1 Vorgehen

Seit Generationen gehört eine sorgfältige körperliche Untersuchung der Leistengegend bei Patienten mit inguinalen Erkrankungen zu den wichtigen chirurgischen Untersuchungsmethoden. Schon im 18. Jahrhundert betonte der berühmte niederländische Chirurg Petrus Camper (zitiert nach Ijpma et al. 2009): „Unter allen Erkrankungen unseres Körpers gibt es keine, die eine genauere Untersuchung erfordert, als Hernien.“ In der heutigen chirurgischen Praxis kann eine Leistenhernie durch eine genaue Anamnese und körperliche Untersuchung exakt diagnostiziert werden, zusätzliche diagnostische Hilfsmittel werden selten benötigt (Kraft et al. 2003, van den Berg et al. 1999). Das führende Symptom eines Leistenbruchs ist bei der Mehrheit der Patienten entweder Unbehagen oder Schmerzen in der Leiste (Hair et al. 2001). Etwa ein Drittel aller Patienten ist zum Zeitpunkt der Untersuchung asymptomatisch, verzeichnet aber eine sichtbare Vorwölbung in der Leiste.

Ein Patient mit einer Leistenhernie ist in der Regel männlich und hat eine reponible Vorwölbung in der Leiste. Die Vorwölbung tritt bei einem Anstieg des intraabdominellen Drucks auf, etwa beim Niesen, Husten, Lachen oder bei körperlicher Anstrengung, und bildet sich in Ruhe und beim Liegen zurück. Bei der körperlichen Untersuchung am stehenden Patienten kann eine Leistenhernie provoziert werden, indem der Patient angewiesen wird, gegen seinen Handrücken zu blasen. Der intraabdominelle Druck nimmt zu, und typischerweise erscheint die Leistenhernie. Dieses Verfahren wird als Valsalva-Manöver bezeichnet. Die Hernie kann sich durch intraabdominelle Entspannung oder in Rückenlage zurückbilden. Somit ist die Diagnose einer Leistenhernie bestätigt; eine zusätzliche Diagnostik ist meist nicht notwendig.

Allerdings lässt sich nicht bei allen Patienten eine Leistenhernie wie oben angeführt diagnostizieren. Deshalb müssen Differenzialdiagnosen und die entsprechenden diagnostischen Schritte bekannt sein. So berichten einige Patienten über eine intermittierende Vorwölbung oder eine unbestimmte Lokalisation der Vorwölbung, aber bei der körperlichen Untersuchung und dem Valsalva-Manöver kann kein „bulging“ bestätigt werden. In diesem Fall kann eine Ultraschalluntersuchung (Sonographie) hilfreich sein. Die Sonographie ist ein nicht invasives, dynamisches Verfahren, bei der eine etwaige Herniation durch den Leistenkanal (indirekt) oder durch eine schwache Bauchwand (direkt) gut dargestellt werden kann. Bei einer klinisch nicht gesicherten Leistenhernie liegt die Spezifität des Ultraschalls im Vergleich zur chirurgischen Untersuchung bei 81–100 % und ihre Sensitivität bei 33 % (Simons et al. 2009).

Praxistipp

Wenn der Ultraschall keinen beweiskräftigen Befund ergibt, kann eine zusätzliche dynamische MRT-Untersuchung empfohlen werden. Der Vorteil der MRT ist, dass andere Erkrankungen der Leistengegend präzise diagnostiziert werden können. Ihre Spezifität beträgt 96 %, die Sensitivität 95 % (Simons et al. 2009).

Die häufigsten Differenzialdiagnosen einer Schwellung in der Leiste umfassen Lymphknotenvergrößerung, Varizen, Aneurysma, Weichteiltumor, Abszess, Anomalien der Geschlechtsorgane und Endometriose.

Andere Patienten geben in der Anamnese Leistenschmerzen an, es zeigt sich aber keine Vorwölbung in der körperlichen Untersuchung oder beim Valsalva-Manöver. Bei diesen Patienten bedarf es umfassender differenzialdiagnostischer Überlegungen hinsichtlich Insertionstendinosen der Adduktoren, Pubitis, Koxarthrose, Bursitis iliopectinea, Einstrahlung von Rückenschmerzen oder Endometriose. Auch in diesen Fällen ist eine dynamische MRT empfohlen; sie kann präzise differenzieren und erlaubt eine frühzeitige Diagnose von Sportverletzungen. Eine CT ist eine zuverlässige Alternative zur MRT bei der Diagnose einer okkulten Hernie oder anderer Erkrankungen der Leistengegend, zeigt aber im Vergleich zur MRT eine geringere Sensitivität und Spezifität (Simons et al. 2009). Daher gehört eine CT in der allgemeinen Hernienpraxis nicht zur Routineuntersuchung im Rahmen der Diagnostik bei einer Leistenhernie oder bei Leistenschmerzen.

Die Herniographie findet seit 1967 als Standardverfahren in der Bildgebung Verwendung (Poelman et al. 2013). Bei einer Herniographie wird eine Röntgenaufnahme des Beckenbereichs nach intraperitonealer Injektion von strahlenundurchlässigem Kontrastmittel durchgeführt. Es ist ein preiswertes diagnostisches Verfahren mit einer hohen Sensitivität von 81–100 % und einer Spezifität von 92–98 %. Allerdings besteht bei der Herniographie ein gewisses, wenngleich kleines Komplikationsrisiko, beispielsweise für Kontrastmittelallergie, Darmverletzung, Bauchwandhämatom und kurzfristige Schmerzsymptomatik (0–4,3 %) (Hamlin und Kahn 1998, Jones und Wingate 1998, Nadkami et al. 2001). Darüber hinaus hat die Herniographie keinen Stellenwert bei der Diagnose anderer Erkrankungen der Leistengegend, abgesehen von Leistenhernien. Aus diesem Grund kommt sie in der Routinediagnostik bei einer Leistenhernie in der allgemeinen Hernienpraxis nicht zum Einsatz.

1.1 Kontralaterale Seite

Wenn ein Patient sich mit einer einseitigen Leistenhernie vorstellt, sollte auch die kontralaterale Seite routinemäßig immer untersucht werden. Eine kontralaterale Leistenhernie tritt nicht selten auf, sie bleibt aber oft asymptomatisch. Dies ist übereinstimmend mit den Langzeitergebnissen von Fitzgibbons et al. (2006, 2013), O’Dwyer et al. (2006) und Chung et al. (2011), die zeigten, dass eine zunächst asymptomatische Leistenhernie im Lauf von Jahren symptomatisch werden kann. Die Autorengruppen führten eine randomisierte kontrollierte Studie durch, bei der männliche Patienten mit einer minimalen symptomatischen oder asymptomatischen Leistenhernie entweder für eine chirurgische Therapie oder für ein Zuwarten („watchful waiting“) randomisiert wurden. In der Serie entwickelten 50–72 % der männlichen Patienten aus der Watchful-waiting-Gruppe Symptome, die eine chirurgische Maßnahme erforderten. Es konnte auch gezeigt werden, dass einige akute Hernienereignisse in der Watchful-waiting-Gruppe auftraten, die eine Notfalloperation erforderten.

Praxistipp

Es sollte mit dem Patienten besprochen werden, dass sich bei einer wenig symptomatischen oder asymptomatischen Leistenhernie auf der kontralateralen Seite über die Jahre Symptome entwickeln können, die dann operativ behandelt werden müssen, dass aber die Inzidenz von akuten Hernienereignissen niedrig und ein konservatives Vorgehen sicher ist. Eine beidseitige operative Therapie kann jedoch vorgeschlagen werden.

Ein weiteres bekanntes Phänomen ist der zufällige Befund einer okkulten Leistenhernie auf der kontralateralen Seite bei operativer Indikationsstellung einer symptomatischen unilateralen Hernie während der laparoskopischen Hernienoperation. Diese „Gratisinspektion“ der kontralateralen Seite gilt als einer der Vorteile der laparoskopischen Hernienoperation. Bei 8–51 % der Patienten mit einer einseitigen Leistenhernie fand sich bei der laparoskopischen intraabdominellen Inspektion ein okkulter kontralateraler Defekt (van den Heuvel et al. 2013). Bei der Planung einer laparoskopischen Operation einer unilateralen Leistenhernie sollte der Chirurg präoperativ immer mit dem Patienten das Vorgehen beim Auftreten eines asymptomatischen okkulten kontralateralen Defekts besprechen. Wie oben erwähnt zeigt sich, dass eine Notfallsituation bei Hernien selten ist, dass aber die meisten kleinen oder asymptomatischen Leistenhernien im Lauf der Jahre symptomatisch werden. Eine sofortige Reparatur eines derartigen okkulten Defekts kann leicht durchgeführt werden, die laparoskopische Hernioplastik verlängert sich dabei um zusätzliche 7–25 min (van den Heuvel et al. 2013), ein zusätzliches Netz wird implantiert, während Rekonvaleszenz und Morbidität gleich bleiben.

1.2 Unterscheidung zwischen medial und lateral

Die Differenzierung der Hernientypen, direkt (medial) oder indirekt (lateral), bei der körperlichen Untersuchung wird von vielen als ungenau und irrelevant angesehen. Auch die Differenzierung durch zusätzliche diagnostische Untersuchungsmethoden gestaltet sich schwierig (Burkhardt et al. 2011, Sanjay et al. 2010, Ralphs et al. 1980). Die Kenntnis des Hernientyps beeinflusst selten die Operationsindikation oder das chirurgische Vorgehen. Allerdings haben sich durch die Entwicklung der minimalinvasiven Verfahren die chirurgischen Möglichkeiten in der Reparatur einer Leistenhernie außerordentlich erweitert. Während der laparoskopischen posterioren Leistenhernienoperation finden sich erfahrungsgemäß erwiesene Unterschiede hinsichtlich der Komplexität der Reparation einer direkten oder einer indirekten Leistenhernie, während diese Unterschiede bei einem offenen anterioren Verfahren nicht vorliegen.

Die laparoskopische Dissektion einer direkten Hernie besteht aus der Trennung zweier verschiedener Schichten, des Herniensacks mit dem nach sich ziehenden Peritoneum und der schwachen Fascia transversalis. Da diese Schichten keine enge Beziehung zueinander haben, kann die Dissektion ohne Schwierigkeiten durchgeführt werden. Die laparoskopische Dissektion einer indirekten Hernie kann jedoch technisch anspruchsvoll sein, da das Narbengewebe des obliterierten Processus vaginalis mit den Samenstranggebilden und dem Peritoneum verwachsen ist. Der Bruchsack steht mit den Samenstranggebilden meist in enger Verbindung. Durch eine undifferenzierte Dissektion des Peritoneums besteht das Risiko einer Verletzung des Ductus deferens und der Gefäße der Samenstranggebilde. Die laparoskopische Hernienoperation iner indirekten Hernie erfordert gut ausgebildete endoskopische chirurgische Fähigkeiten und kann mit dem notwendigen vorsichtigen Vorgehen zeitaufwendig sein, während die laparoskopische Hernienoperation einer direkten Hernie in der Regel weit weniger anspruchsvoll ist und weniger Zeit erfordert. Somit ergeben sich aus der präparativen Differenzierung der Hernientypen praktische Informationen sowohl für Trainingsprogramme als auch für die präoperative Planung.

Wenn eine Differenzierung in Hernientypen erfolgen soll, kann der Chirurg die Leistenhernie reponieren und seinen Finger gemäß bekannter Lokalisation gegen den inneren Leistenring pressen. Der Patient wird angewiesen, ein Valsalva-Manöver durchzuführen. Tastet man die Leistenhernie sofort, handelt es sich um einen direkten Typ. Tastet man sie erst nach dem Nachlassen des Fingerdrucks, deutet dies auf eine indirekte Hernie hin. Dieses Verfahren, die „Fingerverschlussmethode“, wird jedoch als ungenau beschrieben (Kraft et al. 2003, Sanjay et al. 2010, Ralphs et al. 1980, Moreno-Egea et al. 2000, Cameron 1994, Kark et al. 1994). Die gesamte Bewertung der Genauigkeit, eine indirekte Hernie mittels körperlicher Untersuchung zu diagnostizieren, reicht von 72–92 % und 55–65 % für direkte Hernien. Nachträglich bewertet die European Hernia Society in ihren Leitlinien zur Behandlung eines Leistenbruchs bei Erwachsenen die Differenzierung von Hernientypen durch eine körperliche Untersuchung als unzuverlässig (Simons et al. 2009).

Die plausibelste Erklärung für diese Ungenauigkeit bei der Differenzierung zwischen Hernientypen in der gegenwärtigen Literatur ist die Schwierigkeit, die genaue Lage des inneren Leistenrings zu bestimmen. Bei der körperlichen Untersuchung kann der innere Leistenring nicht palpiert werden, seine genaue Position kann nur von anatomischen Landmarken abgeleitet werden. Für die Beurteilung der Lage des inneren Leistenrings sind 4 anatomische Orientierungspunkte von Bedeutung: die Spina iliaca anterior superior, die A. femoralis, die A. epigastrica inferior und das Tuberculum pubicum (Abb. 2.1). Die Lage des inneren Leistenrings wird oft in der Mitte zwischen Spina iliaca anterior superior und Tuberculum pubicum oder etwas lateral dazu beschrieben. Allerdings widersprechen viele Berichte dieser Lage und der Pathologie der Leiste (Sanjay et al. 2006, Conaghan et al. 2004, Koliyadan et al. 2004, Andrews et al. 1999, Scott und Willan 1991). Die Protrusion einer indirekten Hernie drückt wahrscheinlich den inneren Leistenring mehr nach medial und umgekehrt (Sanjay et al 2006). Auf diese Weise wölben sich einige der indirekten Hernien, die durch einen dislozierten inneren Leistenring entstehen, medial des mittleren Leistenpunkts (und des okkludierenden Fingers des Untersuchers) vor und werden dadurch als direkte Hernie diagnostiziert.

Abb. 2.1
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Lokalisation des tiefen Leistenrings

Eine genauere Lokalisation des inneren Leistenrings führt daher zu einer verbesserten Genauigkeit bei der präoperativen Differenzierung des Hernientyps. Der innere Leistenring befindet sich mit wenigen Ausnahmen lateral von epigastrischen Gefäßen (A. epigastrica inferior) sowohl in der normalen Leiste als auch in der pathologischen Leiste. Eine kürzlich durchgeführte Studie von Tromp et al. (2014) zeigte, dass nach der Lokalisation der inferioren epigastrischen Gefäße mithilfe eines tragbaren Dopplergeräts der innere Leistenring wesentlich genauer lokalisiert werden konnte. Die präoperative Differenzierung fand sich mit einer Genauigkeit von 79 % bei direkten Hernien und 93 % bei indirekten Hernien (Cameron 1994), vergleichbar mit der Genauigkeit des Ultraschalls bei der Differenzierung zwischen Hernientypen (Bradley et al. 2003, Korenkov et al. 1999, Babkova und Bozhko 1999, Zhang et al. 2001).

2 Was ist evidenzbasiert?

Statements

  • Ultraschall und dynamischer MRT haben eine hohe Sensitivität und Spezifität in der Diagnostik bei einer klinischen unklaren Leistenhernie.

    • Evidenzlevel: „moderate“

  • MRT hat eine hohe Sensitivität und Spezifität bei der Detektion anderer Leistenpathologien.

    • Evidenzlevel: „moderate“

  • Herniographie hat eine hohe Sensitivität und Spezifität bei der unklaren Diagnose einer Leistenhernie und eine geringe Inzidenz von Komplikationen, wird aber selten in der aktuellen Hernienpraxis verwendet.

    • Evidenzlevel: „moderate“

  • Eine okkulte kontralaterale Leistenhernie wird häufig während der laparoskopischen Exploration gefunden und ihre Inzidenz schwankt zwischen 8 und 51 %.

    • Evidenzlevel: „low“

  • Eine präoperative Differenzierung des Hernientyps ist mit dem Fingerabschlusstest nach Lokalisation der unteren epigastrischen Arterie mit hoher Sensitivität und Spezifität möglich.

    • Evidenzlevel: „low“

Empfehlungen

  • Im Fall einer gesicherten klinischen Leistenhernie ist keine zusätzliche bildgebende Diagnostik notwendig.

    • Empfehlungsgrad: schwach

  • Wenn eine Leistenhernie vermutet wird, aber klinische Befunde unklar sind, ist die erste diagnostische Bildgebungsmodalität eine dynamische Ultraschalluntersuchung, gefolgt von einer dynamischen MRT.

    • Empfehlungsgrad: schwach

  • Die kontralaterale Seite bei Patienten mit einer unilateralen Leistenhernie sollte routinemäßig untersucht werden, um das Vorhandensein eines okkulten kontralateralen Defekts zu beurteilen.

    • Empfehlungsgrad: schwach

  • Wenn eine laparoskopische Hernioplastik für eine unilaterale Leistenhernie durchgeführt wird, sollte die kontralaterale Seite routinemäßig visualisiert werden, um das Vorhandensein eines okkulten kontralateralen Defekts zu beurteilen.

    • Empfehlungsgrad: schwach

  • Die präoperative Differenzierung des Leistenbruchtyps kann nach der Lokalisation der unteren epigastrischen Arterie mit Dopplervorrichtung erfolgen, gefolgt vom Fingerokklusionstest.

    • Empfehlungsgrad: schwach