A. Subsidiarität im europäischen Menschenrechtsverbund

Der europäische Menschenrechtsschutz wird ganz wesentlich durch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) geprägt. Strukturelles Kennzeichen der EMRK ist die Möglichkeit jedes und jeder Einzelnen, sich nach Ausschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzuges (Art. 35 Ziff. 1 EMRK) vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gegen behauptete Verletzungen der Konventionsrechte zur Wehr setzen zu können (Art. 19 EMRK).Footnote 1 Im Unterschied zu anderen völkerrechtlichen Überwachungsmechanismen zum Schutz der Menschenrechte, die durch periodische Länderberichte auf strukturelle Verbesserungen abzielen,Footnote 2 sollen Verletzungen unter der EMRK im Einzelfall festgestellt und wiedergutgemacht werden.Footnote 3

Umgesetzt wird diese Aufgabe durch die nationalen Gerichte einerseits und den EGMR anderseits. Hauptakteure sind mithin Institutionen, die auf verschiedenen Ebenen – und oft auf Grundlage verschiedener Rechtssätze – zur Rechtsanwendung im Einzelfall berufen sind und als Grundlage ihrer Entscheidungen die rechtserheblichen Tatsachen feststellen müssen. Das Verhältnis dieser Institutionen scheint im Ausgangspunkt klar zu sein: Die nationalen Gerichte sollen Konventionsverletzungen als „Primärverpflichtete“ der EMRK nach Möglichkeit bereits innerstaatlich beseitigen beziehungsweise verhindern, der EGMR soll (subsidiär) einschreiten, wenn die nationalen Gerichte dieser Verpflichtung nicht nachkommen.Footnote 4 Der EGMR bildet insofern im Verhältnis zu den nationalen Gerichten ein „letztes (überstaatliches) Auffangnetz“,Footnote 5 das gravierende Versäumnisse auf innerstaatlicher Ebene korrigieren soll. Schon allein aufgrund seiner räumlichen Zuständigkeit für den Einflussbereich von 47 Konventionsstaaten ist er hingegen nicht in der Lage, flächendeckend die Gewährleistung der Konventionsrechte sicherzustellen; er ist vielmehr darauf angewiesen, dass die Europaratsstaaten Strukturen aufweisen, unter denen Konventionsverletzungen nur im Ausnahmefall vor den EGMR getragen werden müssen.Footnote 6

Aus der gemeinsamen Aufgabe – dem Schutz der Konventionsgarantien im Einzelfall – ergeben sich verschiedene Schnittstellen, deren Konturen sich mit einer derart einfachen Beschreibung der Aufgabenbereiche nur unzureichend aufzeigen lassen: Bis zu welchem Zeitpunkt sind die nationalen Behörden im Hinblick auf den Ausschöpfungsgrundsatz (Art. 35 Ziff. 1 EMRK) in einem konkreten Fall zum Schutze der Konventionsrechte berufen? Wann geht diese Aufgabe auf den EGMR über? Welchen materiellen Kontrollmaßstab wendet der EGMR an, wenn ein Fall nach Durchlaufen des nationalen Instanzenzuges an ihn herangetragen wird? Inwieweit ist die Auslegung der Konventionsgarantien durch den EGMR für die nationalen Behörden bindend? Welche Rechtswirkungen kommen den Urteilen des EGMR zu? Wie werden Urteile durch die nationalen Behörden umgesetzt, wenn einer im Einzelfall festgestellten Konventionsverletzung strukturelle Ursachen zugrunde liegen? Mit solchen Fragen setzt sich die Rechtswissenschaft schon länger und teilweise intensiv auseinander. Die Diskussion spielt sich dabei zunächst auf einer terminologischen Ebene ab, die so grundlegend ist, dass sie hier vorweggenommen werden soll.

Zuweilen wird das Verhältnis zwischen nationalen Behörden und Gerichten und dem EGMR zumindest dem Gedanken nach als „hierarchischer Instanzenzug“ beschriebenFootnote 7 – ein Begriff, der aus dem nationalen Verfahrensrecht stammt. Der Gedanke ist aus schweizerischer Perspektive insofern nachvollziehbar, als die Konventionsgarantien unter dem in der Schweiz herrschenden monistischen System vor Behörden und Gerichten aufgrund ihres „self-executing“-Charakters direkt angerufen werden können,Footnote 8 und der EGMR insoweit als zeitlich nachgelagerte Überprüfungsinstanz die innerstaatliche Anwendung der Konventionsgarantien gewissermaßen „letztinstanzlich“ überprüft.Footnote 9 Die EMRK selbst setzt die direkte innerstaatliche Anwendbarkeit der Konventionsgarantien jedoch nicht voraus, sondern steht der Umsetzung der EMRK im innerstaatlichen Recht „indifferent“ gegenüber.Footnote 10 Das deutsche Bundesverfassungsgericht beispielsweise entscheidet alleine am Maßstab des deutschen Grundgesetzes und zieht das Konventionsrecht allenfalls als Auslegungshilfe für deutsche Grundrechte heran.Footnote 11 Zu Recht hält der EGMR vor diesem Hintergrund in konstanter Rechtsprechung fest, dass er keine „vierte Instanz“ ist.Footnote 12 Weil der EGMR sich nicht als viertes Gericht in den nationalen Instanzenzug einordnet, kann auch die ihm völkerrechtlich übertragene Kontrolle der Einhaltung der EMRK nicht durch nationales Verfahrensrecht eingeschränkt seinFootnote 13 – eine logische Folgerung, die teilweise verkannt wird, wenn vom EGMR als „vierter Instanz“Footnote 14 die Rede ist.

Dass der EGMR nicht als letztes Gericht eines Instanzenzuges entscheidet, zeigt sich noch in anderen Fallkonstellationen: Entgegen dem Grundgedanken der EMRK kommt es nämlich vor, dass der EGMR als einzige Instanz entscheidet, etwa wenn die innerstaatlichen Behörden und Gerichte die Behandlung eines Falls unter Berufung auf nationale Sicherheitsinteressen verweigern oder aber die Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen politisch nicht gewünscht ist.Footnote 15 In solchen FällenFootnote 16 kann von einem Instanzenzug noch weniger die Rede sein: Im Interesse eines effektiven Schutzes der EMRK-Garantien kann der EGMR nämlich (ausnahmsweise) auch Fälle an die Hand nehmen, welche von den innerstaatlichen Gerichten überhaupt nicht geprüft und teilweise auch nicht an sie herangetragen worden sind.Footnote 17

Nicht nur der Begriff des hierarchischen Instanzenzugs verdeckt jedoch eine klare Sicht auf das europäische System zum Schutz der Menschenrechte, auch der in diesem Zusammenhang häufig benutzte Begriff des „europäischen Mehrebenensystems“ zeichnet ein unscharfes Bild. Er suggeriert nämlich fälschlicherweise, es handle sich beim EGMR einerseits und den nationalen Gerichten und Behörden anderseits um horizontal-parallel angeordnete Ebenen, welche keine Überschneidungspunkte besäßen.Footnote 18 Nicht nur in der Auslegung der Konventionsrechte, sondern auch im Bereich der Tatsachenfeststellung existieren jedoch verschiedene Schnittstellen.Footnote 19 Aufgrund der mannigfaltigen gegenseitigen Verschränkung der Aufgaben der innerstaatlichen Gerichte und des EGMR kann von einem strikten Subordinationsverhältnis, wie es der Begriff der Ebenen suggeriert, nicht die Rede sein. Wenn im Folgenden mitunter dennoch der Begriff der „Ebenen“ verwendet wird, so dient dies lediglich der Unterscheidung der beteiligten Institutionen, sagt jedoch nichts über ihr Verhältnis zueinander aus.

Falsche Assoziationen weckt schließlich auch der Begriff des „europäischen Verfassungsgerichtsverbunds“.Footnote 20 Der EGMR ist kein Verfassungsgericht,Footnote 21 sondern ein völkerrechtlich konstituiertes Gericht. Er überprüft einen Rechtsanwendungsakt nicht am Maßstab der nationalen Verfassungen, sondern an demjenigen der EMRK. Die EMRK hat zwar materiell vielerorts auf den Gehalt der nationalen Verfassungen durchgeschlagen und dient mit dem Schutz der Grundrechte einem Anliegen, das auch die nationalen Verfassungen verfolgen.Footnote 22 Formell ist sie jedoch – abgesehen von einzelnen Bestimmungen, die ius cogens darstellen – als (einfacher) völkerrechtlicher Vertrag anzusehen.Footnote 23 Hinzu kommt, dass Verfassungsgerichte in der Regel dazu befugt sind, Gesetzgebungs- und Rechtsanwendungsakte aufzuheben, während der EGMR lediglich die Verletzung der EMRK in einem konkreten Einzelfall feststellen kann, verbunden allenfalls mit einer Entschädigung und dem Hinweis, dass der Verletzung strukturelle Probleme in einem Mitgliedstaat zugrunde liegen.Footnote 24 Der EGMR wurde von den Europaratsstaaten als völkerrechtliches Gericht konstituiert, das zwar Verstöße gegen die EMRK feststellen kann, jedoch keine Durchgriffsrechte in die nationalen Rechtsordnungen besitzt. Allein aufgrund seines Einflusses auf die Entwicklung europäischer Rechtsordnungen von einem Verfassungsgericht zu sprechen, mag zwar den durchaus berechtigten Eindruck der Bedeutsamkeit erzeugen, ist jedoch aus einer juristischen Perspektive unzutreffend.Footnote 25

Passender ist vor diesem Hintergrund der Begriff des ‚europäischen Menschenrechtsverbunds‘.Footnote 26 Der Begriff der Menschenrechte wird zwar traditionell nur im Völkerrecht gebraucht, während im verfassungsrechtlichen Kontext der Begriff der Grundrechte einschlägig ist.Footnote 27 Nichtsdestotrotz ist klar, worum es inhaltlich geht: Um grundlegende Rechte, welche jeder Person um ihres Menschseins willen zustehen und welche sie gegenüber der Staatsgewalt geltend machen kann. Der Begriff des Verbunds drückt sodann aus, dass es um ein Zusammenwirken verschiedener Institutionen geht, die zueinander nicht in einem starren Subordinationsverhältnis stehen, sondern sich in verschiedener Hinsicht ergänzen. Der Begriff des Menschenrechtsverbunds ist deshalb ein guter Ausgangspunkt, um die Funktionen der Behörden und Gerichte der heute 47 Mitgliedstaaten der EMRK und dem EGMR im Hinblick auf die Tatsachenfeststellung im konkreten Einzelfall zu analysieren – ein Thema, dem erstaunlich wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde, wenn man davon ausgeht, dass die nationalen Behörden und der EGMR dieselben Lebenssachverhalte beurteilen, Tatsachenfeststellung mithin als zentraler Baustein des Menschenrechtsschutzes unter der EMRK anzusehen ist.

B. Tatsachenfeststellung im europäischen Menschenrechtsverbund

Eine Untersuchung der Tatsachenfeststellung ist nicht zuletzt deshalb essenziell, weil in vielen „Menschenrechtsfällen“ weniger die materielle Tragweite der Konventionsgarantien zwischen den Streitparteien umstritten ist als die tatsächlichen Geschehnisse.Footnote 28 Gerade in Fällen gravierender Menschenrechtsverletzungen scheint sich auch in gewissen Europaratsstaaten in den letzten Jahren die Strategie herausgebildet zu haben, (völker-)rechtlicher Verantwortlichkeit dadurch entgehen zu wollen, dass Tatsachen geleugnet und Beweise zurückgehalten oder zerstört werden.Footnote 29 Nicht nur, aber besonders im Kontext der geheimdienstlichen Terrorbekämpfung bilden staatliche Verantwortungsträgerinnen und Verantwortungsträger unter Berufung auf übergeordnete Staatsgeheimnisse und Sicherheitsinteressen eine Mauer des Schweigens (engl. wall of silence) auf, die es enorm erschwert, die Geschehnisse aufzuarbeiten und rechtlich zu sanktionieren. Wahr ist gemäß dieser Lesart, was die Behörden als Tatsachen anerkennen; das Recht des Individuums, das dieser Staatsgewalt unterworfen ist, bleibt auf der Strecke, weil die effektiven Begebenheiten nie ans Licht kommen. Es erscheint vor diesem Hintergrund durchaus angebracht zu sagen, dass Tatsachenfeststellung einen Kernbereich effektiven Menschenrechtsschutzes darstellt.Footnote 30

Aus diesem Grund auch macht die EMRK den nationalen Gerichten nach der gefestigten Rechtsprechung des EGMR bestimmte Vorgaben zur Tatsachenfeststellung in den innerstaatlichen Verfahren (sog. Ermittlungspflichten, die aus Art. 13 EMRK und den einzelnen materiellen Konventionsrechten abgeleitet werden).Footnote 31 Diese Regeln bilden integralen Bestandteil des durch die EMRK gewährleisteten Menschenrechtsschutzes und sind schon deshalb erforderlich, weil sich der EGMR sonst nicht auf seine Rolle als „letztes Auffangnetz“ beschränken könnte, sondern die Rolle eines erstinstanzlichen Tatsachengerichts einnehmen müsste, um einen effektiven Menschenrechtsschutz durch die EMRK zu gewährleisten.

Damit ist auch das Verhältnis der nationalen Gerichte zum EGMR wieder angesprochen. Kürzlich wurde aufgrund einer Analyse verschiedener Schweizer Fälle die These geäußert, dass Verurteilungen von Konventionsstaaten durch den EGMR regelmäßig auf einem anderen Sachverhalt beruhten, als er durch die innerstaatlichen Gerichte festgestellt worden sei.Footnote 32 Aus diesem Befund könnte man folgern, dass die innerstaatlichen Gerichte ihrer primären Verantwortung zur Gewährleistung der Konventionsgarantien in Bezug auf die Feststellung der Tatsachen zu wenig nachkommen und der EGMR deshalb die Rolle eines Tatsachengerichts einnehmen muss. Möglich wäre aber auch der Schluss, dass der EGMR zu Unrecht in die Tatsachenfeststellungen der innerstaatlichen Gerichte eingreift.

So oder anders wirft die These in exemplarischer Art und Weise die Frage nach dem Verhältnis zwischen den nationalstaatlichen Gerichten und dem EGMR auf – eine Frage, die angesichts des Fehlens detaillierter Verfahrensregeln zumindest auch unter Rückgriff auf den allgemeinen Subsidiaritätsgrundsatz zu klären sein dürfte, welcher als Strukturmerkmal der EMRK zugrunde liegt. Obwohl sich der Grundsatz bislang im Wortlaut der Konvention nicht niedergeschlagen hat, prägt er nach allgemein geteilter Auffassung das interinstitutionelle Verhältnis zwischen den nationalstaatlichen Behörden und Gerichten einerseits und dem EGMR anderseits in zentraler Art und Weise.Footnote 33 In der Rechtsprechung des EGMR hat der Subsidiaritätsgrundsatz schon seit längerer Zeit eine fundamentale Bedeutung. Mit dem 15. Zusatzprotokoll zur EMRK, das nach Ratifikation durch alle Konventionsstaaten in Kraft treten wird, wird die Präambel der EMRK, gewissermaßen „deklaratorisch“, eine auf den Subsidiaritätsgrundsatz hinweisende Ergänzung erfahren, welche diese Bedeutung weiter hervorstreichen wird.Footnote 34

Der von der EMRK bezweckte effektive Menschenrechtsschutz umfasst also nicht nur die Auslegung der Konventionsgarantien, sondern zuallererst eine methodisch nachvollziehbare Sachverhaltsfeststellung im Einzelfall, welche im Zusammenspiel zwischen nationalstaatlichen Behörden und Gerichten und dem EGMR erfolgt. Hier knüpft die vorliegende Monografie an: Beleuchtet werden soll das Verhältnis von nationalstaatlichen Gerichten zum EGMR mit Blick auf den Vorgang der Tatsachenfeststellung. Nachdem in der Literatur bis anhin der „Dialog“ des EGMR mit den nationalen GerichtenFootnote 35 vor allem mit Bezug auf die Auslegung und Weiterentwicklung der Konventionsgarantien thematisiert worden ist,Footnote 36 liegt der Fokus der vorliegenden Arbeit auf der Untersuchung der Aufgabenverteilung zwischen nationalen Behörden und Gerichten einerseits und dem EGMR anderseits hinsichtlich der Tatsachenfeststellung. Angesprochen ist damit ein Thema, dessen Bedeutung im Hinblick auf die Gewährleistung eines effektiven Menschenrechtsschutzes gar nicht unterschätzt werden kann, das aber – darüber hinausweisend – auch grundsätzliche Fragen zum Zusammenwirken zwischen den verschiedenen im Menschenrechtsverbund der EMRK zusammengefassten Institutionen aufwirft, die nur unter Rückgriff auf den konventionsrechtlichen Subsidiaritätsgrundsatz zu klären sind.

Beleuchtet wird dieses völkerrechtliche Thema dabei aus einer spezifisch schweizerischen Perspektive: Neben der Rechtsprechung des EGMR wird die vorliegende Arbeit immer wieder auch auf die Rechtsprechung der schweizerischen Gerichte und die Implementierung der EMRK in die schweizerische Rechtsordnung zu sprechen kommen. Dies ist in erster Linie der wissenschaftlichen und praktischen „Sozialisierung“ des Verfassers in der schweizerischen Rechtsordnung geschuldet, hilft aber auch dabei, die Materie anhand des konkreten Beispiels des Zusammenwirkens schweizerischer Institutionen mit dem EGMR zu veranschaulichen. Gerade was den Subsidiaritätsgrundsatz betrifft, liefert die schweizerische Rechtsordnung mit ihrem ausgeprägten Föderalismus zudem wertvolles Vergleichsmaterial für das jüngere – und immer noch in Entwicklung begriffene – Subsidiaritätskonzept der EMRK. Das Hauptdefizit eines solchen Ansatzes ist offensichtlich: Der Schutz der Konventionsrechte ist in der Schweiz im Vergleich mit gewissen anderen Europaratsstaaten gut ausgebautFootnote 37 und das Beispiel der Schweiz widerspiegelt daher nur beschränkt die „Kämpfe“, die der EGMR mit den Institutionen anderer Staaten zur Durchsetzung der Konventionsrechte teilweise ausficht. Zum Ausgleich dieser methodologischen Einschränkung wird in der vorliegenden Arbeit jedoch – auch unter Einbezug des Schrifttums ausländischer AutorinnenFootnote 38 – immer wieder nach der Aussage- und Repräsentationskraft der gewonnenen Erkenntnisse gefragt.

C. Aufbau der Arbeit

Eine Untersuchung des eben skizzierten Forschungsgegenstands setzt die Klärung der Frage voraus, was der Begriff der Tatsachenfeststellung bedeutet.Footnote 39 Zudem mag in Anbetracht der nur spärlich zur Verfügung stehenden Literatur nicht auf der Hand liegen, dass Tatsachenfeststellung in justiziellen Verfahren zum Schutz der Menschenrechte von zentraler Bedeutung ist.Footnote 40 Die Darstellung der verschiedenen Dimensionen des Begriffs der Tatsachenfeststellung und der spezifischen Bedeutung der Tatsachenfeststellung im Bereich des individualrechtlichen Menschenrechtsschutzes im zweiten Teil der Arbeit legt daher die Grundlagen für die nachfolgenden Abschnitte.

Wie zu zeigen sein wird, ist die Tatsachenfeststellung in der EMRK und der EGMR-VerfO dem Wortlaut nach nur rudimentär geregelt.Footnote 41 Konfrontiert mit dieser rudimentären satzungsmäßigen Regelung hat der EGMR aus den verschiedenen materiellen Konventionsgarantien spezifische Untersuchungspflichten abgeleitet, die bei Lichte betrachtet auf den Subsidiaritätsgrundsatz zurückgeführt werden können. Umgekehrt macht der EGMR das Ausmaß seiner Kontrolle und insbesondere die Überprüfung des innerstaatlich festgestellten Sachverhalts unter Berufung auf den Subsidiaritätsgrundsatz regelmäßig davon abhängig, inwieweit die Staaten ihren Ermittlungspflichten nachgekommen sind.Footnote 42 Will man die Aufgabenteilung für den Bereich der Tatsachenfeststellung untersuchen, setzt dies deshalb eine genaue Vorstellung des Inhalts des Subsidiaritätsprinzips voraus.Footnote 43 Die Darstellung dieses Strukturprinzips und seiner spezifischen Bedeutung für die Tatsachenfeststellung unter der EMRK erfolgt im dritten Teil der Arbeit, wobei aus verschiedenen – unten weiter auszuführenden – Gründen ein vergleichender Ansatz gewählt wird, welcher den konventionsrechtlichen Subsidiaritätsgrundsatz anderen rechtlichen Konzeptionen von Subsidiarität gegenüberstellt.Footnote 44 Diese Herangehensweise erlaubt es, angesichts des schillernden Subsidiaritätsbegriffs und seiner vielfältigen Ausdeutungen in verschiedenen RechtsordnungenFootnote 45 einen klareren Blick dafür zu gewinnen, was der Subsidiaritätsgrundsatz unter der EMRK ist und was er nicht ist; in diesem Zusammenhang ist auch die abstrakte Bedeutung des Grundsatzes für die Tatsachenfeststellung zu benennen.Footnote 46

Auf Grundlage einer umfassenden Analyse der neueren Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK (Verbot der Folter beziehungsweise unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung)Footnote 47 wird im vierten Teil der Arbeit konkret das Verhältnis von nationalstaatlichen Gerichten und EGMR im Hinblick auf die Tatsachenfeststellung untersucht. Nach einer Darstellung des (subsidiaritätsrechtlichen) Zusammenhangs zwischen der Qualität des innerstaatlichen Verfahrens und der beweisrechtlichen Herangehensweise des EGMRFootnote 48 werden in einem ersten Schritt die Vorgaben aufgegriffen, welche sich aus der EMRK für die Tatsachenfeststellung in den innerstaatlichen Verfahren ergeben.Footnote 49 Eingenommen wird also zunächst die Perspektive der EMRK auf die nationalen Verfahrensrechtsordnungen. Auf den gewonnen Erkenntnissen aufbauend wird sodann aufgezeigt, dass der EGMR in seinen eigenen Verfahren die von den innerstaatlichen Instanzen festgestellten Tatsachen anhand eines variablen Maßstabs kontrolliert, welcher der Qualität der innerstaatlichen Tatsachenfeststellung Rechnung trägt.Footnote 50 Angesprochen ist damit eine materielle Komponente des Verhältnisses zwischen Subsidiaritätsgrundsatz und Tatsachenfeststellung.

Davon zu unterscheiden ist eine zeitliche Komponente. Zu prüfen ist im fünften Teil nämlich die Frage, inwiefern der EGMR seinen Entscheiden Tatsachen zugrunde legen soll, welche die vorab entscheidenden nationalen Gerichte nicht berücksichtigen konnten (sog. Noven). Auch dieser Fragekomplex lässt sich ins Verhältnis zum Subsidiaritätsgrundsatz setzen; die hier vorgenommene Analyse der Rechtsprechung knüpft deshalb wiederum an diesen an.Footnote 51 Dies erlaubt es einerseits, die bestehende Rechtsprechung zu systematisieren, anderseits aber auch, die heutige Praxis kritisch zu würdigen.

Im letzten Teil der Arbeit soll im Sinne einer Synopse das Verhältnis von nationalen Gerichten und EGMR im Hinblick auf die Tatsachenfeststellung unter Art. 3 EMRK komprimiert wiedergegeben werden.Footnote 52 Beantwortet werden soll aber auch die Frage, ob und inwieweit die gewonnenen Erkenntnisse herangezogen werden können, um das Verhältnis von nationalen Gerichten zum EGMR in Bezug auf die Tatsachenfeststellung generell zu beschreiben.

D. Eingrenzung des Untersuchungsmaterials

Womöglich liegt nicht ohne weiteres auf der Hand, weshalb sich die vorliegende Analyse auf die neuere Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK fokussiert.Footnote 53 Das Thema der Tatsachenfeststellung unter der EMRK betrifft nämlich offensichtlich nicht nur Fälle zu Art. 3 EMRK, sondern ist in sämtlichen unter die EMRK fallenden Einzelfallkonstellationen von Relevanz. Tatsachenfeststellung ist insofern ein klassisches Querschnittsthema.

Es hätte sich vor diesem Hintergrund aufgedrängt, eine umfassende Analyse der Fälle vor dem EGMR und der vorgelagerten innerstaatlichen Verfahren vorzunehmen und den Untersuchungsgegenstand weder zeitlich noch nach Fallkategorien einzugrenzen. Eine solch umfassende Perspektive wäre angesichts der großen Zahl der vom EGMR behandelten FälleFootnote 54 allerdings nicht realisierbar gewesen. Es war deshalb unausweichlich, das Untersuchungsmaterial sowohl zeitlich als auch inhaltlich einzugrenzen. In zeitlicher Hinsicht wurde dabei ein Schwerpunkt auf Urteile gelegt, die im Zeitraum zwischen dem 1. November 2014 und dem 31. Oktober 2017 ergangen sind. Inhaltlich wurde – wie bereits erwähnt – auf Fälle zu Art. 3 EMRK fokussiert. Nachfolgend gilt es die Wahl dieser Eingrenzungskriterien zu erläutern.

1. Eingrenzung auf Fälle zu Art. 3 EMRK

Für die Eingrenzung der Untersuchung auf Fälle zu Art. 3 EMRK war die Überlegung maßgebend, dass diese im Vergleich zu anderen Fallkonstellationen erhöhte Beweisprobleme aufwerfen. Solche Beweisprobleme können darin bestehen, dass gewisse Vorgänge – wenn überhaupt – nur knapp dokumentiert sind und insofern schwer nachzuweisen sind. Zudem ist es relativ häufig, dass die Tatsachendarstellungen zwischen Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführern auf der einen Seite und den konventionsstaatlichen Behörden auf der anderen Seite divergieren. Dies lässt sich beispielhaft anhand der folgenden – quantitativ durchaus bedeutsamenFootnote 55 – Fallkonstellationen aufzeigen:

Unter Art. 3 EMRK zu beurteilen sind Fälle, in denen behauptete Übergriffe von Staatsoffiziellen gegenüber Privatpersonen zu beurteilen sind. Zu solchen Übergriffen kommt es namentlich im Bereich der Strafverfolgung und des Strafvollzugs.Footnote 56 Aufgrund des besonderen Näheverhältnißes zwischen den staatlichen Behörden und den konventionsrechtlich geschützten Personen sowie dem weitgehenden Ausschluss der Öffentlichkeit treten hier offensichtliche Beweisprobleme auf: Wurden die festgenommenen Tatverdächtigen misshandelt oder haben die befragenden Polizistinnen und Polizisten sich in Notwehr gegen physische Übergriffe zur Wehr gesetzt?Footnote 57 Wurden Gefängnisinsaßinnen von den Wachpersonen ohne Grund verprügelt oder war ein Eingreifen notwendig, um einen Gefängnisaufstand niederzuschlagen, der die physische Integrität verschiedener Personen gefährdete?Footnote 58 Ähnliche Schwierigkeiten werfen Fälle auf, in denen der EGMR den Einsatz hoheitlicher Gewalt auf öffentlichem Grund zu beurteilen hat: War eine polizeiliche Intervention angesichts des von einer Demonstration ausgehenden Gefahrenpotenzials notwendig oder handelte es sich dabei um die Unterdrückung oppositioneller Meinungen?Footnote 59 Es liegt auf der Hand, dass weniger der rechtliche Terminus der „Notwendigkeit“ der polizeilichen Interventionen zu Problemen Anlass gibt als vielmehr die tatsächlichen Grundlagen zur Einschätzung des Gefährdungspotenzials einer Demonstration.

Eine andere Art von Beweisproblemen werfen die unter Art. 3 EMRK zu beurteilenden Abschiebungsfälle auf,Footnote 60 weil in solchen Konstellationen im Hinblick auf das Non-Refoulement-Gebot in hypothetischer Art und Weise zu beurteilen ist, welcher zukünftigen Gefahr eine Person bei einer Rückkehr in ein bestimmtes Land ausgesetzt wäre.Footnote 61 Insbesondere in diesen Fällen wird die ohnehin schwierige Aufgabe der Tatsachenfeststellung insofern durch eine zeitliche Komponente erschwert, als sich die Verhältnisse in einem Zielland zwischen dem Entscheid des letzten innerstaatlichen Gerichts und dem Entscheid des EGMR maßgeblich verändern können.

Allein diese summarische Schilderung zeigt auf, dass der Frage der Tatsachenfeststellung in Fällen zu Art. 3 EMRK oftmals ausschlaggebende Bedeutung zukommt, Rechtsfragen in diesem Sinne in den Hintergrund rücken. Im Hinblick auf das hier interessierende Thema rechtfertigt es sich daher, den Untersuchungsgegenstand zunächst auf Fälle zu Art. 3 EMRK zu beschränken. Allerdings soll immer auch im Auge behalten werden, inwiefern die so gewonnen Schlüsse verallgemeinerungsfähig sind und das Verhältnis zwischen nationalen Behörden und Gerichten einerseits und dem EGMR anderseits in genereller Hinsicht zu beschreiben vermögen.

2. Zeitliche Eingrenzung

Die erwähnte zeitliche Eingrenzung ist in erster Linie dem Entstehungszeitraum der vorliegenden Dissertation geschuldet. Sie ermöglichte es, die Rechtsprechung während des Verfassens der Dissertation kontinuierlich nachzuverfolgen und so ein gewisses Gespür für praktische Fragen zu gewinnen, die sich bei der Tatsachenfeststellung im Verhältnis zwischen nationalen Gerichten und EGMR ergeben. Hinzu kommt, dass die Große Kammer des EGMR unter Art. 3 EMRK in dieser Zeit verschiedene Fälle entschieden hat, in denen die Tatsachenfeststellung entscheidenden Raum eingenommen hat. Zu erwähnen sind namentlich die Fälle Bouyid v. BelgienFootnote 62 sowie J. K. und andere v. Schweden,Footnote 63 in welchen den konventionsrechtlichen Anforderungen an die innerstaatliche Tatsachenfeststellung zentrale Stellung zukommt. Es ist davon auszugehen, dass diese Urteile für die Weiterentwicklung der Rechtsprechung zur EMRK von großer Tragweite sein werden.

Nicht in den Untersuchungszeitraum fallen die Urteile Mocanu und andere v. RumänienFootnote 64 und El-Masri v. Mazedonien.Footnote 65 Angesichts der großen Bedeutung dieser Urteile für die hier aufgeworfenen Fragen werden sie in der vorliegenden Arbeit aber dennoch regelmäßig zur Sprache kommen, zumal es sich um Urteile handelt, auf die auch in der aktuellsten Rechtsprechung immer wieder Bezug genommen wird. Auch ist durch die zeitliche Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands nicht ausgeschlossen, dass punktuell auf ältere oder neuere Urteile zurückgegriffen wird, um beispielsweise die Entwicklung der Rechtsprechung des EGMR nachzuvollziehen, auch aber, um der Leserin gewisse Überlegungen anhand besonders anschaulicher Fälle zugänglich zu machen.

3. Beweisrechtliche Problemstellungen

Im Untersuchungszeitraum hat der EGMR gemäß der hudoc-Datenbank insgesamt 496 Urteile zu Art. 3 EMRK gesprochen.Footnote 66 Nicht in allen Fällen kam der Feststellung der rechtserheblichen Tatsachen durch den EGMR die gleich große Bedeutung zu; immer jedoch war die Feststellung der rechtserheblichen Tatsachen Grundlage des Urteils. Zu unterscheiden sind im Wesentlichen die folgenden Fallkonstellationen:

In mehr als einem Drittel der Fälle setzte sich der EGMR in einem weiteren Sinne mit Haftbedingungen auseinander. Zu Beschwerden Anlass gaben vor allem strukturelle Unzulänglichkeiten in rumänischen, griechischen, russischen und bulgarischen Gefängnissen; im Rahmen dieser Urteile kam der Tatsachenfeststellung jedoch für den Ausgang des Verfahrens kaum je entscheidendes Gewicht zu. Wohl schilderten Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer die Haftbedingungen im Detail oftmals anders als der betreffende Konventionsstaat.Footnote 67 Aufgrund der Besuchsberichte verschiedener Organisationen (beispielsweise des Europäischen Komitees zur Verhütung von Folter) waren jedoch die in einem bestimmten Gefängnis vorherrschenden strukturellen Bedingungen und insbesondere die Platzverhältnisse nur selten umstritten.Footnote 68 Nachdem die Rechtsprechung des EGMR maßgeblich an diese Kriterien – insbesondere einen möglichen Platzmangel – anknüpft,Footnote 69 lag eine Verletzung von Art. 3 EMRK oftmals selbst dann vor, wenn der EGMR auf die Darstellung des betreffenden Konventionsstaates abstellte.Footnote 70 Vergleichsweise wenig Beweisprobleme warfen auch die Fälle auf, in denen Spezialregimes für „besonders gefährliche Häftlinge“ auf ihre konventionsrechtliche Zulässigkeit hin zu überprüfen waren.Footnote 71 Soweit der EGMR zu beurteilen hatte, ob es konventionsrechtlich zulässig sei, einen Häftling in einem Metallkäfig einem Gericht vorzuführen, bestand oftmals gar keine divergierende Darstellung der Tatsachen.Footnote 72 Schwieriger zu handhaben waren in dieser Hinsicht die Rügen gesundheitlich angeschlagener Häftlinge, sie seien aufgrund einer mangelhaften medizinischen Versorgung einer unmenschlichen Behandlung ausgesetzt gewesen; zu beurteilen waren hier nämlich teilweise komplexe medizinische Tatsachenfragen, über die selbst Fachkräfte streiten können und die sich der EGMR erst zugänglich machen muss.Footnote 73

Eine große Bedeutung hatten divergierende Tatsachendarstellungen von Konventionsstaaten und Beschwerdeführenden in Fällen, welche die behauptete Gewalt von Staatsoffiziellen zum Gegenstand hatten – immerhin die zweithäufigste vom EGMR im Untersuchungszeitraum unter Art. 3 EMRK beurteilte Fallkonstellation.Footnote 74 Unter den weiten Begriff der Gewaltanwendung von Staatsoffiziellen fallen behauptete Übergriffe von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Strafverfolgungs-Footnote 75 und Strafvollzugsbehörden.Footnote 76 Gemeint ist dabei nicht nur physische Gewaltanwendung, sondern auch psychische Gewaltanwendung. Insofern waren teilweise auch Familienangehörige von Tatverdächtigen betroffen, beispielsweise weil sie durch eine Hausdurchsuchung die Folgen eines Strafverfahrens direkt zu spüren bekamen.Footnote 77 Zur Debatte standen weiter Interventionen der Sicherheitskräfte bei einer behaupteten Gefährdung der öffentlichen Ordnung – beispielsweise im Rahmen von DemonstrationenFootnote 78 oder öffentlichen Sportveranstaltungen.Footnote 79 Schließlich können auch militärische Eingriffe in Krisenregionen als Gewalt von Staatsoffiziellen eingestuft werden.Footnote 80 In all diesen Fällen entsprach es dem Normalfall, dass Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer dem EGMR einen anderen Sachverhalt unterbreiteten als die betroffenen Konventionsstaaten (rund 85 % der Fälle im untersuchten Zeitraum).Footnote 81

Theoretisch wären auch die hier gesondert dargestellten enforced-disappearance-Fälle (Verschwindenlassen) der Fallkategorie der Gewaltausübung von Staatsoffiziellen zuzuordnen.Footnote 82 Die Fälle werden vorliegend jedoch einerseits deshalb gesondert betrachtet, weil besonders schwerwiegende Eingriffe in Art. 3 EMRK in Frage stehen. Anderseits hat der EGMR aber eine eigentliche „enforced-disappearance-Rechtsprechung“ zum Beweisrecht entwickelt. Diese Rechtsprechung ist im Hinblick auf das hier untersuchte Thema speziell hervorzuheben, weil es sich um Fälle handelt, die oftmals nur schwach dokumentiert und daher beweisrechtlich schwierig zu handhaben sind.Footnote 83 Definitionsgemäß verleugnen Staaten in enforced-disappearance-Fällen nämlich ihre Verstrickung in das Verschwinden von Personen und bauen diesbezüglich eine Mauer des Schweigens auf,Footnote 84 was die Tatsachenfeststellung zumindest erheblich erschwert, mitunter aber auch unmöglich erscheinen lässt.Footnote 85 Eine Verurteilung hängt in solchen Fällen oft weniger davon ab, ob ein bestimmtes Verhalten unter den sachlichen Schutzbereich von Art. 3 EMRK fällt, sondern ob der rechtsgenügliche Nachweis erfolgt, dass das Verschwinden einer Person dem betreffenden Staat zuzurechnen ist.Footnote 86

Bereits angedeutet wurden die beweisrechtlichen Probleme in Refoulement-Fällen, welche die dritthäufigste vom EGMR unter Art. 3 EMRK beurteilte Fallkategorie ausmachen.Footnote 87 Als Refoulement gilt jede staatliche Maßnahme, mit welcher eine Person durch ihren Aufenthaltsstaat zum Verlassen des Landes mindestens für eine bestimmte Dauer gezwungen wird.Footnote 88 Der EGMR beschäftigt sich im Zusammenhang dieser Refoulement-Fälle schon seit längerer Zeit mit Wegweisungsanordnungen gegenüber abgewiesenen Asylsuchenden,Footnote 89 verwaltungsrechtlichen Fernhaltemaßnahmen gegenüber (straffällig gewordenen) AusländernFootnote 90 sowie Auslieferungsentscheiden im Kontext der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen.Footnote 91 Eine erst in jüngerer Zeit vermehrt relevant gewordene Fallkonstellation betrifft Überstellungen von Asylsuchenden im Rahmen der Dublin-III-VO.Footnote 92 Art. 3 EMRK verbietet Abschiebungen in all ihren Variationen, wenn ernsthafte Gründe zur Annahme bestehen, dass die betroffene Person nach Vollzug der Abschiebung Opfer einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder von Folter würde.Footnote 93 Wie in der vorliegenden Arbeit aufzuzeigen sein wird, war der EGMR in Bezug auf die Tatsachenfeststellung in solchen Fällen mit unterschiedlichen Problemstellungen konfrontiert, je nachdem, ob eine Abschiebung schon vollzogen worden warFootnote 94 oder aber noch ausstand.Footnote 95 Eine Spezialkonstellation innerhalb der Kategorie der Abschiebungsfälle bildeten sogenannte „extraordinary renditions“: Fälle, in denen Terrorverdächtige unter Mitwirkung europäischer Sicherheitsbehörden durch die amerikanische CIA von europäischem Territorium in arabische Staaten verschleppt und dort im Namen der Terrorbekämpfung grausamsten Verhörmethoden unterworfen wurden.Footnote 96 Schon der geheimdienstliche Kontext legt nahe, dass die Aufklärung der Tatsachen in diesen Fällen Schwierigkeiten bereiten kann.

Beweisrechtlich als Spezialkonstellation anzusehen sind die Fälle, in denen staatliche Schutz- beziehungsweise Ermittlungspflichten aufgrund von (drohenden) Misshandlungen Privater in Frage stehen.Footnote 97 Hier geht es nicht etwa um die konventionsrechtliche Zuordnung der Verantwortung für die Misshandlungen an sich, sondern um die sich daraus ergebenden Handlungspflichten staatlicher Behörden. Dabei ist im Regelfall ausreichend dokumentiert, was die staatlichen Behörden getan oder unterlassen haben. Die Fallkategorie ist für die vorliegende Arbeit nur insofern von Interesse, als sich beispielhaft aufzeigen lässt, welche Anforderungen der EGMR an die innerstaatliche Tatsachenfeststellung aus Art. 3 (prozedural) und Art. 13 EMRK ableitet. Diese Anforderungen unterscheiden sich jedoch nicht grundlegend von den Anforderungen, die sich in Fällen von Übergriffen durch Staatsoffizielle ergeben. Sie werden deshalb nicht gesondert betrachtet.

Den Spezialfällen zugeordnet wurden Fallkonstellationen, die quantitativ von untergeordneter Bedeutung waren.Footnote 98 Von großer rechtlicher Tragweite dürfte in diesem Bereich die weiterentwickelte Rechtsprechung des EGMR zu den menschenrechtlichen Vorgaben an die Ausgestaltung lebenslanger Freiheitsstrafen sein.Footnote 99 Zu beurteilen waren insoweit jedoch keine Tatsachenstreitigkeiten, sondern die Kompatibilität nationaler Regelungen zum Strafvollzug mit den Vorgaben der EMRK, weshalb diese Fälle für die vorliegende Arbeit nur von untergeordneter Bedeutung sind. Vorrangig mit Rechtsfragen auseinandersetzen musste sich der EGMR auch in einem lettischen Fall zu einer Organtransplantation und den damit zusammenhängenden Informationsrechten der Angehörigen.Footnote 100 Drei Fälle betrafen die Rüge der Angehörigen von Todesopfern, bei der Leichenidentifizierung unmenschlichen Umständen ausgesetzt gewesen zu sein;Footnote 101 auch in diesen Fällen waren die teilweise bestehenden Differenzen in den Tatsachenschilderungen für den Ausgang des Verfahrens nicht entscheidend.

Bildlich darstellen lässt sich das hiervor Ausgeführte wie folgt (Abb. 1):

Abb. 1
figure 1

Urteile des EGMR zu Art. 3 EMRK zwischen dem 1. November 2014 und dem 31. Oktober 2017 (geordnet nach Fallkonstellationen)

E. Überblick über den Forschungsstand und den Forschungsbedarf

Es besteht eine Fülle an Literatur zum Verhältnis zwischen nationalen Gerichten und EGMR und zum damit verbundenen konventionsrechtlichen Strukturmerkmal der Subsidiarität. Hervorzuheben ist sicherlich die Monografie von Jonas Christoffersen,Footnote 102 die sich sowohl in ihrer wissenschaftlichen Tiefe als auch in der thematischen Breite deutlich abhebt und dem Subsidiaritätsgrundsatz schon im Titel völlig zu Recht das komplementäre Grundprinzip der mitgliedstaatlichen Primärverantwortung gegenüberstellt. Konzeptuell weniger tief greifend, dafür stärker an den vom EGMR entschiedenen Einzelfällen orientiert, ist die Dissertation von Irene Hoffmann,Footnote 103 in welcher der Subsidiaritätsgrundsatz in seinen verschiedenen Wirkungsdimensionen umfassend dargestellt wird. Verschiedene weitere Monografien decken Einzelthemen ab, die ebenfalls das Verhältnis zwischen nationalen Gerichten und EGMR betreffen. Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung bildeten in diesem Sinn beispielsweise der Grundsatz der Erschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzuges (Art. 35 Ziff. 1 EMRK)Footnote 104 sowie die Umsetzungspflichten, die sich für die nationalen Gerichte (und Gesetzgeber) aus den Urteilen des EGMR ergeben.Footnote 105

Untersuchungen zum Subsidiaritätsgrundsatz als Leitlinie für den vom EGMR anzuwendenden Kontrollmaßstab waren bis anhin vor allem von einer materiell-rechtlichen Betrachtungsweise geprägt. Insbesondere wurde diskutiert, unter welchen Voraussetzungen sich der EGMR bei der Auslegung der Konventionsgarantien im Allgemeinen, vor allem aber bei der Auslegung ihrer Schrankenbestimmungen, zugunsten eines erweiterten innerstaatlichen Beurteilungsspielraums zurückhalten soll. Solche Arbeiten beziehen sich schon im Titel oftmals auf die margin-of-appreciation-Doktrin.Footnote 106

Auch Tatsachenfeststellung als Kernelement des internationalen Menschenrechtsschutzes – nicht nur, aber auch in individualrechtlich ausgestalteten internationalen Gerichtsverfahren wie demjenigen vor dem EGMRFootnote 107 – war bereits verschiedentlich Gegenstand wissenschaftlicher Forschung.Footnote 108 Verschiedene Abhandlungen beleuchten im Sinne einer Querschnittsanalyse verschiedener internationaler Menschenrechtsspruchkörper einzelne Bausteine der gerichtlichen Tatsachenfeststellung, wobei insbesondere Beweislast und Beweiswürdigung thematisiert wurden.Footnote 109 In Bezug auf die Tatsachenermittlung unter der EMRK ist zunächst die Monografie von Kolja Altermann zu erwähnen.Footnote 110 Altermann greift die Ermittlungspflichten der Staaten aus der EMRK auf, beschränkt sich damit aber auf eine Betrachtung der dem EGMR-Verfahren vorgelagerten Tatsachenermittlung in den Konventionsstaaten. Die Tatsachenfeststellung vor dem EGMR war selbst zwar ebenfalls bereits Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzung. Teilweise wurde der Prozess der Tatsachenfeststellung als Ganzes beleuchtet,Footnote 111 teilweise einzelne Aspekte wie insbesondere das Beweismaß.Footnote 112 Thematisiert wurden auch Beweisprobleme im Zusammenhang mit bestimmten typisierbaren Fällen.Footnote 113 Alle diese wissenschaftlichen Auseinandersetzungen beschränkten sich indessen weitgehend auf das Verfahren vor dem EGMR. Die Implikationen, die sich aus der Tatsachenfeststellung in den vorgelagerten mitgliedstaatlichen Verfahren ergeben, wurden dagegen mehrheitlich ausgeblendet. Paradigmatisch hierfür ist die Monografie von Rebecca Schorm-Bernschütz, die sich ebenfalls auf eine Untersuchung des Verfahrens vor dem EGMR beschränkt.Footnote 114 Nachdem der europäische Menschenrechtsschutz allerorts als Zusammenspiel zwischen mitgliedstaatlichen Gerichten und EGMR eingeordnet wird, erstaunt es, dass eine solche Perspektive nicht auch bezüglich der Tatsachenfeststellung eingenommen wird. Der Zusammenhang zwischen Tatsachenfeststellung und den funktionellen Zuständigkeiten der verschiedenen unter der EMRK wirkenden Institutionen wurde bis anhin kaum untersucht, wenngleich erste Ansätze in Aufsätzen ersichtlich sind.Footnote 115

Die vorliegende Dissertation soll diese Ansätze weiterführen und auf eine dogmatisch sichere Grundlage stellen. Trotz der Beschränkung der Untersuchung auf Fälle zu Art. 3 EMRK sollen Erkenntnisse im Vordergrund stehen, die das Querschnittsthema der Tatsachenfeststellung unter der EMRK theoretisch und dogmatisch fundieren. Angesprochen ist durch diese Schwerpunktsetzung natürlich in erster Linie der EGMR; soweit die vorliegende Arbeit etwas zur Systematisierung des Verfahrensrechts des EGMR beitragen kann, ist ihr Zweck mehr als erfüllt. Adressiert sind darüber hinaus aber auch die zahlreichen Kommentatorinnen und Kommentatoren im In- und Ausland, die sich mit der Rechtsprechung des EGMR auseinandersetzen. Ein wichtiges Anliegen der vorliegenden Arbeit besteht insoweit darin, die Aufmerksamkeit auch der Wissenschaft verstärkt auf das zentrale Thema der Tatsachenfeststellung zu lenken; außerdem soll sie die Grundlage für weiterführende diesbezügliche Untersuchungen legen. Schließlich will die Arbeit bei den nationalen Behörden und Gerichten dafür sensibilisieren, dass die EMRK (auch) bezüglich der Tatsachenfeststellung gewisse Maßstäbe setzt. Soweit nationales Verfahrensrecht den Vorgang der Tatsachenfeststellung regelt, ist es eng mit der EMRK verquickt; daher lohnt sich der Blick auf die Rechtsprechung des EGMR nicht nur für nationale Richterinnen und Richter, welche diese Anforderungen umsetzen müssen, sondern auch für nationale Parlamentarierinnen und Parlamentarier, welche einem subsidiaritätsorientierten europäischen Menschenrechtsschutz zum Durchbruch verhelfen wollen.