinstanzliche nationale Gericht. Auch diese Fallkonstellationen sind nachfolgend dogmatisch näher zu beleuchten.