Zusammenfassung
Professionelle Berater unterstützen und begleiten Manager, auch in deren Führungsrollen. Unternehmensberater reden lieber darüber, wie ihre Klienten Führung praktizieren. Dabei wird das eigene Führen nur wenig reflektiert. Und nicht alle Rechtsanwälte, Wirtschaftsprüfer und Steuerspezialisten wollen Psychologen werden, um das Verhalten ihrer Mitarbeiter innerhalb ihrer Organisation auch sozioemotional zu professionalisieren. Für Sie stehen Fachkompetenz und Durchsetzungsfähigkeit an erster Stelle. Entsprechend gerät in diesem Milieu das Führungsverständnis. Ein gerne vorgetragenes Ziel im beraterischen Selbst- und Führungsverständnis ist Enabling, also die Klienten dabei zu unterstützen, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen und zu gestalten. Hört und sieht man genauer hin, entpuppt sich diese Beteiligung oft als normatives Vorschreiben dessen, was man für das Beste hält. Und nennt es Empfehlung. Beratung ist manchmal anders. Führung auch.
5.1 Karl-Heinz Feldmann
Mr. Karl-Heinz Feldmann serves as Senior Vice-President of E.ON AG. Since February 2004, Mr. Karl-Heinz has been the member of the Supervisory Board of Hamburger Hof (Germany). Since 2008, He has been the Member of the Management Board at E.ON Italia (Italy). Mr. Karl-Heinz served as the Member of the Supervisory Board of E.ON IS (Germany) until June 2010. He served as the member of the Supervisory Board at E.ON Risk Consulting GmbH Germany) until 2007.
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FR: Herr Feldmann, ich freue mich, dass das Interview zustande gekommen ist. Wir versuchen über persönliche Gespräche mit interessanten und wichtigen Persönlichkeiten dichter an das Thema heranzukommen.
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Wann ist das Thema Führung für Sie interessant geworden? Sie sind vermutlich nicht als Führungskraft auf die Welt gekommen, aber irgendwann fing es an interessant zu werden.
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KHF: Ich bin in der Tat nicht als Führungskraft auf die Welt gekommen.
Vor 25 Jahren habe ich als Jurist angefangen. Als Jurist ist man immer in der Gefahr, ein Einzelkämpfertum zu führen. So richtig mit dem Thema Führung bin ich in Berührung gekommen, 1994 in den USA als Jurist für Hüls. Irgendwann rief mein Vorsitzender an und sagte: „Herzlichen Glückwunsch, Du darfst jetzt den CEO unserer Obergesellschaft in den USA machen!“ Das kam in der Tat überraschend. Ich wurde ins kalte Wasser geworfen. Die Gesellschaft hatte 60 Mitarbeiter. Völlig unvorbereitet habe ich versucht, mich halbwegs durchzuschlagen. Es hat mir aber eine ganze Zeit Unbehagen bereitet. Das gebe ich unumwunden zu. Ich war 35 und in den USA erst seit kurzer Zeit.
Nach meiner Rückkehr nach Deutschland 1996. Da habe ich die Leitung der Rechtsabteilung übernommen. Das war insofern etwas eigenartig, weil ich dort als „Lehrling“ angefangen hatte. Fast ohne Handwerkszeug habe ich versucht mich durchzuschlagen. Das gelang insofern unfallfrei, als die Kollegen alle außerordentlich loyal waren. Mit dem Thema „Führung“ richtig angefangen hat es hier bei E.ON. Am Anfang habe ich auch Fehler gemacht, aber aus denen lernt man ja.
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FR: Trauen Sie sich, die Fehler zu beschreiben?
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KHF: Ich hatte eine gewisse Tendenz, unangenehme Personalthemen zu schieben, wenn ich sie schieben konnte. Gerade in der Zusammenarbeit mit schwierigen Mitarbeitern war das ein echtes Problem. Ich habe es dilatorisch behandelt. Die Gespräche waren mir persönlich unangenehm und belastend. Ich könnte mich zwar herausreden, dass es dafür Gründe gab. Heute erkenne ich, dass es die Sache nur verschlimmert hat. Das Problem löst sich nicht von allein, es geht nicht weg, es wird schlimmer. Ich habe über längere Zeit mit Hilfe von Böning-Consult gelernt: Es nützt nichts, die Dinge nicht anzugehen – so unangenehm sie sind. Das Problem war für mich, zu lernen und auseinanderzuhalten: Was betrifft mich als Person und was betrifft mich als Chef? Über diesen Weg habe ich gelernt. Heute sage ich, bei mir läuft Führung deutlich anders. Ich lasse den Mitarbeitern eine lange Leine. Das ist immer eine Frage des Vertrauens. Das braucht bei mir eine Testphase – aber keine sehr lange. Wir haben jetzt in erheblichem Maß umorganisiert. Viele Personalthemen mussten gelöst werden, die ich alle sofort umgesetzt habe, auch wenn sie hart waren. Über die Zeit habe ich zu trennen gelernt, zwischen meiner Person und der Aufgabe.
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FR: Richtig! Das ist eine wichtige Erkenntnis!
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KHF: Das war ein Prozess, der einige Zeit gebraucht hat. Aber es ist nicht mehr so, dass es mich persönlich belastet. Das hinzubekommen, war eine der größten Herausforderungen für mich.
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FR: Ich würde gern noch einen Schritt zurückgehen. In den Unternehmen, in denen wir zurzeit Gespräche führen, hat man den Eindruck, dass die Rechtsabteilung eigentlich überhaupt keine Führung braucht. Das sind alles fachkompetente Leute, die laufen von alleine. In jedem anderen Bereich eines Unternehmens scheint das ganz anders zu sein.
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KHF: Ja, in der Regel sind die Mitarbeiter sehr sachkompetent, aber häufig individualistisch. Das ist vielleicht auch eine Frage der Größe des Bereichs. Als ich angefangen habe, waren wir 7 Juristen. Heute habe ich alleine hier in Düsseldorf 23, 24. Mittlerweile haben wir den Bereich so strukturiert, dass alle Juristen im Konzern – zurzeit 250 – an mich berichten. Ich habe über 20 Leute, die direkt an mich berichten. Da ist Führung zwingend. Juristen neigen aber manchmal dazu, sich stark über Fachkompetenz zu definieren.
Unsere Themenspanne ist so breit, dass ich mir nicht erlaube zu sagen, dass ich in allen Rechtsgebieten fachkundig wäre. Hier gibt es Kollegen, denen kann ich nicht das Wasser reichen. Was mich auszeichnet ist, dass ich ein relativ gutes Gespür für Dinge habe, die sehr politisch werden können und bei denen mein Bauchgefühl sagt: Das Thema hat Potenzial, einem auf die Füße zu fallen. Wenn Sie eine Organisation führen, müssen Sie über Strukturen und natürlich auch über die Themen Personalwechsel, Personalentwicklung und manchmal auch Nicht-Entwicklung sprechen.
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FR: Das ist nachvollziehbar! Ich denke, das hat sich auch verändert und ist wirklich ein Teil der Organisation geworden.
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KHF: Sie haben recht mit der Bemerkung, bei den Juristen wird erwartet, dass es läuft. Tatsache ist aber, dass trotz der hohen Selbständigkeit in der Tätigkeit der Mitarbeiter die Verantwortung bei mir liegt. Wenn ich das jetzt flapsig formuliere, würde ich sagen: „Es ist immer noch mein Kopf, der auf dem Block liegt.“ Das führt dazu, dass ein wesentlicher Teil dessen, was ich unter das Thema „Führung“ subsumieren würde, der Aufwand ist, Mitarbeiter auszusuchen, einzustellen, so zu integrieren, dass sie in der Lage sind, selbständig zu arbeiten. Ich kann sie nur selbstständig arbeiten lassen.
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FR: Ja. Ich nehme an, dass das auch angemessen ist.
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Wenn Sie sagen: „Führung, USA, kaltes Wasser, aber in Deutschland haben Sie sich das erste Mal damit wirklich beschäftigt“, wo haben Sie am meisten gelernt? Von einem Vorgesetzten, aus der Literatur, aus Trainings? Wo ist Ihnen das, was Sie heute praktizieren, nahegebracht worden, so dass Sie sagen: „Das ist meins, so führe ich und so bin ich auch kalkulierbar.“
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KHF: Ich glaube, es sind drei Dinge. Zum einen von meinem ersten Chef. Fast hätte ich gesagt – eine frühkindliche Prägung. Der hatte einen Führungsstil, der meinem recht ähnlich ist. Das zweite ist, dass man eine Zeit braucht um herauszufinden, welcher Führungsstil zu einem persönlich passt. Ich könnte nicht dauerhaft gegen meine Natur, meinen Charakter, gegen meine Vorlieben führen. Der dritte Punkt war eigentlich die Diskussion mit Ihrem Mann – einem hervorragenden Business-Coach. Ich sage das jetzt nicht, weil ich Ihnen oder Ihrem Mann schmeicheln will. Die meisten Probleme mit der Führung hat man nicht mit Mitarbeitern, die hat man mit sich selbst. Und dieses ‚mit sich selber klar sein‘, war eigentlich der schwierigste Prozess. Und das können Sie nicht von Ihrem Chef lernen. Das können Sie nur mit sich selber ausmachen. Das ging wirklich nur in einem strukturierten Prozess, damit man sich mit sich selber auseinandersetzt, was man ja nicht gerne tut. Also Man(n) schon gar nicht und ich erst recht nicht.
Die drei Komponenten sind es. Schulungen und Trainings – weil Sie es angesprochen haben – eher weniger. Dass ich aus einer Schulung etwas nachhaltig herausgezogen hätte, wo ich sagen könnte, das war jetzt fürs Leben, das kann ich nicht sagen. Das ist aber vermutlich eher persönliche Wahrnehmung.
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FR: Sie sprechen einen ganz wichtigen Punkt an: Die Auseinandersetzung mit sich selber. Erstens hat man vermeintlich nie Zeit dazu und angenehm ist die Situation auch nicht. Aber die Frage ist ja auch: „Was passt zu Ihnen und was macht Sie auch authentisch und damit auch kalkulierbar für Kollegen und Mitarbeiter?“
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KHF: Ich glaube, Sie scheitern, wenn Sie nicht auf Dauer eine gewisse Authentizität entwickeln. Weil Mitarbeiter ein unglaublich feines Gespür dafür haben, wenn man nicht man selber ist.
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FR: Haben sich Ihre Vorstellungen, wie man mit Menschen umgeht, irgendwie verändert?
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KHF: Ich bin Konflikten aus dem Weg gegangen. Es ist mir wirklich schwergefallen, hatte aber auch mit einer falsch verstandenen Schonung der Mitarbeiter zu tun. Ich habe festgestellt, dass es für den Betroffenen besser gewesen wäre, ein Thema frühzeitig zu diskutieren und zu sagen: „Das ist jetzt das Ende des gemeinsamen Weges.“ Diese Idee, dem anderen nicht wehtun zu wollen, ist eigentlich falsch. Schlimm ist es, wenn sie unzuverlässig oder verletzend sind. Aber mein Eindruck ist, die meisten Mitarbeiter kommen mit einer eindeutigen Ansage besser klar.
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FR: Gab es im Laufe Ihres Lebens Personen, die für Sie in diesem Zusammenhang besonders wichtig waren?
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KHF: Wie schon erwähnt mein erster Chef. Als ich die erste Führungsaufgabe und die erste Rechtsabteilung übernommen habe, da hatte ich einen Vorsitzenden, der war wirklich charismatisch. Mit allen Vor- und Nachteilen. Wenn er jemandem vertraute, dann vertraute er ihm vollständig. Als ich die Aufgabe übernahm, war ich 35 Jahre alt. Nach ein, zwei Stunden Gespräch merkte ich, das passt! Er hat immer gesagt: „Deine Entscheidung, wenn ein Problem da ist, dann melde Dich. Aber ich vertraue Dir.“ Ich habe von ihm immer Rückendeckung bekommen. Sie wissen, dass Ihr Chef hinter Ihnen steht und nicht versucht, Ihnen in die Knie zu treten. Das war für mich ungeheuer wichtig. Die Frage des Umgangs mit Vertrauen ist schon essentiell.
Das Thema Führungskraft ist meiner Ansicht nach ein Amalgam. Wenn Sie Vorgesetzter sind, heißt das noch nicht, dass Sie führen können. Wenn Sie eine Truppe führen wollen, müssen Sie mehr sein, als nur Vorgesetzter. Da brauchen Sie eine gewisse Vorbildfunktion, klare Vorstellungen von sich selber, von der Aufgabe und von dem Ziel, wo Sie hinwollen. Und Sie müssen kommunizieren an Mitarbeiter. Es gibt Menschen, die können das auf eine unnachahmliche Weise. Andere müssen sich das eher mühselig erarbeiten. Dazu gehört eben einfach mehr, wenn Sie Mitarbeiter bewegen wollen.
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FR: Von außen gesehen sind Sie ein sehr modernes Unternehmen, wie jedes andere auch. Das war ja früher sehr monopolitisch.
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KHF: Das ist anders geworden. Der Kulturwandel ist in diesem Unternehmen schon beträchtlich. Wir tun uns an manchen Punkten schwer, was die Führung angeht. Das hat aber schlicht mit dem Geschäft zu tun. Der Markt ist deutlich schnelllebiger geworden. Dieser Wechsel zu mehr Flexibilität und größerer Schnelligkeit ist für die Organisation eine der größten Herausforderungen. Je mehr Sie in kundenorientiertes Geschäft gehen, desto deutlicher wird die Dynamik und der Trend Schnelligkeit erkennbar.
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FR: Ich mache noch einmal das Kulturthema auf: Was hat Ihre Erfahrung in den USA, bei Hüls, bei Stinnes für eine Bedeutung gehabt? Das sind ja Veränderungen, die Sie als Person klarkriegen mussten. Es bedeutet ja nicht nur: mehr Menschen, andere Vorgesetzte, sondern auch ICH als Person. Ich muss ja auch ständig im Wandel sein und bleiben.
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KHF: Im ersten Unternehmen war ich ca. 10 Jahre. Wenn ich das rückwirkend betrachte, war es das Unternehmen, an das ich die höchste emotionale Bindung hatte. Man ist neu, lernt, fühlt sich wohl, das Geschäft ist spannend und 10 Jahre ist ja eine relativ lange Zeit. Ich habe wirklich an dem Unternehmen gehangen und bin nach 10 Jahren mit der Fusion Degussa und Hüls schweren Herzens gegangen. Früher musste man das Unternehmen wechseln, um andere Produkte und Mitarbeiter zu sehen. Heute passiert das alles innerhalb eines Unternehmens. In den letzten 10 Jahren hat sich fast alles bis zur Unkenntlichkeit entstellt.
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FR: Wenn Sie sagen, Sie hatten die emotionale Bindung. Aber die Atmosphäre durch jede neue Company, die dazu kam, veränderte sich.
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KHF: Nach dem ersten Wechsel hatte ich das Gefühl, mich anpassen zu müssen. Ich habe mich dabei erwischt, als ich darüber nachdachte, ob das eine Art Überkompensation sei. Als wäre man schon ewig dabei gewesen, als Versuch eine emotionale Bindung zu entwickeln. Dann kam die Erkenntnis und mir war klar: „Das geht so nicht.“ Ich habe beschlossen, meinen eigenen Stil und meine eigene Distanz zu halten. Ich bin hier neu und sollte nicht so tun, als wüsste ich alles und wäre schon immer dabei gewesen.
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FR: Heute sieht die Situation für junge Leute ja ganz anders aus. Da ist die Verweildauer auf etwa 3 Jahre angelegt. Ich will nicht sagen, dass sie nicht loyal sind. Aber man kann schon den Eindruck bekommen, eigentlich sind sie auf dem Durchmarsch. Erleben Sie das auch oder ist das für Sie anders?
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KHF: In meinem Bereich ist das etwas anders. Der Altersdurchschnitt ist relativ gering. Durchweg sind die Mitarbeiter hochausgebildete Juristen, die einige Jahre in großen Kanzleien verbracht haben. Die gehen viele Dinge ganz anders an. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie nach einem Job gefragt und gesagt: „Wo kann ich mich hin entwickeln? Wie geht das?“ Das hat aber damit zu tun, dass ich immer das Vertrauen hatte, ich bin da gut aufgehoben, wo ich bin. Mein Chef und die Kollegen wissen, was ich kann, die schätzen mich, die mögen mich. Ich habe das immer so empfunden, dass sie mich nicht hängen lassen werden und wenn es ein Problem gibt, werden sie es schon sagen. Das ist eher anders geworden mit den jungen Leuten. Ich führe viele Gespräche, werde gefragt „Wo geht’s denn hin?“, „Wie lange dauert das?“ und „Warum kann ich nicht Führungskraft werden?“. Abgesehen davon, dass ich den meisten sage: „Die schlimmsten Wünsche, sind die, die wahr werden. Ihr werdet den Tag noch verfluchen, wenn es soweit ist.“ Das ist die augenfälligste Veränderung, wie Mitarbeiter mit mir umgehen, in dem Verhältnis zu dem, wie ich früher mit meinen Vorgesetzten umgegangen bin. Die Unternehmen sind aber auch in ihren Strukturen nicht mehr so stabil wie vor 25 Jahren, als ich angefangen habe. Ich habe vielleicht auch Glück gehabt, dass ich in relativ stabilen Strukturen gearbeitet habe. Aber vielleicht hat es auch damit zu tun, dass sie heute nicht zwingend eine langfristige Perspektive im Unternehmen haben. Ich kann doch heute nicht einmal mehr mit Sicherheit sagen, wie diese Abteilung in zwei Jahren aussieht. Bei der Schnelllebigkeit und der Entwicklung, die wir haben.
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FR: Ich kann das Phänomen nachvollziehen. Die Frage ist ja auch: „Was löst das bei dem aus, der dazu eine Antworte geben muss.“ Es ist ja eine Drucksituation. Wenn jemand vor Ihnen steht und fragt: Wie läuft hier die Weiterentwicklung. Mit anderen Worten: was können Sie für mich tun?
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KHF: Das kann man heute nur schwer sagen. Das ist auch eine Frage des gegenseitigen Vertrauens. Man kann als Vorgesetzter nicht immer sofort liefern, aufschreiben und zusagen. Heute wird es schwerer, das, was man gesagt hat, in 2 Jahren auch noch liefern zu können. Das war vor Jahren etwas einfacher. Es ist in manchen Punkten schnelllebiger und Mitarbeiter sind ungeduldiger geworden. Es hat auch damit zu tun, dass die Unternehmen schnelllebiger sind, als sie es früher waren. Das sehen die Mitarbeiter natürlich auch, dass die langfristige Perspektive schwierig ist. Dadurch sind der Druck und die Erwartung an das Unternehmen größer geworden. Man weiß ja nicht, wie es in 2 Jahren aussieht. Diese Tendenz ist wirklich deutlicher geworden. Da kommt auch viel Ungeduld und offen gestanden deutlich mehr Fluktuation, als das früher der Fall war.
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FR: Eben sagten Sie, die jungen Leute seien gut ausgebildet, kommen oft aus Kanzleien. Da ist sowieso eine ganz andere Kultur. Da ist man ja auf dem Durchmarsch. 3 Jahre, 4 Jahre und entweder tut sich etwas oder es tut sich nichts. Dann ist man auf der Umlaufbahn. Da entsteht eine Drucksituation, man muss auch ständig liefern.
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KHF: Ja, Sie müssen auch liefern. Sie können auch nicht jeden entwickeln, alle Jobs zu übernehmen. Es gibt immer wieder Mitarbeiter, die sich nicht in kurzer Zeit für eine Führungsaufgabe entwickeln lassen. Der Druck ist schon da. Und dann kommen 2 Effekte zusammen: Erstens, ein ungesunder Mix, wenn viele junge Leute parallel in ihrer Entwicklung stehen. Zweitens verkaufen wir zurzeit relativ viele Geschäfte. Früher hätten Mitarbeiter in eine Tochtergesellschaft wechseln können – gerade in Deutschland. Das geht heute nicht mehr so einfach.
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FR: Das Thema Führung verfolgt uns ja. Die Frage ist: Wollen die jungen Leute noch führen? Es gibt Tendenzen wie Entwicklungen. Nicht nur finanziell, auch was die Persönlichkeit und Kompetenz betrifft. Aber Führen und mit anderen Leuten zu tun haben? Es gibt offensichtlich eine Kategorie Menschen, die will das gar nicht mehr.
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KHF: Das ist so! Es gibt einige, die wollen das wirklich. Das sind häufig Mitarbeiter, die das auch könnten. Viele sagen aber auch, sie wollen führen, meinen aber eigentlich nicht zwingend Mitarbeiter führen, sie wollen eine Führungsposition haben mit entsprechender Ausstattung, um auf der Karriereleiter weiterzukommen. Bei uns läuft Weiterentwicklung leider sehr stark über Führungsaufgaben.
Meinen sie wirklich „Mitarbeiter führen“, mit allen Höhen und Tiefen? Nicht wirklich! Da ist die Führungsposition eher Mittel zum Zweck. Deshalb habe ich ja etwas locker gesagt: „Die schlimmsten Wünsche sind die, die wahr werden.“ Für viele ist das erst einmal ein ernüchterndes Erlebnis. Führen ist ja nicht nur angenehm. Das hat ja einen Aspekt, mit dem Juristen oft besonders laborieren, der eher als Einzelkämpfer gearbeitet hat. Man muss dann auch loslassen und sich auf das Wissen anderer verlassen. Und Sie müssen Mitarbeiter führen, delegieren. Sie müssen mit denen umgehen, haben weniger Zeit für sachliche und fachliche Themen. Das ist für manche ein Problem. Und das hat vielleicht auch mit dem neumodischen Wort „work-life-balance“ zu tun. Das ist schon ein Thema, dass männliche Mitarbeiter z.B. Elternzeit nehmen, das hätte es vor langer Zeit nicht gegeben. Da hätte man gesagt: „Kann ich mir karrieretechnisch gar nicht erlauben.“ Und bei manchen ist auch deutlich spürbar, die sagen: „Ich habe hier eine Aufgabe, die ist interessant und die füllt mich aus. Auch für mehr Geld bin ich nicht bereit, eine Führungsposition und einen Dienstwagen die Unbillen in Kauf zu nehmen.“ Das sind klare Karriere-Entscheidungen. Deutlich ausgeprägter finden Sie das in Kanzleien. Ich glaube, es gibt eine ganze Reihe Menschen, die wissen, was sie nicht wollen, wozu sie nicht bereit sind.
Ein relativ hohes Einkommen oder ein Dienstwagen hat offen gestanden auch seinen Preis. Viele überlegen schon, ob sie bereit sind, den Preis zu zahlen. Und der Preis muss letztlich bezahlt werden.
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FR: Ich glaube, dass es neben der Aufgabe in einem Unternehmen auch so etwas wie einen anderen Partner gibt. Da ist eine Ehefrau oder ein Ehemann. Das ist heute eine ganz andere Partnerschaft, mit der man sorgfältiger umgehen muss, um keine Friktionen zu erzeugen. Früher war es so, wenn der Mann in New York seine Karriere fortsetzen konnte, dann zog alles nach New York. Heute ist das nicht mehr so. Wie erleben Sie das?
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KHF: Das ist in der Tat ein Problem. Wir schicken jetzt gerade einen Mitarbeiter nach Brasilien. Dessen Frau ist auch Anwältin. Sie begleitet ihn. Aber wir haben Fälle, da kommt die Aussage: „Das geht nicht. Meine Frau ist Partnerin in einer Anwaltskanzlei, da kann man nicht mal so eben raus.“ Dann geht es eben nicht. Oder: „Meine Frau ist genauso berufstätig, wir haben eine klare Verabredung, was hier geht und was nicht.“ Das war früher kein Thema. Ich habe den Eindruck, das ist in den Unternehmen heute akzeptiert.
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FR: Ich erinnere mich, als vor vielen Jahren der Wiesbadener Oberbürgermeister seine Elternzeit nahm, ist er auch durch die Presse „gezogen“ worden. Mit Kinderwagen auf einem großen Foto. Er hat es durchgestanden. Das bringt natürlich einen Betrieb durcheinander. Er oder sie ist dann keine feste Größe mehr. Wir erleben das gerade im Unternehmen. „Er“ nimmt ganz freiwillig nur einen Monat Elternzeit.
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KHF: Das ist schon so, hier sind relativ viele junge Leute und viele Frauen beschäftigt. Und viele Mitarbeiter haben in diesem Jahr Elternzeit genommen. Das ist heute ein Faktor. Wir kompensieren es dann mit der verbleibenden Truppe. Und leicht ist das nicht.
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FR: Wenn Sie für 250 Leute verantwortlich sind, nicht nur in Düsseldorf, sondern auch im europäischen Ausland, das ist ja auch eine virtuelle Veranstaltung. Wie ist denn das mit dem Thema Führung?
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KHF: Ja, das ist in weiten Teilen eine virtuelle Veranstaltung, aber sehr unterschiedlich ausgeprägt. Es gibt eine gewisse Inbalance in der Art und Weise, welche Mitarbeiter ich wie intensiv führe. Ich sitze hier in Düsseldorf mit 4 Abteilungsleitern. Die sehe ich jeden Tag. Mit denen diskutiere ich dementsprechend viel. Andere Abteilungsleiter sind in Essen oder in Hannover, das geht noch halbwegs. Aber bis ich mal wirklich irgendein Thema in Bukarest habe, das geht nicht so einfach. Das Problem ist, Sie können nicht nur sagen: „Ich führe“ und kümmern sich dann nicht darum. Der Betreuungsaufwand ist schon relativ hoch. Funktionale Führung heißt natürlich auch, dass sie sich von den Strukturen lösen müssen, in denen sie vorher waren. Und da existiert das Problem, dass Mitarbeiter das Gefühl haben, in ihrer Gesellschaft loslassen zu müssen. Das müssen Sie kompensieren. Hier nehme ich mich ihrer noch nicht richtig an. Das ist eine der größeren Herausforderungen, weniger in der Führungsaufgabe, sondern schlicht und ergreifend im Zeitmanagement. Sie müssen dann einfach auch mal vor Ort sein.
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FR: Gibt es dabei etwas Regelmäßiges?
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KHF: Einmal im Monat findet ein Treffen des Führungsteams statt. Ansonsten haben wir mit den Regionen einmal im Quartal ein Treffen. Mit den meisten führe ich 14-tägig einen telefonischen jour fixe. Dann versuche ich idealerweise zwei Mal im Jahr vor Ort in den 15 Auslands-Gesellschaften aufzutauchen. Bei zwei Mal im Jahr sind das schon 30 Tage. An sich geht es nur dadurch, dass ich hier in gewisser Weise loslasse. Man muss furchtbar aufpassen, dass man nicht unfair ist und die, die räumlich entfernt sind, stiefmütterlich behandelt und man fährt hier seinen alten Trott weiter, weil es ja doch so bequem ist.
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FR: Ja, das war ja auch früher üblich. Man fuhr zu Hof.
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KHF: Dazu neige ich nicht! Ich fahre dann lieber hin oder telefoniere.
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FR: Sie haben vorhin angedeutet, wie Sie als Karl-Heinz Feldmann in einer Konfliktsituation reagieren: als Führungskraft oder als Mensch Feldmann. Empfinden Sie da einen Unterschied? Dass Sie dabei unterscheiden: „Das ist mein Job, meine Rolle. Da muss ich vielleicht anders reagieren, als wenn ich es ganz individuell für mich und mein Herz machen würde?“
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KHF: In gewisser Weise ja. Ich übe hier bestimmte Aufgaben aus, die ein bestimmtes Verhalten erwarten und erfordern. Aber Sie können nicht sagen, in der Zeit hier im Büro bin ich als Führungskraft so. Und sobald ich das Büro verlasse, bin ich jemand völlig anderes. So eine Art Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Da sind Sie nicht authentisch. Ich glaube schon, ich bin hier in meinem Job ziemlich so, wie ich wirklich bin. Sie können nicht dauerhaft eine Rolle als Führungskraft wahrnehmen, die nicht identisch ist mit der Art und Weise, wie Sie sonst sind. Mitarbeiter merken ziemlich schnell, ob Sie eine Rolle spielen oder ob Sie authentisch sind.
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FR: Ja, das denke ich auch. Wenn Sie einmal 4 oder 5 Kriterien nennen würden, die für Sie als Führungskraft wichtig sind. Etwas, was Sie eben ansprachen, wie authentisch zu sein.
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KHF: Das Thema ist, authentisch und verlässlich sein und den Mitarbeitern gegenüber präzise zu sagen, wie ich die Dinge einschätze. Keine Versprechen zu machen, von denen ich nicht sicher, ob ich sie halten kann. Das machen Sie einmal und dann ist Ihr Ruf ruiniert. Das Dritte ist, den Mitarbeitern wirklich Vertrauen zu schenken in dem, was sie tun. Sie machen ja einen relativ komplizierten Job und in relativ jungen Jahren häufig anspruchsvolle Aufgaben, die große Auswirkungen haben. Ein vierter Punkt: Klarheit, wohin man will und was wichtig ist. Dazu gehört aber auch, die Wahrheit zu sagen, dass und was unsicher und unklar ist.
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FR: Ich habe aufgeschrieben: authentisch sein, verlässlich sein, Vertrauen schenken, Klarheit, wohin man will.
Ein anderes Thema: Ich erinnere mich, dass man als Berufstätiger darauf achten musste, dass keine Privatgespräche geführt wurden. Heute kann man beobachten, dass doch ganz viele private Dinge während des Jobs laufen. Da kommt eine SMS oder eine private Mail oder man schaut mal auf Facebook. Da hat sich schon etwas verändert, oder?
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KHF: In der Tat. Früher war der Ablauf im Büro einfach klar strukturiert. Heute gibt es bei mir viel mehr Flexibilität. Diese Freiheit erwartet heute auch jeder. Wenn ich selbständig kreativ und verantwortungsvoll arbeiten will, muss das Unternehmen auch die Freiheit geben, den Tag selbst zu strukturieren. Ich glaube, das ist die notwendige Freiheit, die man braucht und die jeder erwartet. Die Erwartung der ständigen Erreichbarkeit ist auch nicht gut. Ich stelle fest, dass man einige Mitarbeiter vor sich selber schützen muss. Ich hatte mal einen Chef, der sagte immer: „Feldmann, wer ständig erreichbar sein muss, gehört zum Personal.“ [beide lachen] Aber klar. Es gibt nach wie vor Mitarbeiter, die sind „wichtig“, weil sie ständig und überall mit dem Blackberry auch beim Mittagessen sitzen. Für mich ist das eher eine Verformung, offen gestanden
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FR: Ein anderes Thema? Junge Frauen, die eine Führungsposition angeboten bekommen. Die dann sagen: „Nein noch nicht, bin noch nicht so weit. Muss noch dies machen und Qualifikation erlangen und so weiter.“ Fragen Sie einen Mann – der traut sich, ob er 70% oder 80% Sicherheit hat. Spielt das bei Ihnen eine Rolle?
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KHF: Das Phänomen kenne ich auch. Der Mann, der mit Selbstzweifeln zu mir käme, der muss noch geboren werden. Es ist selten, dass ein Mann sagt: „Ich bin noch nicht soweit. Da müsste ich nochmal was tun.“ Bei Frauen ist das unterschiedlich. Manche Frauen muss man wirklich „bewegen“. Da hatte ich jetzt gerade einen wirklich tragischen Fall. Eine junge Frau, hervorragend in der Leistung, menschlich angenehm, sehr guter Umgang, klare Strukturen. Die habe ich fast gegen ihren Willen auf eine erste Führungsaufgabe geschubst. Dann hatte ich sie vorgesehen für eine größere Führungsaufgabe. Sie kam zu mir und sagte: „Ich weiß nicht“. Und ich habe mir gesagt: „Jaja, das kenne ich schon. Jetzt muss ich ihr wieder drei Tage gut zureden.“ In dem Moment habe ich nicht wirklich ernst genommen, dass sie das nicht wollte. Und irgendwann zeichnete sich ab, sie will wirklich nicht. Das war ihr zu groß, zu viel, zu unübersichtlich in der Aufgabe, die sie machen sollte. Sie hat abgelehnt. Ich habe lange mit ihr gesprochen. Leider war sie sich nur begrenzt über die Konsequenzen im Klaren, die das zur Folge hatte. Plötzlich kriegte sie jemand anderes vor die Nase und musste damit umgehen. Das Ende vom Lied war, sie hat das Unternehmen verlassen. Ein echtes Versäumnis meinerseits, weil ich sie nicht ernst genommen habe in ihrem Anliegen. Zweitens sieht man junge Frauen, die stark versuchen, in ihrem Job Karriere zu machen und nach Rückkehr aus der Elternzeit ihre Prioritäten verschoben haben. Viele „gönnen“ sich nur das Minimum an Auszeit und man wundert sich, wie sie Job, Karriere und Familie unter einen Hut bekommen.
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FR: Ich würde nicht unbedingt von Trend sprechen. Aber es gibt eine politische Diskussion um die Ressource Frau als Arbeitskraft, als Wirtschaftsfaktor. Dann gibt es aber Abläufe, die sind einfach hanebüchen, was die Kinderversorgung oder das ganze soziale Umfeld betrifft. Wir merken auch, es gibt so etwas wie Torschlusspanik. Wenn das soziale Gefüge nicht da ist, Kinder aufzufangen, dann gibt es einen natürlichen Knick. Wenn die Frauen dann wieder in den Beruf zurückkommen, hat sich die Welt bereits 3-mal um die eigene Achse gedreht, fachlich und inhaltlich. Das ist der eine Punkt. Der andere ist, was trauen sich Frauen zu? Wo sagen sie, auch wenn sie nur eine 80%ige Sicherheit haben: „Das mache ich, ich habe es noch nicht ganz verstanden, aber ich mache es, ich probiere es.“
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KHF: Ich glaube, da sind Frauen zurückhaltender als Männer. Männer gehen eher nach dem Motto: „Das kriegen wir schon hin.“ Frauen sind vielleicht realistischer in der Einschätzung ihrer eigenen Fähigkeiten und offener im Umgang mit eigenen Defiziten. Was ja nicht heißt, dass sie’s nicht könnten. Sie sind sich bewusst darüber, dass sie noch nicht alles perfekt können. Ich führe hier viele Diskussionen mit Frauen über die Frage, ob sie das können oder wo sie noch Schwierigkeiten hätten. Männer haben hier ein völlig anderes Selbstverständnis.
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FR: Herr Feldmann, mir fällt nichts mehr ein. Ich bedanke mich ganz herzlich, auch für Ihre Offenheit, hoffe, es hat Ihnen auch ein bisschen Spaß gemacht.
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KHF: Ich fand das wirklich interessant. Das einzige ist, dass es aus dem Stegreif kommt. Ich beschäftige mich theoretisch nicht wirklich mit dem Thema. Aber solche Diskussionen sind natürlich gut, manche Dinge zu reflektieren. Ich merke es dann, wenn ich antworte und stocke. Dann geht gerade ein Gedankengang los: „Da war doch was? „Jetzt erzählst du es so, dabei hast du es doch vor drei Tagen noch ganz anders gesagt.“ [LACHT]
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FR: Aber das ist doch wunderbar, ich freue mich, dass es Ihnen auch ein bisschen Spaß gemacht hat. Ganz herzlichen Dank.
Das Interview führte Brigitte Fritschle
5.2 Ursula Kiel-Dixon
Ursula Kiel-Dixon ist zertifizierter Executive Coach/ Beraterin. Über 25 Jahre bei Thyssenkrupp u.a. als GF der Academy. Weitere Tätigkeiten als Leiterin der Auslandsorganisation sowie in den Bereichen Sales Strategy, Controlling und M & A. Sie lebte 14 Jahre in USA. Studium: Economics/ Business Administration. Beruf: Unternehmensentwicklung und Projektfinanzierung.
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FR: Vielen Dank, Frau Kiel-Dixon, für das Gespräch über Ihre authentische Führungserfahrung. Meine Frage an Sie: Wann hatten Sie das erste Mal Berührung mit Führung?
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UKD: Ich habe meine Eltern als Persönlichkeiten erlebt, die Verantwortung übernommen haben. Sie haben sich in ein politisches Amt wählen lassen, weil sie gestalten wollten. Es ging immer darum, Verantwortung zu übernehmen und zuzusehen, dass sich ein Zustand ändert. Das war mein erstes Erlebnis. Wenn ich in einer sozialen Gruppe war, hat mich schon interessiert: Wie gestaltet sich das Leben in dieser Gruppe? Mit vier Kindern in drei Jahren aufgewachsen, war immer soziales Leben um mich herum. Ich war die einzige, die erst auf die Realschule gegangen ist, alle anderen Geschwister machten sofort das Abitur. Ich bin zunächst auf eine Fachschule für Sozialpädagogik gegangen, um staatlich geprüfte Erzieherin zu werden.
Nach meinem Abschluss hatte ich das Bedürfnis, für mich alleine zu gestalten. Ich habe mir ein Jahr Auszeit genommen und bin in die USA gegangen. Ich wollte mich dort als Persönlichkeit weiterentwickeln, war Motherhelper, Babysitter. Dieses eine Jahr hat mir sehr viel innere Freiheit gegeben, mich ohne vorgedachte Konzepte weiterzuentwickeln. Schauen, was sich ergibt, Möglichkeiten ergreifen, wenn man sie sieht. Gleichzeitig habe ich festgestellt, dass ich in diesem anderen Kulturraum zu wenig wusste um gestalten zu können. Ich habe mit meinem Vater gesprochen, Direktor einer Berufsschule: Wie mache ich das jetzt? Erst mal nicht weiter im Berufsleben, sondern mehr Allgemeinbildung! Ich bin dann über die höhere Handelsschule, gymnasialer Zweig, zum Abitur gekommen. Ich war 5 Jahre älter als die anderen, war besonders motiviert und hatte mit Abstand das beste Abitur. Ich studierte Volkswirtschaftslehre in Tübingen. Im Anschluss habe ich mich für ein Stipendium in den USA beworben, um dort Economics zu studieren.
Und zum Thema Führung? In der Schule war ich Klassensprecherin, Schulsprecherin. An der Uni in Tübingen habe ich eine eigene Fachschafts-Initiative FIT gegründet, um neben den marxistischen, kommunistischen Splittergruppen eine Gruppe zu bilden, der es um Studienbedingungen ging. Ich war sowohl Fachschafts-Sprecherin als auch Mitglied im Studentenparlament. Da habe ich angefangen, mich an größere Gruppen heranzuwagen. Ich fand das sehr schwierig, von der Stimme her, von der Argumentation her, von der Menge der Menschen her, die man überzeugen musste in einer fast hasserfüllten Umgebung.
„Wenn du Verantwortung übernimmst, dann kannst du auch mitgestalten und man hat Wirkung“. Diese Wirkungsfähigkeit hat mich an der Führungsaufgabe interessiert. Ich wollte hinkriegen, dass ich länger in USA bleiben durfte und habe das auch geschafft! In dem Stipendiaten-Jahr habe ich ein Masters-Programm durchlaufen und bin de facto zu einem Ph.D.-Studienplatz zugelassen worden.
Das Ganze habe ich mir an der Uni Tübingen als Diplom mit Prädikat anerkennen lassen. Dann habe ich mir aber gedacht: „Jetzt guckst du mal, wie es sich so anfühlt, in einem Bewerberprozess in den USA zu sein.“ Ich hatte weniger als ein halbes Jahr im Doktorandenprogramm verbracht, bewarb mich aber trotzdem mutig für eine Assistent Professor Stelle. Ich schrieb Dr. Dixon, Dean of the College. Der suchte für die ausgeschriebene Stelle besonders Bewerbungen von Frauen. Ich habe mit unglaublicher Akribie einen Bewerbungsbrief geschrieben und meine Unterlagen zusammengestellt, was mir ein Gespräch in New York einbrachte, worauf ich unglaublich stolz war.
Ich wusste aber nicht, wie der normale Prozess hier eigentlich abläuft. Man musste nämlich an der Uni einen Vortrag halten. Ich war aber gerade erst mit meiner Dissertation gestartet. Ich habe den Vortrag gehalten, traf aber vor dem Vortrag diesen Professor Vernon J. Dixon. Der sagte: Das wird jetzt hart, das wird so und so ablaufen. Damit wurde die Vorbereitung des Scheiterns schon gelegt. Der Mensch faszinierte aber auch. Nun weggehen und den Versuch als Erfahrung verbuchen, oder plötzlich diesem Menschen zugewandt sein, der einen durch diese Situation begleitet hatte. Ich entschied mich spontan und intuitiv für das Zweite. Wir beschlossen noch in der Nacht, dass wir heiraten werden. Ich habe zwar nicht den Job gekriegt, aber den Mann dazu. Das hat mir die Chance gegeben, in den USA zu bleiben. Ich war jetzt verheiratet und durfte damit auch arbeiten. Dann habe ich mir überlegt: Jetzt ist hier ein Professor der Wirtschaftswissenschaften, der mich heiratet. Damit passte irgendwie die Dissertation nicht mehr. Ich musste sofort aus dieser Rolle raus.
Dann wieder ein Zufall! In diesen großen USA landete ich an diesem Abend einen Job nur 15 Minuten von mir entfernt. Mein Gesprächspartner wollte in den USA ein Büro aufmachen und sein Laboratory Automation System vertreiben. Über 5 Jahre habe ich für ihn das Geschäft aufgebaut. Ich habe immer Opportunitäten auf mich zukommen lassen und dann gesagt: „Why not?“
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FR: Ja, ich verstehe.
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UKD: Das Unternehmen wurde an HP verkauft. Ich hatte meine gerade 3 Monate alte Tochter und musste das erste Mal einen Job suchen – in den USA! Das war eine spannende Erfahrung. Sich arbeitslos zu melden, 146 Dollar alle 2 Wochen zu kriegen und zu denken: Das ist jetzt gut. Da sputet man sich unglaublich, wieder einen Job zu finden. Bin dann durch Umwege und Zufälle bei jemandem gelandet, der brauchte mich überhaupt nicht. Aber ich konnte ihn überzeugen, dass er mich braucht. Er war gerade an die Börse gegangen und es wäre doch ideal, für ihn Investor-Relations zu machen. Das hatte er noch nicht gehört. Auf jeden Fall habe ich mir einen Job zusammengezimmert und ihm verkauft, dass er mich einstellen sollte.
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FR: Opportunities!
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UKD: Ja, genau! Mein Ziel war aber, in die Projektfinanzierung zu kommen. Da hatte ich eine Führungspersönlichkeit kennen gelernt, Jeff Barnes, für mich eine unglaubliche Erfahrung, ein Vorbild an Führungskraft. Er hat mich angenommen und in einer Art und Weise gefördert, wovon ich ein Leben lang profitiert habe.
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FR: Was hat denn diese Führungspersönlichkeit ausgemacht?
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UKD: Der Auftritt! Eine schlanke, schicke Erscheinung, eloquent, zurückhaltend, eine Fähigkeit, in einer Verhandlung ein Pokerface zu machen. Und wir mussten „Shopping for Money on Wall Street“ machen, was ein einziger Verhandlungsmarathon war, um an Projekte, an Gaslieferverträge, an Finanzierungen, an Equity zu kommen. Das Unternehmen hatte eigentlich nichts, außer der Fähigkeit, zu verhandeln.
Verhandeln ist für mich Gestalten, Bewerten, Menschen mitnehmen und begeistern, dass sie „ja“ sagen. Das habe ich so wirkungsvoll miterlebt. Er hat mir das Vertrauen geschenkt, mich mitzunehmen. Ich war nicht deplatziert, sondern eine Person mit einer Aufgabe, so dass ich als Team-Mitglied angesehen war. Er hat mir Teilstücke gegeben, die ich dann weiter verhandeln sollte. Das war eine Mischung aus Vertrauen, Mitnahme, Vorbild und Teilaufgaben, an denen ich Erfahrungen sammeln durfte und für die ich dann verantwortlich wurde – richtiges Empowerment! Das hat mich später für Merger & Acquisitions eingenommen, Verhandlungen von schwierigen, komplexen Restrukturierungen. Diese Erfahrung hat dazu geführt, dass wir uns als Familie entschlossen nach Deutschland zu gehen. Ja, wir probieren mal Deutschland. Meine Tochter war gerade 5 Jahre alt, schauen wir, wie das geht. Mein Mann konnte ein Sabbatical an der Uni einlegen. Ich hatte in 2 Wochen 14 Bewerbungs-Interviews und habe mir Thyssen Krupp ausgewählt.
Ausschlaggebend war die Persönlichkeit des Leiters Controlling, die ausgesprochen wirkungsstark war. Nach der Übernahme von Hoesch ist er Vorstand bei Thyssen Krupp geworden. Als er den Konzern auf die Internationalisierungsstrategie eingeschworen hat, habe ich gespürt, das wird eine Aufgabe für mich. Unseren Vertrag haben wir dann in New York unterschrieben. Ich war in der Lage, meine internationale Erfahrung, vor allem meine Englisch-Kenntnisse beizutragen. Ich habe ihm überzeugend vermitteln können, dass ich sein Spezialist für Mergers & Acquisitions bin.
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FR: Ja, wunderbar …
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UKD: Ich habe direkt die Möglichkeiten für einen Einstieg bekommen: Unter meiner Leitung wurden bei Thyssen Krupp die Herstellung von Mobilkranen und die MAK-Dieselmotoren verkauft sowie der Kauf eines Stahlwerks betrieben. Dr. Middelmann war damals mein großer Förderer. Mit Herrn Dr. Cromme hat er mir das Vertrauen geschenkt. „Das machen Sie jetzt“! Aber ohne Erfolg wäre es nicht gegangen. Ich konnte mein Wissen zeigen, aber auch die Führungsrolle einnehmen. Wenn ich ein Projekt steuere, bedeutet das immer die Verantwortung fürs Ganze, für ein Ergebnis, und die Verpflichtung, jedes Teammitglied bestmöglich und ressourcenschonend einzusetzen, unter Zeitdruck! Diese Aufgaben finde ich spannend und dabei bin ich auch geblieben. Deshalb interessieren mich auch heute Teamstrukturen, Wirkungsfähigkeit von Teams und die Frage „wie wirkt der Mensch auf die Erreichung von Zielen im Unternehmen ein, und wie kann ich die Effektivität dieser Einwirkung zielgerichtet fördern?“ Prozesse müssen sein, ich muss erkennen, wie sich die Dinge verändern. Dennoch, auf irgendeinem Level entscheiden Menschen, wie ein Unternehmensziel zu erreichen ist, sie sind diejenigen, die kommunizieren und mitnehmen. Die Frage von Kommunikation und Mitnahme, von Motivation und Leistungsfähigkeit ist das, was ich spannend finde. Später hatte ich Positionen wie Direktorin M&A und Sales Strategy einmal bei der Nirosta, dann bei der Holding, die gegründet wurde, um alle Stainless-Aktivitäten zu bündeln.
Als ich das eine Weile gemacht hatte, hat man mich gefragt, ob ich die Auslandsorganisation von Thyssen Krupp leiten könnte. Dazu gehörten alle Konzernrepräsentanzen weltweit. Es hatte sich ergeben, dass der Gesamtkonzern Thyssen und Krupp auch ‚ge-merged‘ war. Man wusste, es gibt eine Thyssen- und eine Krupp-Hoesch-Auslandsorganisation. Meine Aufgabe war es, beide zusammenzuführen. Ich habe gefragt: “Was glauben Sie, was mich qualifiziert, was sind die Erwartungen, die Sie an mich haben?“ Die Antwort: Sie können kommunizieren und Sie können auch unbequeme Wahrheiten auf eine elegante Art und Weise in die Welt tragen, in Deutsch und in Englisch, und Sie haben ein Zahlenverständnis. Im Endeffekt müssen wir so und so viele Kosten sparen das innerhalb eines Jahres realisieren – fangen Sie an! Das habe ich dann mit großer Freude über 7 Jahre gemacht.
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FR: Ja, das waren Besitztümer.
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UKD: Das waren Fürstentümer! Ich habe die Ziele im vorgegebenen Rahmen erreicht. Damit hatte ich große Freiheiten in den unterschiedlichen Regionen regional-strategische Konferenzen zu begründen. Die Vorstände fanden das damals so spannend, dass sie alle mitkamen. Mit dieser hochkarätigen Besetzung, zusammen mit Führungskräften mit lokaler Erfahrung, konnte lokal den Leuten Gehör verschafft und die Unternehmensstrategie erläutert werden, die sonst vor Ort nicht ankam. Das war zu sehen, dass Kommunikation ein Schlüssel ist, um die Ziele auch wirkungsstark in ein Team zu tragen. Nur Papier reicht nicht aus. Es ist immer die Persönlichkeit, die Leidenschaft einer Person neben dem Talent zu reden, notwendig, um tolle Ideen zu vermitteln und Zielverfolgung zu motivieren. Es ist in meinen Augen diese Leidenschaft, die einer mitbringt, das Interesse, die Zugewandtheit zu Menschen, zu Regionen, zu Kulturen, zu Themen, zu Problemen.
Nach dieser Aufgabe bekam ich die Chance, bei Thyssen Krupp eine Academy zu gründen. E.ON hatte auch gerade eine gegründet. Das war en vogue. Keiner wusste genau, was ich da eigentlich machen sollte. Aber war jetzt etwas, was man machen musste. Wirklich auf der grünen Wiese zu gestalten: Ein toller Prozess!
In einem Unternehmen gibt es immer Phasen, wo sich Herausforderungen herauskristallisieren, die neue Lösungen brauchen. An diesem Lernprozess teilzunehmen und in einem Unternehmen zu ermöglichen, eine Plattform zu schaffen, zu reflektieren, zu denken, zu inspirieren, sich neu zu vernetzen über diese berühmten Silos hinweg, hin zu einer vernetzten Führungsmannschaft, das fand ich Klasse!
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FR: Phantastisch …
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UKD: Thyssen Krupp ist durch sehr bewegte Zeiten gegangen von fast „wohin mit dem Geld und wie kreieren wir Wachstumsstrategien?“ hin zu „Oh, nicht nur Sanierung, sondern Restrukturierung bis hin zur wirklichen Krise in 2008. Da wurde jeder, der 56 war, gefragt: Haben Sie mal über Altersteilzeit nachgedacht? – auch ich. Daran hatte ich überhaupt nicht gedacht. Ich dachte: „Jetzt muss ich noch 10 Jahre arbeiten – cool, was jetzt?“
So, da habe ich mich das erste Mal damit auseinandersetzen müssen, was das eigentlich heißt. Das hat sowohl für mich in mir selber, als auch in der eigentlichen Verhandlung ein Jahr gedauert. Ich habe einen 6-Jahresvertrag unterschrieben, 3 Jahre Vollzeit, 3 Jahre inaktive Phase, aber mit der Vertragsklausel, dass ich freiberuflich tätig sein darf. Das passte natürlich super! Ich war Geschäftsführerin der Thyssen Krupp Academy und habe mich dann als Executive Coach ausbilden lassen. Damit konnte ich direkt einsteigen in dieses völlig andere Leben.
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FR: Ist die Messlatte jetzt eine andere?
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UKD: Ja, genau. Ich bin jetzt verantwortlich für mein 1-Mann-Unternehmen und in der dritten Lebensphase angekommen. Ich teile das Leben zwischen 0 und 30, 30 und 60, jetzt ist 60 bis 90 dran. Meine Arbeit ist immer noch mit Business verknüpft.
Wenn ich aber meine, dass das, was ich jetzt verändere, fürs Leben halten soll, dann habe ich falsch gedacht. Nicht den Zustand stabilisieren, sondern die Fähigkeit, Veränderung zu ermöglichen und sich ihr zu stellen. Das ist eine Fähigkeit, die nicht unbedingt angeboren ist. Denn das bedeutet immer, aus der Komfortzone herauszugehen. Ich muss Risikofreude mitbringen, bevor ich einen Schritt in Unbekanntes tue.
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FR: Und eine Offenheit und nachhaltige Veränderungsfähigkeit zu haben, die ich auf einem anderen Niveau schwebend stabilisiere.
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UKD: Ja. Es kann eben auch schiefgehen. Risiko heißt eben auch not only good. Und was auch nicht alle wollen, ist Verantwortung zu übernehmen. Ich muss mich stärker dazu bekennen. In einer Gruppe kann ich mich irgendwie verstecken und darauf warten, dass ein Impuls auf mich zugeht. Da brauche ich das nicht.
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FR: Das ist mit Arbeit verbunden!
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UKD: Ja, das ist mehr als Arbeit, das ist richtig unangenehm. Man kann sich zwar einreden, das macht Spaß. Aber das macht nur Spaß, wenn man wirklich das Gefühl hat, ich kann hier auch Erfolg haben. Wenn das zu windig und zu risikoreich ist, dann ist das furchtbar anstrengend. Wenn ich Manager frage, die für Veränderungsprozesse verantwortlich zeichnen, finden die das nicht immer lustig. Und manchmal fragt man sich: Warum verdienen Manager so viel Geld? In gewisser Weise müssen sie das. Sie müssen teilweise unangenehme Aufgabe bewältigen, wo oft die Alleinverantwortung drückt, gerade, wenn‘s schiefgeht. Ich glorifiziere diesen Manager- und Führungsjob nicht.
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FR: Eine Zwischenbemerkung. In Deutschland werden Manager ja nicht mit Samthandschuhen angefasst. Da scheint jeglicher Respekt verloren gegangen zu sein.
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UKD: Ich glaube, dass sich in der Tat die verantwortliche Führungskraft loslösen muss von der Beurteilung von außen, die im Moment sehr hart ist. Das ist ja nicht ganz unverdient. Es hat Übertreibungen, Auswüchse, eine „Sowas steht mir einfach zu“-Kultur gegeben. Die größere Gefahr, die ich heute sehe, ist, dass man alles compliant macht, die Leute in ein Netz steckt, dass sie keine Atmungsfähigkeit, keine Gestaltungsmöglichkeit mehr haben. Das halte ich für die viel größere Gefahr, dass man sich nach allen Regeln der Kunst absichert, Verantwortung nicht mehr unterzeichnet, und dass noch mehr Mut dazu gehört, noch mitzugestalten. Die viel größere Gefahr ist, dass man Führungskräfte immer wieder ermutigen muss. Trotz aller Rechtsverfahren, die die Unternehmen quälen, wo man sehr hart vorgeht. Ich habe Kollegen, die in Rechtsverfahren verstrickt sind – das ist so erschreckend und furchtbar für die Person, für die Familien, dass ich da die größere Gefahr sehe. Diese Beurteilung kommt von außen, auch durch die Medien geschürt. Diese Position ist nicht nur von Neid getrieben, sondern auch von „Recht-haben-wollen“. Für eine gestalterische Aufgabe, die wir dringend brauchen, ist das behindernd. Gerade in Deutschland, wo wir so viele Probleme lösen müssen! Dazu sind Freiräume notwendig. Da wird im Moment Luft und Wasser abgegraben.
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FR: Ich verstehe, was Sie meinen. Das ist Strangulation aus einer ganz anderen Windrichtung.
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UKD: Da müssen auch die Politiker, die Staatsanwälte aufpassen, dass man nicht über das Ziel hinausschießt, was dem normalen Menschenverstand und der gefühlten Gerechtigkeit entgegen spricht. Und wir müssen aufpassen, dass wir uns den Raum weder in der Politik, noch in der Wirtschaft nehmen lassen, innovative Lösungen zu entwickeln, sonst werden wir als Deutschland abgehängt, weil wir ganz schnell zur Übertreibung neigen, die in anderen Ländern vielleicht nicht so ausgeprägt ist.
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FR: Ja, ich kann nachvollziehen, was Sie sagen, wenn ich z.B. bestimmte politische Entscheidungen, die eigentlich von Berlin aus kommen müssten, nach Karlsruhe verlagere …
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UKD: Oder nach Europa in gewisser Weise. Die Tendenz der Verantwortungsabgabe – ich will die Position, aber ich will mir die Finger nicht nass machen und ich lasse jeden anderen unterschreiben, nur mich selber nicht.
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FR: Darf ich das Thema Führung von einer anderen Seite betrachten? Wir haben ja auch das Thema Frauen – Sie sind eine der wenigen, die ich in diesem Zusammenhang getroffen habe.
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UKD: Leider! Aber das ist in einer Führungsposition so.
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FR: Und es ist ja nicht ganz einfach, ich bin angesprochen worden von einem Vorstand, der mich fragte: Können Sie mir das erklären? Ich konnte es ihm nicht erklären. Die Frage war, und das mag ein bisschen plakativ daherkommen, wenn ein junger Mann und eine junge Frau gefragt werden: Möchten Sie nicht die Position haben? – es geht um dieselbe Position – der junge Mann denkt vielleicht 20 Sekunden darüber nach, checkt vielleicht in Windeseile seine momentane Situation mit Frau, Familie oder wie auch immer, und sagt dann „Ja“. Die junge Frau überlegt: Ich müsste noch dies und jenes tun und das lernen und bin im Moment in ‘ner Phase, die … So, dieses zögerliche Verhalten – bitte, sehr plakativ – das hat diesen Vorstand total irritiert. Er sagt: Wir bieten die gleiche Chance, beide Seiten werden gut ausgebildet, beide Seiten kriegen Förderung, beide Seiten haben die gleichen Möglichkeiten, ob Mann oder Frau, keine Apartheid! Trotzdem erleben wir, dass junge Frauen sich nur bedingt fördern lassen, aber dann nicht in eine Führungsposition gehen, nicht mit der großen Bereitschaft. Wie ist das für Sie?
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UKD: Ich beobachte das auch und ich frage mich: „Wie kommt das?“ In der Tat beobachte ich mehr junge Frauen, die diese Reflektion, die Bescheidenheit, das Understatement, sich zu unterschätzen, dieses „O Gott, das kann ich ja noch gar nicht richtig“, „ich müsste das eigentlich richtig können, und erst dann kann ich mich der Situation stellen“ zeigen. Meine Meinung ist, dann lerne ich es eben on the job, wo ist der big deal? Vielleicht sagen wir bei einem Mädchen öfter mal: „Du, pass auf, wenn Du auf ‘ner Rutsche hochkletterst“, oder, wir halten ein Mädchen immer wieder an, stärker darüber nachzudenken, welche Konsequenz das jetzt haben wird: „Pass auf, mach Dich nicht schmutzig“ bis zu „runterfallen“ bis zu „kannst Du den Weg alleine gehen?“, „lern noch nicht jetzt Autofahren“, diese Behinderung, dieses Zögern, über Dinge nachzudenken. Unbewusst ist das immer noch in der Gesellschaft.
Das können wir nicht über eine Generation ablegen. Da sind wir als Frauen einfach reflektierter. Deshalb müssen Führungskräfte bei Frauen mehr Encouragement walten lassen und der Frau sagen: „Das können Sie“, „Sie stellen sich jetzt der Aufgabe, Sie haben die Führungsfähigkeit und das traue ich Ihnen zu, Sie werden das packen“. Diese bewusste Förderung ist immer noch notwendig. Wir kommen bis zur Stellvertreterposition und dann wird man recht brutal ausgebremst. Die Frau in der wirklich gestalterischen Führungsposition ist eine Bedrohung und wird auch in ganz großen Teilen der Corporate Culture noch als solche empfunden.
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FR: Warum?
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UKD: Das ist, glaube ich, eine Frage von: „Ich habe mich wahnsinnig angestrengt, es alleine hinzukriegen und ich möchte diese Position haben.“ Damit ist man automatisch Konkurrenz. Jetzt muss man natürlich schauen, welchen Konkurrenten schlägt man wie aus dem Feld, und dann ist die Frau mit ihrer Andersartigkeit, prononciert anders, in manchen Fällen immer noch der größere Feind. Man schätzt ihre Erfolge, aber die Art und Weise, sich gleichberechtigt mit Machtanspruch und Veränderungswillen darzustellen, ist so ungewohnt, dass man es eher nicht gerne hat. Ich habe das bis zuletzt so erfahren – nicht im theoretischen Konstrukt, nicht im Wollen, nicht in der Zielsetzung, die offiziell im Konzern herrscht. Aber in dem fast Geschlechter-Nahkampf. Es hat etwas damit zu tun, wie fähig bin ich als Mann wirklich, die Andersartigkeit, die eine Frau von ihrem Auftreten, von ihrer Sprache, von ihrem Führungsstil mitbringt, auszuhalten. Ich finde, wir haben in der Politik tolle Beispiele, wenn man sich daran gewöhnt hat, ja? Ich glaube, dass Angela Merkel den Frauen einen Riesengefallen getan hat, weil sie mit ihrer wissenschaftlichen Unaufgeregtheit und ihrem absolut ruhigen Machtinstinkt einfach macht, und mit einer unglaublichen Wirkungsstärke diesen total schwierigen Laden Europa und auch Deutschland nach vorne bringt. Sie schafft es auch mit einer superbunten Koalition und auch vorher schon mit einem sehr bunten Kabinett, wo sie demonstriert, dass sie Andersartigkeit schätzt. Die Politik ist für mich im Moment – und da hat Angela Merkel sehr zu beigetragen – ein Feld, wo sich zeigt, dass wir in unserer ganzen Andersartigkeit Beiträge leisten können.
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FR: Im Prinzip ja.
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UKD: So bunt ist das in den Unternehmen noch nicht. In der Politik hat sich das ergeben. Deshalb denke ich, es ist möglich, aber es ist total hartes Brot. Wir merken das auch an der harten Beurteilung gegenüber manchen Politikern. Man schaut sich das an wie früher einen Boxkampf und belegt es mit unsäglichen Vorurteilen. Die sind instinktiv in uns und noch nicht überwunden. Das wird dauern!
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FR: Ja, ich denke auch. Frau Merkel wirkt für mich in Teilen wie ein Mann …
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UKD: In ihrer unaufgeregten Machtsturheit?
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FR: Ja, absolut! Sie kriegt ja zig Kriege auf dem Tablett serviert, die sie alle links liegen lässt, da geht sie einfach dran vorbei. Ich glaube, das ist etwas, was uns auch helfen kann, wir sind ja zu schnell aufgeregt.
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UKD: Deshalb habe ich eben gesagt: Die Unaufgeregtheit der Angela Merkel ist vorbildlich. Wir sind ja teilweise nicht für die Führungspositionen geeignet, weil wir eben zu zögerlich und nachdenklich sind, zu übertrieben bescheiden im falschen Moment, wo Wagemut besser wäre, anstatt „da gehe ich ein Risiko ein, da werde ich vielleicht auch verprügelt.“ Das ist hart, wir sind nicht darauf vorbereitet. Es gibt Frauen, die über Sport gelernt haben, dass man mal einen auf die Mütze kriegt, dass es auch weh tut und dass man trotzdem wieder aufsteht. Mädels sind fleißig und dann kriegen sie Fleißkärtchen. Aber kein Mann möchte fleißig sein, das wäre eine echte Beschimpfung.
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FR: Wunderbar! Ich sage: „Ein Mann ist tüchtig und eine Frau ist fleißig.“
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UKD: Genau das ist es! Es gibt einen richtigen Leader und der andere ist Supporter. Frau Merkel ist für mich in ihrer Art, Führung anzunehmen, zu gestalten, das Machbare aus einer komplexen Situation rauszuholen, Vorbild.
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FR: Das würde ich gerne als Stichwort nehmen: Welche Empfehlungen würden Sie jungen Frauen geben? Sie haben schon eine ganze Menge gesagt, aber vielleicht ein Bisschen komprimiert?
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UKD: Früh anzufangen, das zu tun, was man mit Leidenschaft tut und sich nicht beirren lassen. Auch der scheinbar brotlosen Kunst nachgehen, wenn ich Talent mit Leidenschaft vermischen kann. Wer mit Leidenschaft arbeitet – siehe Angela Merkel – der arbeitet sich eigentlich nie tot, weil er seine Energie viel wirkungsstärker einsetzt und mit dem Erfolg vielleicht auch eine Adrenalin-Ausschüttung hat und einfach wirkungsstärker sein kann. Erkenne dein Talent und mache das mit Leidenschaft. Kümmere dich nicht darum, wie andere diese Chance bewerten. Du musst sie bewerten. Und dann mit Flexibilität mutig Opportunitäten sehen. Auch wenn‘s mal unbequem ist, ins Ausland gehen, eine andere Position einnehmen. Ich glaube, dass wir mindestens einen Unique Selling Point brauchen. Finde deine Besonderheit und nutze sie gnadenlos. Es gibt immer eine Nische, etwas das man besonders gut kann.
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FR: Eine besondere Fähigkeit, nicht?
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UKD: Eine besondere Fähigkeit! Die drei Sachen braucht man und dann einfach mit Mut machen. In meinen Augen lässt sich Familie drum herum organisieren. Das ist eine echte Management-Aufgabe. Ich habe immer gearbeitet. Und ich habe mir viel angehört, was ich für eine karrieregeile Rabenmutter bin. Für mich war es wichtig, Vertrauen und eine Beziehung zu meinem Kind zu haben. Man kann langfristig als Vorbild sehr wohl Wirkung auf seine Kinder haben und eben auch als Frau, die sich glücklich selbst verwirklicht. Klar muss ich entscheidende Augenblicke, z.B. die Abiturfeier auch in meinen Terminkalender unterbringen. Das verlangt die Zugewandtheit, die Achtung, die Achtsamkeit in meiner Umgebung, in meiner Familie. Aber wenn ich mir gegenüber achtsam bin, auch meine Wünsche erkenne und denen Zeit einräume, ob Sport, ob Sprache, ob Reisen, dann dient es auch der Familie, für die ich ebenfalls bewusst Zeit einräumen! Sobald ich merke, ich werde nur noch getrieben, mache ich einfach stopp. Sofort Bremse einlegen, nachdenken, etwas ändern. Das ist nicht von Anfang an der große Wurf. Das ist ein Stück für Stück, Opportunitäten sehen, Möglichkeiten ergreifen und sich eine Portion mehr zutrauen, als man heute möglich denkt.
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FR: Das ist ja alles möglich heute.
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UKD: Aber nicht zu denken, ich kann eine nächste Position nur nehmen, wenn ich schon alles „sehr gut“ habe, das denken Mädels ja, deswegen sind wir so superfleißig in der Schule, weil wir denken: Dann hat der Lehrer uns lieb – das ist Quatsch! Diesen zu perfekten Anspruch finde ich nicht dienlich.
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FR: Dann findet man Beachtung, ja?
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UKD: Ich studiere Menschen, die in irgendeiner Weise erfolgreich sind. Z.B. höre ich mir nach Möglichkeit jede Rede von Barack Obama in der Originalsprache an. Der Mann ist beeindrucken eloquent, nicht immer wirkungsstark, aber er kann begeistern. Also studiere ich, was ist es in dieser Rede. Auch Martin Luther King. Reden, die bewegen, die bemerke ich. Ich frage mich: Was macht die so beeindruckend, warum ist das jetzt so erfolgreich?
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FR: Das ist ja eher eine analytische Betrachtung.
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UKD: Ja, ja! Da schaue ich mir schon an, wo ist Erfolg? Ich orientiere mich nicht an Erfolglosen, sondern an denjenigen, die Erfolg haben. Das kann ein Sportler oder ein Unternehmer sein, oder im politischen Rahmen oder ein Schauspieler wie Robert Redford. Was macht den so erfolgreich, noch der Ehrgeiz, auch mit 70 oder 75 lernen zu wollen und seine Kunst auf die Spitze zu treiben. Wie schaffe ich es, beim Zuschauer Wirkung zu erzeugen, in dem ich völlig reduziert bin auf Nichtsprachlichkeit. So etwas finde ich spannend. Das Studium, wie ist einer aus welchen Gründen wirksam? Und dafür eine Achtsamkeit und Beobachtungsfähigkeit zu entwickeln.
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FR: Wie schafft es der andere, mich in seinen Bann zu ziehen? Ein schönes Beispiel!
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UKD: Das kann man völlig im Windschatten lernen und dann im Kleinen ausprobieren. Ich konnte anfangs nicht vor einem Studentenparlament reden mit 2000 wildgewordenen Studienkollegen. Also übe ich erst in der Klasse, dann in der Schulaula und dann immer weiter.
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FR: Ja, das heißt aber auch, ich respektiere meine Dimensionen. Ich berücksichtige und akzeptiere das und habe trotzdem den nächsten Schritt im Auge.
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UKD: So ist es gut auf ein Konzept gebracht. Wenn ich weiß, ich kann vieles, ich kann bewegen, bin innovativ, aber nicht der Mensch der lauten Worte vor großen Mengen, dann wähle ich andere Wege. Es wird einem mehr Respekt entgegengebracht, wenn man authentisch auftritt.
Ich glaube, dass man als Führungskraft irgendwann gelassen sein muss und auch loslassen muss. Das ist schwierig. Wenn ich es wirklich schaffe, diese innere Ruhe zu kriegen, die mich nicht mehr getrieben macht, sondern fasziniert, dann habe ich eine andere Ausstrahlung und Kraft. Man sollte sich die anschauen, die eine Ausstrahlung haben. Das sind meistens spannend ruhige Typen. Mandela ist aus dem Grunde ein Vorbild. Trotz dieser unsäglichen Pein hat er sein Gesicht behalten. Und im Auftritt ist er offen und fröhlich.
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FR: Das wäre fast ein Schlusswort. Ich habe noch eine Frage: Was sind Ihre Prinzipien? Was würden Sie der jungen Generation mitgeben?
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UKD: Was ich zu spät kapiert habe, was ich wünschte, es eher gelernt zu haben, wäre ein noch aufmerksameres Zuhören, ein stärkeres Abschalten des Sendemodus. Ich bin zu lange in dem Beratermodus gewesen. Ich dachte, wenn ich nur sende, dann ist das schon gut. Wenn ich stärker in der Coach-Rolle bin, stärker auf die Wirkungsfähigkeit der Teammitglieder baue, denen Raum einräumen, mehr Kreativität abnötigen kann, dann kriege ich letztendlich eine breitere Wissensbasis, die ich nutzen kann für die Zukunft. Was ich über die Zeit gelernt habe, ist noch mehr Zugewandtheit zu der Individualität und Stärke der Einzelnen, noch mehr Mut, ein Team aus einer Sammlung von Stärken zusammenzubauen und ein Motivieren, für eine Idee die Leidenschaft zu wecken, sich darum bemühen, für die nächste Etappe auch ein emotionales Ziel zu setzen, damit jede einzelne Person im Team weiß: „das kann ich beitragen“.
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FR: Damit hatten Sie sich eingereiht in die Vorstellung, die zumindest männliche Führungskräfte haben: Sie wissen‘s ja eigentlich, wozu braucht man dann ein Team?
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UKD: Ja ja, darin liegt viel Gefahr und viel Einsamkeit. A leader has to have followers! Ich würde mich heute stärker um das following kümmern. Da kommen plötzlich Fragen, wo ich wirklich sagen muss: Darauf bin ich nicht gekommen, wupps! Was Sie ja auch immer sagen, ich brauche unterschiedliche Perspektiven, weil mir Perspektiven den Blick aufs Ganze geben. Den kann ich nicht haben, wenn ich davon überzeugt bin, dass ich es schon weiß.
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FR: Und ich mache letztendlich stumm, wenn ich nur noch alleine denke und alleine meine Lösungsansätze proklamiere, weil ich davon überzeugt bin.
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UKD: Es war schön, sich mal so ausdrücken zu dürfen. Man denkt selten über sein Leben nach, nur manchmal, wenn man an bestimmte Knackpunkte kommt: 50 oder 60 werden. Das sind Zeitpunkte, wo man sagt: Huh, was ist das?
Ich sagte gestern zu einem Kollegen, jetzt bin ich in der Phase 60–90, darauf sagte er: Teil das nochmal in drei Teile. Wieso? Er: Zwischen 60 und 70 ist Go-go, zwischen 70 und 80 ist Slow-go und zwischen 80 und 90 ist No-go.
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FR: Das hört sich sehr schön an. Ich bedanke mich sehr für das interessante Gespräch!
Das Interview führte Brigitte Fritschle
5.3 Dr. Johannes von Schmettow
Dr. Johannes von Schmettow ist Berater bei Egon Zehnder und unterstützt seit fast 20 Jahren Unternehmer und Organisationen bei der Besetzung ihrer obersten Führungsebenen. Er war Deutschland-Geschäftsführer sowie Mitglied des globalen Vorstands von Egon Zehnder. Herr von Schmettow ist promovierter Mathematiker und lebt mit seiner Familie in Düsseldorf.
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BÖ: Herr von Schmettow, Sie sind in einem speziellen Beruf tätig. Meine erste Frage, wann sind Sie persönlich mit dem Thema Führung zum ersten Mal in Berührung gekommen.
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JvS: Bewusst zum ersten Mal, als ich vor meiner Egon-Zehnder-Zeit Projektleiter bei der Boston Consulting Group wurde. Dort wurden mir junge Consultants anvertraut und mir ist damals ansatzweise aufgegangen, was das bedeutet.
In diesen projektorientierten Unternehmen gibt es eine sehr differenzierte Führungsverantwortung: Sie haben Personen, die für die Karriere-Entscheidungen verantwortlich sind und Sie haben die Projektleiter. Man könnte sich als Projektleiter leicht herausziehen, wenn etwas nicht richtig funktioniert und den anderen sagen „der Berater ist nicht gut“, ohne dem Berater selbst Feedback zu geben. Und damit beendet man die Karriere des Betroffenen.
Und da ging mir erstmalig auf, wie unglaublich herausfordernd Führung ist. Wichtig ist, in der Führung ehrlich, authentisch und fair zu sein.
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BÖ: In welchem Alter waren Sie damals?
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JvS: Uralt (lacht). Ich bin mit 30 von der Uni gekommen, promoviert in einem komplizierten Fach, war sogar noch Post-Doc und kam dann zu der Strategieberatung. Und da fängt man unten an. Ich arbeitete für Projektleiter, die deutlich jünger als ich waren. Nach dreieinhalb Jahren bin ich dann selbst Projektleiter geworden.
Im Nachhinein denke ich, je älter man wird, desto schwieriger ist es, wenn man in eine Führungsrolle kommt.
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BÖ: Warum meinen Sie das?
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JvS: Je älter Sie werden, desto besser verstehen Sie die Welt. Desto schwerer fällt es auch, neue Dinge anzunehmen, weil man für alles schon eine Hypothese hat.
Und Führung ist etwas Neues, ein großes emotionales Thema, ein Sich-Einstellen auf die Menschen. Man kann sich eher zu einem natürlichen guten Leader entwickeln, wenn man früh damit angefangen hat.
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BÖ: Sie haben in einem Nebensatz erwähnt, dass Sie in einem komplizierten Fach promoviert haben.
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JvS: Ja, in Mathematik, über ein Thema der algebraischen Zahlentheorie. Anspruchsvoll, und es hat lange gedauert. Nach der Bundeswehr habe ich sechs Jahre zum Diplom und weitere drei Jahre für die Promotion gebraucht. Wenn ich die Mathematik aber schon in vier Jahren abgeschlossen hätte, wäre ich jetzt vielleicht Professor.
Ich bin somit relativ spät ins Berufsleben gegangen und das war eine komplizierte Zeit der Eingewöhnung.
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BÖ: Ja, das verstehe ich.
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JvS: In der Führung sind andere Menschen ja auch von einem abhängig. Ich habe kürzlich mit einem beeindruckenden Leader über das Thema Führung und Macht diskutiert. Seine Hauptaussage war: Als wirklicher Leader muss man Macht nicht nur annehmen, sondern lieben. Das ist brisant.
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BÖ: Da hätte ich auch eine unterschiedliche Position.
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JvS: Ich bin dazu noch nicht fertig mit meiner Meinungsbildung. Im Moment habe ich aber das Gefühl, da ist etwas Wahres dran. Wenn man Macht nur akzeptiert, fehlt etwas. Man muss sie insofern lieben, als man sagt: Ich habe die Verantwortung für andere und ich mache das auch gerne. Wenn das jedoch unter Schmerzen geschieht, dann wird man es nicht gut, nicht vollständig machen.
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BÖ: Ich würde einen Unterschied machen: Macht zu akzeptieren als Bestandteil sozialen Lebens und Macht zu lieben, um sie dadurch auch sehnsuchtsvoll zu erstreben, ist ja nicht das gleiche.
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JvS: Ich denke immer noch drüber nach.
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BÖ: Haben Sie Ihre Vorstellung zu Führung im Laufe der Zeit verändert?
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JvS: Ich bin seit 1998 bei Egon Zehnder, also beobachte ich diese Themen viele Jahre. Früher ist man eher in linearen Leadership-Strukturen aufgewachsen. Daher glaube ich, dass mit der Globalisierung, der Vernetzung innerhalb von Unternehmen, den technischen Möglichkeiten, die es gibt, Leadership in gewisser Weise natürlicher werden könnte. Viele sagen, es wird alles unmenschlicher. Das glaube ich nicht. Ich glaube, das Ganze kann ein bisschen menschlicher werden. Das ist auch eine Chance.
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BÖ: So, wie Sie das beschreiben, klingt ein positiv-optimistischer Grundton mit. Ist das eine persönliche Sichtweise, dass Sie der Zukunft, der wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Entwicklung positiv gegenüberstehen?
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JvS: Ich glaube, dass die Grundstimmung, ob die Welt besser oder schlechter wird, ganz tief in einem Menschen angelegt ist. Ich gehöre offenbar zu den Leuten, die glauben, die Welt wird im Grundsatz besser. Es gibt viele Leute, die sagen, es sei früher vieles besser gewesen. Aber ich habe das Gefühl, dass das eher der Einfluss des eigenen Alters ist. Man beginnt, die Vergangenheit zu verklären. Ich glaube, dass uns Technologie nicht nur produktiver, sondern auch glücklicher machen kann.
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BÖ: Ich frage nach einem Trend, der sich aus meiner Sicht in den Medien beobachten lässt. Nämlich den Trend, Führung deutlich negativer zu bewerten als früher. In einem Ausmaß, das für mich völlig unbekannt war und das ich nicht annähernd in dieser Deutlichkeit erlebt habe.
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JvS: Früher war Führung viel anerkannter. Wir kommen aus linearen Top-Down-Organisationen. Da gab es einen definierten Chef. Heutzutage geht es eher in Richtung einer vernetzten Organisation. Da haben wir zwar auch einen CEO. Aber der CEO muss viel mehr auf bestimmte Leute hören – das hätte er damals vielleicht auch sollen.
Aber jetzt ist er dazu gezwungen, um die Produktivität zu halten. Damit ist er aber als Leader angreifbarer, er ist nicht mehr der Generaldirektor. Und wenn er angreifbarer ist, dann gibt es natürlich auch mehr Akteure, die kläffen.
Es scheint also, dass Führung relativiert wird. In Wirklichkeit wird sie viel komplexer. Es gibt emotionale Führung, es gibt Themenführung und so weiter. Und es muss auch einen CEO geben, der die Dinge mehr oder weniger in der Hand hält. Aber das Führungsparadigma ist nicht mehr so eindeutig. Und wahrscheinlich wird es deswegen eher angegriffen. Das wirkt auf mich wie ein nachvollziehbarer Trend.
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BÖ: Und wenn Sie sagen, es muss immer einen CEO geben, der das Ganze in der Hand hat? Warum muss es das?
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JvS: Vor 30 Jahren gab es CEOs, die haben jeden Brief gelesen, der an ihr Unternehmen geschickt worden ist. So klappt das nicht mehr.
Wir bei Egon Zehnder haben auch einen globalen CEO. Der muss im Wesentlichen gut zuhören können. Er muss die richtigen Leute fragen und für Themen beauftragen. Aber es muss nicht derjenige sein, der jeden Vorgang genau kennt. Es muss auch nicht derjenige sein, der jeden Tag eine große Entscheidung trifft. Aber es muss jemand sein, der auf einer bestimmten Aggregationsebene weiß, was vor sich geht, wo er einen Impuls setzen oder einen Trend erkennen muss. Das meine ich mit „in der Hand halten“. Der moderne CEO ist also nicht mehr der Allwissende. Es ist jemand, der ein Gefühl für die Organisation haben muss. Die CEO-Rolle wandelt sich gerade durch die zunehmende innere und äußere Vernetzung. Aber es ist gut zu sehen, dass es immer wieder Leader gibt, die diese ausfüllen können.
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BÖ: Warum?
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JvS: Es ist eine hohe Kunst, Signale richtig zu hören. Weil in unserer nicht perfekten Welt dem CEO nicht alles mit der richtigen Lautstärke gesagt wird. Es gibt eine ganz komplexe Mischung von Rückkopplungen.
Es geht um das richtige Spüren und Hören, aber auch das gezielte Überhören von Signalen. Ein CEO bekommt ja unglaublich viele Beschwerden. Er bekommt von jedem gesagt, was alles nicht funktioniert. Er muss ein Gefühl dafür haben, ab welchem Zeitpunkt es nötig ist, sich um etwas zu kümmern. Vielfach sollte er sich um Manches aber nicht sofort kümmern. Gleichzeitig muss er deutlich machen, dass es ihm wichtig ist. Das heißt: „Ich verstehe Dich, ich werde mich der Sache annehmen, aber nicht unbedingt sofort.“ Es ist die Kunst, abgesehen von der Authentizität, das richtige Maß zu finden, das Thema aufzunehmen, nicht populistisch, aber auch nicht abgestumpft zu wirken. Kommunikation ist die zentrale Herausforderung für einen CEO.
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BÖ: Führung ist extrem schwer greifbar. Aber die Formen, in denen Führung sich konkret abspielt, sind ungeheuer weit.
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JvS: Stimmt.
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BÖ: Die Art und Weise, wie z.B. Wissenschaftler und Praktiker an den Führungsbegriff herangehen, unterscheidet sich deutlich. Wissenschaftler dröseln das Verständnis von Führung völlig auf. Praktiker nehmen eigene Erfahrungen und prüfen anhand dessen, was sie zu lernen haben. Sie leiten ab und haben eine starke Neigung zur Verallgemeinerung aufgrund eigener praktischer Erfahrungen.
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JvS: Praktische Erfahrungen sind durch nichts zu schlagen. Für Praktiker besteht aber auch die Gefahr, dass sie, wenn sie zum Beispiel häufiger in Turnarounds gewesen sind, diese Melodien am besten singen können und sie vielleicht auch zu schnell wiederholen.
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BÖ: Was Sie vorher angesprochen haben: Die Veränderung, in vernetzten Zusammenhängen wirken, integrieren, verknüpfen, gewichten, werten zu können, was muss man aufgreifen, wann ist es besser, in dem Moment zu überhören. Das sind Fähigkeiten, die früher gar nicht gesucht wurden.
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JvS: Und zur Kommunikation ist nicht nur entscheidend, was man überhört, sondern wie man es überhört. Das ist extrem von der Kultur des Umfeldes abhängig.
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BÖ: Haben Sie sich einmal mit dem Thema Milieu beschäftigt?
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JvS: Im Sinne von „soziales Milieu“?
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BÖ: Soziales Milieu. Seit 10 Jahren beschäftige ich mich mit dem Thema „Soziales Milieu“. In den letzten drei, vier Jahren habe ich einen richtigen Durchbruch erreicht, den ich mir vorher gar nicht vorgestellt habe. Ich war sehr stark sozialpsychologisch ausgerichtet, habe sehr viel Gruppendynamik- und Therapie-Erfahrung und stark im Business gearbeitet. Trotzdem waren meine Grundannahmen eher Individuum-bezogen. Der soziologische Milieu-Ansatz hat für mich eine Reihe von Erfahrungen deutlich gemacht. Ich reagiere darauf, weil Sie den Kulturbegriff verwendet haben. Ich sage: Kultur ist das eine, Milieu ist das andere.
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JvS: Sie meinen das Milieu, in dem jemand ist oder aus dem jemand kommt?
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BÖ: Ich meine drei Milieus.
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JvS: Welche sind das?
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BÖ: Ich verwende den Begriff Milieu in dreierlei Hinsicht. Aus welchem Milieu kommt jemand? Das ist bei Ihren Themenstellungen, die Sie in der Executive-Search haben, ein wichtiger Punkt. Das zweite ist: Was ist das aktuelle Umgebungs- oder Bezugsmilieu? Und das ist nicht nur Unternehmenskultur. Das können auch virtuell wahrgenommene oder gesuchte andere Personen sein. Und das dritte ist das Ziel-Milieu. Das ist ja gerade für Karriereentwicklung …
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JvS: … in das man als Mensch möchte?
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BÖ: Bei der Frage des Herkunftsmilieus: Wo komme ich her? Oder: Wovon wollte ich weg? Das sind psychologische Treiber, deren Dimension ich ziemlich intensiv erlebt habe.
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JvS: Ja. Wir erleben die genauso. Sehr interessant. Das ist mir in der Form nicht untergekommen. Ich weiß, dass wir das implizit mit anschauen. Aber die Kategorie ist interessant.
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BÖ: In den Milieus wird Führung völlig unterschiedlich wahrgenommen und bewertet. In dem gegenwärtigen Diskussionsverlauf gibt es aus bestimmten Milieukreisen eine Infragestellung von Führung, die es früher nicht gab.
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Nicht aus einem zukunftsorientierten, sondern eher so aus einem Protestmilieu. Wo die Glaubwürdigkeit in Frage gestellt wird. Es gibt ein zweites Milieu, das ist eher das Milieu der Wohlstandskinder. Die im Grunde genommen keinen Konsum, keine Karriere und Leistung oder Überleistung anstreben, sondern sich in einer Komfortzone wähnen und das Gefühl haben, da muss man nicht alles machen um zu leben, nur bestimmte Sachen. Von diesen Leuten geht ganz deutlich ein Trend dahin, Führung und Führungskarriere per se in Frage zu stellen. Die sagen: Das ist heute anders und ich will es auch anders. Und ich kann es mir auch anders leisten. Eine Protesthaltung, die darauf hingeht, dass Führung nicht notwendig ist.
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JvS: Oder, dass der Teil der Welt, in dem sie sich bewegen, keine Führung braucht. Das ist eher ein Abschotten, sich nicht dafür interessieren, wie bzw. was die Welt zusammenhält. Mit der Einschätzung, dass man eine eigene „Welt in der Welt“ sein kann. Biedermeiertum des 21. Jahrhunderts.
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BÖ: Das hat sicherlich mit den Wohlstandsverhältnissen zu tun. Und dass die Welt auch Selbstverwirklichungs-Dimensionen bereithält, die nicht erzwingen, in hierarchischen Verhältnissen zu leben.
Sie haben vorhin gesagt, dass Sie Führung nicht auf eine konzeptionelle oder praktische Figur reduzieren.
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JvS: Ja, genau. Das geht nicht.
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BÖ: Meine Frage dabei ist: Gibt es bestimmte Führungserfahrungen, wo Sie sagen würden, das waren eindrucksvolle Führungssituationen, aus denen Sie gelernt haben?
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JvS: Die häufigeren Beispiele sind leider die negativen, in denen man sieht, dass etwas nicht funktioniert. Ein häufiges Motiv, das ich immer wieder sehe, sind Leader, die kurzfristig mitreißen und beeindrucken, die aber mittel- bis langfristig nicht ganz authentisch sind, die nicht sie selbst sind in ihrer Rolle. Die verlieren ihr Gefolge oder desillusionieren es. Und das Team reagiert pragmatisch: „So ist unser Chef halt, wir kompensieren das jetzt, weil es keine andere Möglichkeit gibt.“ Ein Leader kann jedenfalls nur dann gut sein, wenn er Macht positiv annimmt.
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BÖ: Das war ein wichtiger Punkt, den Sie da angesprochen haben.
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JvS: Ja. Knapp vor dem „Lieben“. Aber deutlich in die Richtung. Das zweite ist: Menschen in der Vielfalt schätzen. Auch die Menschen, die man nicht ständig sonntags am Esstisch haben will. Ich weiß nicht, ob man diese Eigenschaft lernen kann. Es ist eine Art der Geduld, verbunden mit Fürsorge für die Menschen. Ich halte das für eine ganz große Eigenschaft von Leadern. Ich denke da zum Beispiel an den jetzigen Chairman von Egon Zehnder, Damien O’Brien. Bei Egon Zehnder gilt die Regel: Der Chairman wird von den Partnern gewählt. Es gab bisher nie einen Gegenkandidaten. Das ist aber dann mit Checks und Balances verbunden. Der Chairman muss immer im Gefühl haben, was die über 200 Partner denken und spüren, und muss dabei ständig gut hören können.
Er wiederum ernennt einen CEO. Der CEO hat das operative Sagen und sucht sich sein Team aus den Partnern. Was ich bei unserem Chairman gesehen habe, ist, wie er Themen aufnehmen kann und auch ernst nimmt, ohne dass er deswegen gleich agiert. Das wäre ja Hektik. Darum geht es nicht. Es geht um die Anerkennung und Wertschätzung von Menschen in ihrer Vielfalt, um Nachsicht bei Menschen mit Schwächen. Gerade auch mit Menschen, die bestimmte Dinge nicht gut machen, auf eine gewisse Weise wertschätzend und nachsichtig umzugehen, das ist eine ganz große Stärke.
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BÖ: Sie lösen bei mir ganz viele Assoziationen aus mit dem, was Sie sagen.
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JvS: Gerne.
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BÖ: Vor vielen Jahren las ich bei BMW in einem Ausbildungszentrum einen alten Goethe-Spruch. Da dachte ich: Donnerwetter. Als einen solchen Gruppen-Dynamiker habe ich Goethe ja bis dahin gar nicht wahrgenommen. Der Spruch war, wenn ich ihn richtig zitiere: „Wenn man die Menschen so nimmt, wie sie sind, macht man sie schlechter. Wenn man die Menschen so nimmt, wie sie sein könnten, macht man sie besser.“ Fand ich einen interessanten Spruch.
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JvS: Super. Das hat er schon alles gewusst. Das Ganze aber zu realisieren? Dabei muss man ja bei Dingen zuhören, bei denen man eigentlich widersprechen würde. Aber es gibt nur ganz wenige, bei denen ich das Gefühl habe, die können das.
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BÖ: Einen Sprung in der Fragestellung: Wenn Sie Führungskräfte auswählen, Top-Führungskräfte, CEOs, spielen dann bestimmte Führungsvorstellungen, bestimmte Kategorien eine Rolle, die Sie persönlich oder die Egon Zehnder hat?
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JvS: Ja natürlich. Wir haben Kategorien, eine Klassifizierung im komplexeren Sinne des Unternehmens. Und was von dem Leader erwartet wird. Danach wählen wir die Kandidaten aus, die wir vorstellen. Unser Klient fragt uns, und wenn wir sagen, es ist der Beste, kommt es vor, dass sie ihn einstellen. Das ist eine Riesenverantwortung für uns. Der Klient soll nicht denken, dass wir es uns leichtmachen. Es muss dann wirklich auch der Beste sein. Da spielt die Kultur eine Rolle und auch die Überlegung, ob eine Person integrierbar ist. Bei einem CEO kommt es ja auch darauf an, wie der Aufsichtsrat ihn in seiner Unterschiedlichkeit akzeptiert. Wenn es scheitert, dann oft aus kulturellen Gründen.
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BÖ: Wenn Sie an Ihre Familie denken, spielt da das Thema Führung eine Rolle?
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JvS: Da gehe ich noch einen Schritt zurück.
Zunächst mal muss man Führung auch zu Management abgrenzen. Management heißt: „Du machst dies und du machst das“. Man unterteilt eine Aufgabe in Unteraufgaben und sorgt dafür, dass das einzeln verdaubar ist. Führung bedeutet nicht, jemandem eine Aufgabe zu geben, sondern etwas auszulösen. Das Ganze verstärkt sich dann so, dass die Vision bei jemand anderem weiterwächst. In gewisser Weise ist das sehr schöpferisch. In professionellen Führungssituationen finden Sie ja eher nur relative Abhängigkeiten – in der Familie kann aber die Abhängigkeit vollständig, ganzheitlich sein, und dies sogar zeitlich unbegrenzt. Damit wird Führung im Familienzusammenhang zu einer ganz anderen Kategorie.
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BÖ: Ich kann nachvollziehen, was Sie sagen. Ich überlege mir, warum Sie die Themen auseinanderhalten.
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JvS: Das ist ein Schutzmechanismus.
Wenn ich mit jemandem über eine berufliche Situation spreche, das kann zum Beispiel ein CEO sein, der einen Kollegen braucht, oder jemand, der irgendwann CEO oder CFO wird, versuche ich, den Menschen zu verstehen, auch als Privatmenschen. Ich habe aber sehr viel Respekt davor. Ich versuche trotzdem jede Schwingung, die aus dem Privatleben in das Professionelle herüberkommt, zu verstehen. Wenn jemand privat ein unstetes persönliches Leben führt, dann hat das Auswirkungen auf den Beruf. Die Bereiche gehen ineinander über. Ich versuche, die gesamte menschliche Statik zu verstehen. Wenn jemand zum Beispiel ein guter CFO sein soll, dann kommt es darauf an, dass er sich technisch gut auskennt, dass er weiß, wie er sein Team aufbaut, dass er mit Analysten gut zurechtkommt.
Viele dieser Fähigkeiten lassen sich aus Verhaltensweisen der letzten 15 Jahre ableiten. Und man kann die Tiefen des privaten Lebens dadurch eher ausblenden. Die Alternative wäre, den privaten Bereich zu durchleuchten – mit 5 Prozent mehr Erkenntnis, aber mit dem Risiko eines gewaltigen Flurschadens auch durch Fehlinterpretationen.
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BÖ: Ich habe an dieser Stelle eine andere Auffassung. Ich würde zum Beispiel Führungskräfte, wenn ich den Privatbereich kenne, wesentlich besser einschätzen können. Der Zusatznutzen durch die Kenntnis familiärer Umstände, zum Beispiel der Persönlichkeit des Partners, liegt bei über 50 Prozent. Ich habe ein Vorgehen entwickelt, das für manche etwas befremdlich ist. Es gab eine ganze Reihe von Positionsbesetzungen und Kandidaten, die in die engere Auswahl kamen. Meine Empfehlung war: Machen Sie doch ein Abendessen und laden Sie die Ehefrau mit ein. Große Zurückhaltung bei diesen Themen. Frage: Was können Sie denn da sehen? Da können Sie doch nichts feststellen. Meine Antwort: „Ganz im Gegenteil. Da kann man jede Menge sehen.“ Eheleute stellen unter Umständen ein System dar. Man kann über die Merkmale des Systempartners eine ganze Menge an Rückschlüssen herausfinden, nicht immer mit 100-prozentiger Sicherheit. Aber man kann eine vorsichtige, umsichtige Hypothesentestung vornehmen und erfährt eine Menge über die Merkmale Souveränität und Selbstsicherheit.
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JvS: Da können Sie Recht haben. Aber wie bekomme ich das zusammen? Verhalten der Vergangenheit lässt Rückschlüsse auf das Verhalten der Zukunft zu, auch wenn private Gründe dafür im Dunkeln liegen mögen.
Es gibt also den großen privaten Bereich. Wenn ich die Familie ebenfalls kennen würde – der Partner reicht nicht –, könnte ich natürlich noch ganz andere Schlüsse ziehen. Die Herausforderung ist die Praktikabilität und die Interpretation. Soll man bei einer wichtigen Einstellung kurz vor Vertragsunterzeichnung ein gemeinsames Abendessen mit Partnern machen? Wenn man dann Disharmonie spürt bei dem anderen Paar, was bedeutet das genau? Was für eine Vorhersagekraft hat das für die zukünftige Zusammenarbeit?
Ein anderes Thema ist: Geht es einen etwas an? Wie transparent darf ein Mensch werden?
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BÖ: So habe ich Sie verstanden, dass das für Sie ein wichtiger Gesichtspunkt ist. Und ich habe bei Ihnen einen Wert gehört.
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JvS: Ja, Sie haben Recht, es ist wahrscheinlich ein Wert. Was geht mich das an? Was darf ich? Man muss damit anständig umgehen. Und wenn man diese Dinge systematisiert und ausrollt … wie kann man sichergehen, dass alle damit angemessen umgehen?
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BÖ: Wenn Sie heute jungen Nachwuchskräften eine Empfehlung geben würden, was ist da für Sie wichtig? Wenn jemand die Frage stellt: Was muss ich eigentlich tun, um ein guter, erfolgreicher Vorgesetzter zu sein, eine Top-Führungskraft, um gut führen zu können? Was muss ich lernen?
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JvS: Das erste ist: Man muss die Verantwortung und die Macht, die man hat, annehmen. Das zweite ist: Man muss die einem anvertrauten Menschen annehmen. Macht anzunehmen bedeutet die Verpflichtung, Entscheidungen zu fällen und zu wissen: Ich treffe die Entscheidung aus meiner Rolle heraus, aber ich treffe sie.
Ein dritter Punkt bezieht sich auf einen selbst: Man darf die Selbstreflexion nicht verlieren. Je weiter man nach oben kommt, desto schwieriger ist das. Desto versteckter und verzerrter sind die Signale, die man bekommt. Aber die Selbstreflektion darf nicht zu stark werden, sonst zweifelt man zu sehr an sich.
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BÖ: Ok. Wir waren ja bei der Fragestellung Ihrer Empfehlungen für jemanden, der nach oben schaut und Entwicklung vor sich hat.
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JvS: Ja. Die eine Empfehlung ist: Nimm die Macht an, die du erhältst. Die zweite ist: Suche in jedem deiner Gesprächspartner, die dir anvertraut sind, auch das, was du an dieser Person schätzt. Und das dritte ist: Vergiss dich selbst nicht in der ganzen Geschichte. Vergiss nicht über dich nachzudenken.
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BÖ: Sie haben eine mich schmunzelnd machende Art und Weise, Ihre eigene Reflexion zu betreiben. Sie sprechen das Thema an und während Sie es formulieren, beschreiben, sind Sie auf einer anderen Ebene in einem Kontrollmodus. Sie überprüfen nochmal und ergänzen, korrigieren oder machen Zusatzbemerkungen. Sie facettieren das deutlich.
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Eine ganz andere Frage: Was würden Sie sagen, was Menschen zum Thema Führung gerne erzählen und was sie vielleicht eher verschweigen?
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JvS: Was man gerne erzählt, ist, wozu man andere Menschen bewegt hat, wie man andere Menschen motiviert hat. Also Führung im Sinne der Führung von Menschen.
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BÖ: Also Erfolgsgeschichten!
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JvS: Aber was man verschweigt, ist der Preis dafür. Der ist manchmal schwierig zu erkennen. Ich bringe jemanden dazu, Höchstleistungen zu erbringen. Aber was hat das für Auswirkungen auf die Organisation? Die große Kunst der Führung besteht darin, dafür zu sorgen, dass die negativen Gegenkräfte sich so klein verteilen, dass es am Ende nicht dramatisch wird. Dann hat man plötzlich das ganze System eine Ebene höher gebracht. Sonst ist es ja ein Nullsummenspiel. Es heißt ja nicht, dass die Energie immer gleich ist. Es kann sogar sein, dass man die Kultur zerstört hat. Oder es gibt unsichtbare oder nicht sofort sichtbare Schäden. Also Erfolge der nächsten Jahre, die aber zu kulturellen Schäden über viele Jahre führen.
Ein Beispiel: Die Einführung eines starken Performance-orientierten Systems in einem Unternehmen bis hin zu einem Forced Ranking mit dem Ergebnis, dass man die schlechtesten 10 Prozent gehen lässt. Das Resultat kann eine niedrigere Loyalität auch der oberen 30 Prozent sein, die früher nie gegangen wären, jetzt aber eher auch einmal nach außen schauen. Das spürt man nicht so richtig. Das ist etwas Unsichtbares. Einerseits geht also die Qualität, die Performanceorientierung des Unternehmens hoch. Aber andererseits sinkt die Loyalität. Es kommt dann eher vor, dass manche Manager Business-Entscheidungen treffen mit dem Bewusstsein „Wer weiß, wo wir in ein paar Jahren stehen. Vielleicht bin ich dann schon weg.“
Wir erhalten also eine Abnahme der Präzision von Business-Entscheidungen durch eine geschäftsorientiertere Organisation. Man nimmt die Seele heraus und es wird nie nachweisbar sein, dass etwas schiefgelaufen ist.
Der Anspruch an eine Führungskraft müsste sein, ganzheitlich im Sinne des Unternehmers und des Unternehmens zu agieren. Es gibt einen wesentlichen Punkt, der sich durch das ganze Leadership-Paradigma zieht. Das ist die „Stille Post“. Jeder sagt dem nächsten etwas, und der hört irgendetwas. Er kann aber möglicherweise den Auftrag besser interpretieren, weil er näher am Thema ist, und nicht das tun soll, was der Chef ihm gesagt hat, sondern was der Chef gemeint hätte, wenn er alles gewusst hätte. Das heißt, man macht eigentlich, wenn es richtig ist, ein bisschen etwas Anderes, als das, was einem gesagt wurde. Der Chef wiederum muss das akzeptieren.
In dieser ganzen Kette ist jeder dafür verantwortlich, in seinem Kontext das Beste für das Unternehmen zu tun, also gewissermaßen ein Echo dessen, was einem gesagt wurde. Das machen aber viele nicht. Viele machen genau das, was ihnen gesagt wird. Jeder Leader muss aber in einem gewissen Rahmen formellen Ungehorsam begehen. Weiterhin muss er demjenigen, den er führt, nicht sagen: „Du musst A, B, C machen“ und erwarten, dass genau A, B, C gemacht wird, sondern dass der Betroffene es in seiner geeigneten Interpretation umsetzt.
Für mich ist das ein ganz wichtiger Punkt, der sich durch das ganze Thema Führung hindurch zieht. Dass jeder im Sinne des Unternehmens arbeiten muss.
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BÖ: Was Sie thematisieren, ist für mich Eigenverantwortung im Sinne des Ganzen.
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JvS: Ja. Auch, wenn es ein Widerspruch zu dem ist, was einem gesagt wird.
Ich habe mich kürzlich mit dem Aufsichtsratsvorsitzenden eines großen Unternehmens unterhalten. Wir haben darüber gesprochen, dass in einem Unternehmen eigentlich an jeder Stelle nur Dinge passieren, die falsch sind. Trotzdem geht das gesamte Unternehmen ungefähr in die richtige Richtung. Das hat man häufig. Es ist alles leicht falsch, was passiert. Jeder nimmt seinen Auftrag nicht ganz richtig wahr, jeder verhört sich, jeder sagt etwas leicht Falsches. Aber die Grundrichtung stimmt.
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BÖ: Wenn Sie an Beispiele von gutem Führungsverhalten denken, national oder international, auf der Top-Ebene oder darunter. Gibt es Erfahrungen, die Ihnen als bemerkenswerte Beispiele in Erinnerung geblieben sind?
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JvS: Tja, ich finde, es geht immer alles so menschlich und weltlich zu. Ich sehe nur wenige richtige Helden, bei denen ich jetzt sagen könnte, da hat einer etwas ganz Großartiges gemacht. Es ist auch nicht so, dass jetzt überall nur der Abgrund lauert. Ich glaube, die meisten Leader sind ganz anständig. Es gibt aber Unternehmensführer, die einen enormen Wertzuwachs geschaffen oder die Kultur komplett geändert haben. Steve Jobs ist ein Beispiel. Aber würde ich so jemanden als gutes Beispiel nennen? Es gibt ja andere Dinge, die er vielleicht nicht richtiggemacht hat, zum Beispiel wie er offenbar mit seinen Teams umgegangen ist.
Ich weiß nicht, ob ich übermäßig kritisch bin. Ich sehe bei jedem Leader, den ich in gewisser Weise bewundere, auch wieder Schwächen – Dinge, die vielleicht nicht uneingeschränkt richtig gelaufen sind, wo das Umfeld kompensiert hat. Und ich sehe unglaublich viel Glück. Dass jemand Freiheitsgrade hatte, riskante aber richtige Dinge zu tun, dass er einen Shareholder hatte, der ihm vertraut hat. Dass sie ein geduldiges Team hatten, das in bestimmten Situationen Schwächen kompensiert hat.
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BÖ: Sie wirken sehr nachdenklich.
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JVS: Ich versuche Leadership zu verstehen. Es ist fast unmöglich, dem Thema gerecht zu werden. Jeder kann beliebig schnell irgendwelche plumpen Schlüsse ziehen. Aber das hilft nicht.
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BÖ: Absolut, das merke ich! Es ist auch schwierig. Ich selbst habe vor ca. 25 Jahren mein erstes Buch geschrieben, ein Buch über Führung! Ich würde es heute so nicht mehr schreiben.
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JvS: Weil Sie viel weiser sind. Sie wissen heute relativ gesehen aber weniger als damals. Interessantes Paradoxon, nicht wahr?
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BÖ: Ja. Der Eindruck ist richtig. Ich finde das Thema „Führung“ extrem spannend, obwohl ich mich so lange damit beschäftige und finde nicht, dass ich an dieser Stelle das Universum bis in jeden Winkel erkundet habe.
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JvS: Es gibt noch ein wichtiges Element:
Der Zauber, der zwischen demjenigen, der führt und denen, die geführt werden, entsteht. Aber es ist mehr, als dass die Menschen spüren, der erkennt uns an. Das ist etwas ganz Besonderes.
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BÖ: Es ist nicht allein die Aufgabe. Es ist die Aufgabe plus eine besondere Art der Beziehung. Die stimuliert, die mitnimmt und die Vertrauen schafft und Leidenschaft aufbaut. Das ist für mein Studium der Menschen aufschlussreich.
Mich würde interessieren, welches Führungsverständnis Sie bei Egon Zehnder praktizieren?
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JvS: Ich habe ja unterschiedliche Führungsrollen gehabt. Und alle unsere Führungsrollen sind nur temporäre Zusatzaufgaben; man ist bei uns in der Hauptrolle immer Berater und in der Klientenarbeit. Genau das war auch mein Anspruch, als ich gleichzeitig Deutschland-Geschäftsführer und im globalen Executive Committee von Egon Zehnder war.
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BÖ: Das kann ich nachvollziehen.
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JvS: Sie haben einen spannenden Job, Sie dürfen in alles hineingehen. Ich habe selbst eine Zeitlang Supervision gemacht. Da habe ich schon gemerkt, wie tief das gehen kann und wie behutsam man sein muss. Aber auf der anderen Seite können wir mit unseren Klienten auch gut über Leadership-Themen, über Business, über Organisationen sprechen, weil bei uns auch viele ehemalige Strategieberater arbeiten, die diese Kompetenzen mitbringen. Aber wir sind keine Psychologen.
Sie haben sicher gemerkt, mir macht das Thema und das Gespräch Spaß. Ich will Führung verstehen, wie Sie auch. Und ich möchte auch Menschen verstehen.
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BÖ: Herr von Schmettow, ich darf mich ganz herzlich bei Ihnen bedanken.
Das Interview führte Dr. Uwe Böning
5.4 Ludger de la Chevallerie
Ludger de la Chevallerie, geb. 03.05.1956, Studium Rechtswissenschaften und BWL. Rechtsanwalt seit 1983. 1986 Ruhrgas, Leitung Technologiemanagement/Kooperationen. 1991 Roland Berger, Leitung Competence-Center Energie & Umwelt, Mitglied der GL, 1999 Veba Oel, Direktor und BL Unternehmensentwicklung. 2002 BP, Vice President and Managing Director. 2008 Wirtschaftsanwalt, Partner VRT Wirtschaftsprüfer, Steuerberater, Rechtsanwälte, Schwerpunkte: M&A, Unternehmensstrategie und-restrukturierung, Organberatung/-wahrnehmung.
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BÖ: Herr de la Chevallerie, unser Thema ist Führung und Ihr Führungsverständnis.
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LC: Wenn ich einen Schnitt über meine verschiedenen Führungssituationen mache, würde ich das zusammengefasst am ehesten als kooperativ-situativ beschreiben. Mein berufliches Umfeld hat mich in unterschiedlichen Situationen mit Teams zusammengeführt, innerhalb von Unternehmen zwischen verschiedenen Funktionen und Disziplinen sowie unternehmensübergreifend zum Beispiel zwischen Dienstleister und Kunden. Bedingungen und Anforderungen waren jeweils sehr unterschiedlich. Ich musste mein Verhalten anpassen, eben situativ vorgehen.
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BÖ: Etwas aus der Zeit des Beginns Ihrer Führungserfahrungen?
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LC: Nach ersten kaufmännisch und juristisch orientierten Schritten war das Technologie-Management eines Konzerns meine erste Herausforderung. Es ging u.a. darum, technisch, ökonomisch und in der organisations- oder lizenzmäßigen Umsetzung alle Beteiligten zusammenzuführen. Das waren Ingenieure, Kaufleute und Verhandler, die zu einem Ergebnis zu bringen waren. Das Arbeiten mit engagierten Teammitgliedern, das sich damals schnell auf die europäische Ebene und verschiedene Kulturen ausdehnte, war anregend und prägend. Ein Turbo für meine persönliche Erfahrung, aus wie vielen Blickwinkeln man ein und dieselbe Sache betrachten kann und wie hieraus entstehende Konflikte gelöst werden können.
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BÖ: Wie ging es weiter?
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LC: Die Erfahrungsbreite hat sich durch Tätigkeiten und Wechsel von Industrie in die Beratung und wieder die Industrie schnell vergrößert. Das Arbeiten in verschiedenen Funktionen und Unternehmen, mit ganz unterschiedlichen Menschen und Aufgaben hat einfach Freude gemacht und tut es weiterhin.
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BÖ: Wenn wir im Thema Führung noch einmal zum Beginn zurückkommen: Wann haben Sie das erste Mal über Führung nachgedacht?
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LC: Interessante Frage … Zunächst beginnt das Thema Führung wohl für jede Person nicht damit, dass sie führt, sondern dass sie geführt wird. Wenn man das Thema so begreift, muss ich sagen: Als Kind. Wenn die Eltern gesagt haben: „Du musst jetzt dies und das tun.“ Dann habe ich mich gefragt: „Warum eigentlich, was sagt mir eigentlich, dass das richtig oder besser ist?“
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BÖ: Fällt Ihnen hierzu ein Beispiel ein?
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LC: Ich bin in Berlin aufgewachsen. Damals gab es noch viel Schnee in der Stadt. Nach der Schule wollte ich Schlittenfahren, sollte dieses aber nur recht begrenzte Zeit von einer Stunde o.Ä. tun, da es kalt sei, die Kleidung schnell nass würde und eine Erkältung wahrscheinlich sei. Natürlich habe ich mich nicht darangehalten. Natürlich war die Kleidung klitschnass. Wir sind dann mehrere Stunden Schlitten gefahren bis es dunkel wurde. Dann kam ich nach Hause und wurde in die warme Badewanne gesetzt. Damit war eigentlich alles wieder gut. Trotzdem wurde Ritual und Begründung beibehalten, natürlich aus Sorge, dass ich krank werden könne. Ich wurde aber nicht krank.
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BÖ: Wie alt waren Sie, als Sie darüber nachgedacht haben?
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LC: Das weiß ich natürlich nicht genau, aber irgendwann im Übergang zwischen Grundschule und Gymnasium, also etwa 10 Jahre alt.
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BÖ: Das war ja relativ früh, dass Sie sich mit diesen Themen direkt auseinandergesetzt haben.
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LC: Naja, ich bin nun ein wenig amüsiert und habe das sicherlich nicht als Teil einer „Führungsdiskussion“ gesehen. Aber ich denke, die meisten, wenn nicht alle Kinder sehen sich irgendwann in der Situation, wo sie nicht nur Widerstand proben, sondern fragen: Was soll das eigentlich?
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BÖ: So, wie ich die Frage verstehe, geht es um die Auseinandersetzung mit der Autorität.
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LC: Natürlich, mit Autorität und Anleitung auf der einen Seite und auf der anderen Seite inhaltlich mit der Frage, was denn eigentlich richtig ist. Ich wollte damals natürlich auch nicht krank werden. Aber man fragt sich schon: „Warum darfst Du nicht unter der Bettdecke lesen, sind wirklich geschädigte Augen die Folge“ und all´ diese Dinge und Argumente, die wir alle als Kinder kennengelernt haben.
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BÖ: Ist das die Frage nach der Richtigkeit, warum?
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LC: Ja, wir sprechen jetzt natürlich nur über einen Teilaspekt des Gesamtthemas, da wir hier einem konkreten Beispiel nachgehen. Wesentlich ist, dass diese „Richtigkeit“ etwas mit – für mich für unser Thema sehr wichtiger – eigenständiger Wahrnehmung, Erkenntnis, Einsicht usw. sowie deren Vermittlung zu tun hat. Insgesamt haben die Eltern da wohl keinen schlechten Job gemacht. Denn es gab den Raum, seine eigenen Dinge zu entwickeln, zu hinterfragen etc.
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BÖ: Wenn Sie sagen, das waren die ersten Auseinandersetzungen mit dem Thema „Führung“ und wenn Sie die Spanne Ihrer Lebens- und Berufserfahrung betrachten, wie hat sich die Auseinandersetzung mit dem Thema Führung weiterentwickelt?
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LC: Wie bereits gesagt, kam im beruflichen Sektor das Thema Führung erst mit meinem Eintritt in die Industrie auf. Im Studium habe ich wenig persönliche Führung empfunden. Es gab schon eine fachliche Anleitung und fachliche Auseinandersetzung. In diesem Sinne habe ich auch Führung im freiberuflichen Bereich einer Wirtschaftskanzlei nicht kennengelernt, sondern erst mit der Eingliederung in einen größeren Apparat eines Industrieunternehmens bzw. –konzerns.
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BÖ: Was bedeutete das für Sie persönlich?
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LC: Nun ja, es gab Hierarchien, Leitungsebenen und –spannen, es gab ein Organigramm, es gab Zuständigkeitsverteilungen, Zeichenlisten etc. Ich war als ein Baustein eingebunden in die Ressort- und Bereichsorganisation. Allerdings hatte unser Aufgabenbereich sowohl strategische wie operative Funktion und sollte über die eigene Unternehmensgrenze hinaus im Querschnitt wirken. Das bedeutete, Arbeiten in teilweise schwach strukturierten, neuen Arbeitsfeldern, Führung nicht durch Anweisung, sondern durch Überzeugung. Erweitern über die formale Unternehmensgrenze hinaus, Führung darüber hinaus. Aber das ist gerade das, was anregt und Freude macht.
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BÖ: Gerade wollte ich es sagen: Das ist doch etwas, was Sie reizt, das schwer Greifbare zu strukturieren und zu gestalten.
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LC: Genau.
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BÖ: Wenn Sie die weiteren Stationen mit einem großen Bogen aus der Jugend über die Kanzlei, über den Sprung in die Industrie großräumig beschreiben, wenn Sie diesen Bogen weiterschlagen zu heute, was würden Sie zu den wichtigen Erfahrungen in all‘ den Jahren sagen?
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LC: Nach der mehrjährigen Industrieerfahrung bin ich der Beratungswelt erlegen, weil ich dachte: Das ist noch spannender, die tägliche Arbeitsumgebung wird noch interessanter. Wenn man als Quereinsteiger in die Beratung geht, ist man ja erfahrener und wird schnell Projektleiter. So hatte ich innerhalb kurzer Zeit in einer für mich neuen Umgebung meine Teams zu führen.
Wenn es zuvor in meiner Arbeitsumgebung den eher klassisch geprägten Ingenieur oder den klassischen Kaufmann gab, kamen jetzt noch ganz andere Disziplinen mit vielfältigen Erfahrungen zusammen: vom Sozialwissenschaftler über den Nuklearphysiker bis zum Musiker und Komponisten. Die Welt war auf einmal sehr bunt und in ihrer Vielfalt für die praktische Projektführung sehr anspruchsvoll. Denn die Projektzielsetzungen mussten vermittelt und verstanden sowie effizient in Projektschritte und -bearbeitungen umgesetzt werden.
Gleichzeitig galt es, aus der Vielfalt und den unterschiedlichen Betrachtungswinkeln das Beste zu machen, Raum für Kreativität, Nachdenken und alternative Überlegungen zu geben. Dabei beschränkte sich die Führung nicht nur auf die eigenen Teamkollegen, sondern bezog in zunehmendem Maße Mitarbeiter der Kunden mit ein. Nochmals eine Überschreitung klassischer Grenzen, spannende Führungsaufgabe mit unmittelbarer Verantwortung für das Ergebnis. Dieses mit Teamkollegen, die schon aufgrund unterschiedlicher Ausgangssituation nicht einheitlich zu motivieren waren. Vor dem Hintergrund der Kundengruppen vom Industrieunternehmen bis zur NGO, der Aufgabenvielfalt meines Kompetenz-Centers Energie und Umwelt sowie der jeweiligen Länder/Kulturen gäbe es einiges zu rekapitulieren.
Aber ein wesentliches Resümee aus dieser Zeit für mich: Ohne klare Zielsetzung, Commitment des Teams sowie Raum für Kreativität und Folgecheck kein Erfolg. Führung muss die Voraussetzungen dafür schaffen.
Führung danach wieder in der Industrie – Sie kennen ja selbst die Welt der Unternehmensgruppe, das war im Einzelnen deutlich unterschiedlich. Zum Teil sehr persönlich, selbst wenn das nicht alle Leute so sahen. Ich empfand z.B. meinen damaligen Vorstandsvorsitzenden als äußerst angenehm.
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BÖ: Da teilen wir etwas.
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LC: Auch das haben natürlich nicht alle so gesehen, aber das ist ja das Spannende an der Führung. In Erinnerung habe ich die an ihn gestellte Frage, wie das so mit dem Kontakt zu seinen Mitarbeitern sei. Da sagte er: „Ich habe die Tür ja immer offen, da kann jeder hereinkommen, nach dem Motto: Kommt doch einfach“, und dann kam die Replik seitens des Mitarbeiters: „Na ja, wenn bei einem Tigerkäfig die Tür offen ist, gehe ich auch nicht ´rein.“
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BÖ: Genau, das kenne ich. Das hat er auch bei seiner Verabschiedung erzählt.
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LC: Man verändert sich natürlich auch im Laufe der Jahre selbst und wirkt anders ein: So gelte ich in meinem heutigen Umfeld als Pragmatiker, weil wir nach intensiven Diskussionen auch sogenannte bewährte Lösungswege abändern oder Prozesse umgestalten und mit Neuem bewusst experimentieren. Das setzt Kräfte frei und bringt manche Überraschung, die zunächst nicht in das System passt oder zu passen scheint. Wirklich herausfordernd und spannend, verschiedene Wege zum Ziel zu suchen und zu testen. Zu ergänzen ist aber, dass ich einem „sogenannten Pragmatismus“ durchaus skeptisch gegenüberstehe, wann er denn einsetzt und wozu er gebraucht und aus meiner Sicht häufiger auch missbraucht wird.
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BÖ: Wenn Sie das so anstreichen, möchte ich Sie fragen: Gibt es eine Geschichte, die Sie in diesem Zusammenhang spontan erinnern? Geschichten und Erfahrungen in der Organisation von Vertrauen, Misstrauen, Vorbehalten, von geringer Transparenz der Organisationsabläufe, des Entscheidungsverhaltens. Gibt es Personen, die Ihnen in ihrem Führungsverhalten in einer besonders markanten Weise in Erinnerung geblieben sind, die für Sie wichtig waren?
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LC: Ja, die gibt es. Die Geschichte betraf Grundsatzentscheidungen bezüglich eines großen Unternehmensbereiches, der sich – vereinfacht gesagt – als eine Art Sammeltopf ganz unterschiedlicher Geschäfte entwickelt hatte. Sowohl die Passigkeit der einzelnen Teilgeschäfte wie die des gesamten Bereiches stand in Frage. Um es kurz zu machen: die Strategie und Umsetzungsentscheidungen wechselten je nach aktuellem Halbjahresergebnis und sogenannten „Opportunitäten“ in den Teilmärkten. Bevor ein Entscheidungsprogramm seine Wirkung entfalten konnte, wurde es bereits durch das nächste verändert. Im Ergebnis gab es keine Linie, letztes Vertrauen wurde verspielt. Es dauerte nur einige Zeit, bis der Bereich vollends zerfledderte.
Zu Ihrer zweiten Frage hinsichtlich Führung und für mich wichtige Personen: Mich hat beeindruckt, wenn jemand mit hoher persönlicher Präsenz uns/mich an seinen Gedanken beteiligt hat und sich um deren Verdeutlichung bemüht und Gespräche geführt hat. Das haben insbesondere drei, vier der Führungspersonen in meinem Umfeld getan. Ohne dass ich einzelne Namen nenne, indem sie auch sehr persönliche Einschätzungen mitgeteilt haben, versuchten, die zugrundeliegenden Motive und Ziele klar herauszuarbeiten, so dass eine gemeinsame Arbeitsbasis entstand. Zusammengefasst zu diesem Aspekt: Führen durch Gesprächsführung. Wenn das auch in Stresssituationen Bestand hatte, war Verlässlichkeit und Vertrauen gesichert.
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BÖ: Führung durch Gesprächs- und Gedankenführung, so verstehe ich Ihre Beschreibung.
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LC: Richtig. Gerade vorgestern ist mir passiert, dass jemand sagte, das müsse nur noch formuliert werden“. Manchmal geht es in der Tat um Formulierungen. Man sucht nach dem besten Ausdruck, aber häufig ist es anders: Es wurde einfach nicht genug gedacht, nicht wirklich durchkonstruiert und zu Ende gedacht – und jetzt fehlen nur die Worte …
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BÖ: Darf ich Ihnen sagen, was ich mir über Sie gerade notiert habe? „Neigung zur scharfen, strukturierenden Argumentation.“ Wenn ich Ihnen zuhöre, dann fällt mir auf, dass Sie sehr argumentativ ableitend strukturieren und versuchen, so weit wie möglich Konsistenz in dem, was Sie überlegen oder aussagen, herzustellen.
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LC: Na, da haben wir ja gute Lehrmeister gehabt.
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BÖ: Wenn Sie an Erfahrungen mit Führungskräften denken, die Verantwortung für Organisationen und Menschen hatten, wie die Leute gesteuert wurden. Ist Führung heute in ähnlicher Weise zu begreifen, individuell und wesentlich verändert? Hat sich im Laufe der Jahre etwas wahrnehmbar verändert?
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LC: Ich kann die Frage so absolut nicht eindeutig beantworten, weil ich selbst so viele Blickwechsel unternommen habe. Ich habe mich verändert, meine Umgebung hat sich verändert, meine Rollen haben sich verändert. Das wäre vielleicht anders, wenn ich 20 Jahre in einem Unternehmen gewesen wäre.
Wenn ich aktuell an mir bekannte Unternehmen denke, sehe ich jemanden, der natürliche Autorität ausstrahlt und ohne Machtgehabe sehr gut, sehr feinfühlig agiert und auch so bei seiner Mannschaft ankommt. Ebenso erinnere ich jemanden, der auch heute noch nach alter Gutsherren Sitte verfährt. Da werden Mitarbeiter zitiert, runtergeputzt, dass sie unter der Türkante durchlaufen – wo ich mich frage, warum diese noch im Unternehmen sind. Also – leider – die ganze bekannte Bandbreite der Realität.
Was vergleichsweise neu ist, das würde ich mit den beiden Begriffen Schnelligkeit und einer gewissen Desorientierung belegen. Man kann auch „positiv“ sagen: Komplexität. Aber ich glaube, Desorientierung trifft es besser:
Da fluten so viele Dinge auf einmal an einen heran. Man stellt fest, schon wieder so viele Nachrichten in der letzten Stunde. Ich glaube, dass die Zunahme der Daumenmuskulatur schon in Kilotonnen zu bemessen ist. Ich sitze in Meetings, und dann fließen die Nachrichten sofort ein, unkontrolliert. Da sitzen zehn Leute zusammen, besprechen ein Thema und auf einmal kommt etwas hereingeflattert.
Und warum sage ich Desorientierung? Weil das, was durch diese Kommunikationskanäle vermittelt wird, sofort als wahr gilt. Dann sagen einige durchaus: „Hold on, hold on, stimmt das denn überhaupt, ist das denn überhaupt der richtige Kontext, ist das denn überhaupt nachvollziehbar interpretiert?“ Nein, es wird sofort als Tatsache wahrgenommen, was auf dem Tablet oder Smartphone erscheint, aktuell, mit passenden Aussagen und Statistiken.
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BÖ: Es hat zumindest direkte Geltungswirklichkeit.
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LC: Auch sehr intelligente Leute tendieren dazu, darauf hereinzufallen. Diese Omnipräsenz, dieses Nichtfiltern, das ergibt Splitter, das ist alles Mögliche, ehe daraus eine tatsächlich verwertbare Information wird. Da wird ungenügend differenziert und keine wirklich eigene Meinung gebildet. Das hat ja schnell etwas Konsensuales, Leichtes, Schönes, eigentlich nicken die meisten, wenn nicht alle Leute. Und ob einfach zeitgleich oder hiermit zusammenhängend, ich nehme wahr, dass ich in meinem Führungsumfeld weniger Widerspruch entdecke als vor zehn oder mehr Jahren.
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BÖ: Von denen, die beteiligt sind an einem Prozess?
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LC: Ja, insgesamt weniger Diskussion, Widerspruch, Auseinandersetzung, Diskurs – nennen Sie es Ideendiskurs … Es ist spekulativ, aber vielleicht nimmt der Diskurs auch ab infolge dieses Überflutens von sogenannten Fakten.
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BÖ: Sie beschreiben zwei Aspekte nach meinem Verständnis: Das eine ist, dass die Art und Weise der Interaktion, die Aufmerksamkeit, die Wertschätzung sich verändert, dass sich der Bezug zu dem, was wichtig ist für den Prozess auf Input von außen verlagert, auf den ganz spontan reagiert wird. Die Prüfung von Sachverhalten, die Koordination in einem Gesamtsystem findet nicht mehr richtig statt. Es ist aktionistisch, getriggert durch Außeninformation und ob es wichtig oder unwichtig ist, ob es jetzt sein sollte oder nicht, da ist eine souveräne Handhabung von Informationen deutlich erschwert.
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LC: Und damit ist es eben nicht einmal aktionistisch, sondern ist reaktionistisch.
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BÖ: Das ist noch präziser.
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LC: Jetzt sind wir durch ganz verschiedene Facetten meiner Erfahrungen und persönlichen Eindrücke im auch weiteren Zusammenhang mit Führung gegangen.
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BÖ: Sie bringen ein paar Aspekte aus einer etwas anderen als der gewohnten Perspektive zum Thema Führung. Dazu würde ich Ihnen gern noch ein paar Fragen stellen.
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LC: Nur zu.
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BÖ: Es gibt viele Erfolgsanleitungen für und Beschreibungen von Kernfaktoren guter, erfolgreicher Führung. Glauben Sie, das ist etwas Oberflächliches, nicht ganz Realistisches? Oder gibt es Kernaspekte, die wichtig sind für Leute, die Führung praktizieren, in verantwortlichen Positionen sind, unterschiedlich schwierige komplexe Aufgabenstellungen haben, Unternehmen leiten? Gibt es so etwas wie bestimmte Erfolgspartikel oder ist das zu heterogen, um es so zusammenzufassen?
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LC: Ich denke, dass es verschiedene Ausprägungen von Führung und vor allem sehr verschiedene Führungssituationen gibt. Also: Was in der einen Situation richtig ist, ist in der anderen Situation nicht optimal oder gegebenenfalls sogar falsch. Daher meine Eingangsfeststellung zum kooperativ-situativen Führungsstil. Was bestimmte Kernelemente angeht, haben wir bereits Dinge benannt wie Mitarbeiter/Teams auf Ziele einzuschwören, Commitment zu erreichen (es tut mir leid, mir fällt hierfür kein so umfassend abdeckendes deutsches Wort ein), Raum geben für Kreativität etc.
Wenn ich darüber hinaus überlege – ergänzend einmal von einem anderen Blickwinkel: Wie ist das eigentlich, wenn man ein Kind überzeugen und „mitnehmen“ möchte? Was sind die wichtigen Punkte? Ein Kind überzeuge ich dann, wenn ich selber für etwas stehe. Das mögen Sie nun Authentizität, Glaubwürdigkeit, innere Überzeugungskraft nennen, dass jemand einfach für etwas steht. Dieses walk your talk, das vermittelt man. Es ist die Frage der Klarheit der Aussage, in der Zielsetzung sowie der Durchführung.
Zusätzlich fällt Führung sicherlich leichter, wenn Leute sich sympathisch sind. Aber Sympathie ist nicht unbedingt erforderlich. Ich denke, wichtig ist, zumindest so viel Empathie zu haben, dass man sich in den anderen hineinversetzen und sagen kann: „Ich weiß, wo der andere steht und kann zumindest eine Brücke bauen.“ Und bereits indirekt angesprochen, aber noch nicht ausdrücklich genannt ist das Element der Konsequenz.
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BÖ: Können Sie sich an Situationen erinnern, wo Sie diese Konsequenz beobachtet und eine positive Erfahrung damit gemacht haben?
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LC: Wo habe ich Konsequenz erlebt? Zum Beispiel in Krisensituationen bei schweren Unternehmensentscheidungen und deren Umsetzung, auch beim langfristigen Verfolgen von Entwicklungsplänen. Aber in der Praxis erlebe ich häufiger eher das Gegenteil, das heißt wenig oder keine Konsequenz.
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BÖ: Aha, das ist ja interessant.
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LC: Ja, es braucht sicherlich nicht den Bezug zu Kindern, aber, wenn wir für einen Moment bei dem Blickwinkel bleiben: Insbesondere Kinder haben eine sehr feine Wahrnehmung dafür, ob man selbst durchhält, was man propagiert, ob man sich selbst einsetzt. Ist das nicht der Fall, bekommt man das schnell „aufs Butterbrot geschmiert“. Das Feedback ist vollkommen unverblümt und undiplomatisch. Ein hilfreicher Gradmesser für eigenes Verhalten. Und von dem Verhalten in der Arbeitswelt ist das alles weniger weit weg als gedacht.
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BÖ: Das ist für mich sehr nachvollziehbar. Wenn Sie heute – Sie kommen ja mit ganz vielen verschiedenen Leuten zusammen – ich weiß nicht, inwieweit Sie die Aufgabe haben, die Management- oder Führungsqualitäten von Leuten einzuschätzen. An der einen oder anderen Stelle werden Sie es tun müssen, vermute ich einfach mal.
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LC: Ja, richtig.
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BÖ: Auf welche Aspekte achten Sie denn, wenn Sie Führungskräfte oder Manager auswählen? Welche wichtigen Aspekte versuchen Sie herauszudestillieren?
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LC: Zunächst sind es die Fähigkeiten hinsichtlich der bereits angesprochenen Führungsmerkmale. In welchem Maße sind diese vorhanden, was fehlt? Dann geht es natürlich um Fragen der Passung auf die Situation – in der längerfristigen Perspektive. Wenn ich beispielsweise im mittelständischen Bereich einen kernigen Eigentümer, Gründerunternehmer als Geschäftsführer habe und suche einen zweiten dazu, dann steht für mich die Frage der spezifischen Ergänzung und auch der Stressstabilität im Vordergrund. Sind das Schönwettersegler oder sind das Leute, die auch durch einen Sturm können? Im Ergebnis muss ein konkreter Mehrwert für das Unternehmen erreicht werden.
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BÖ: Verstehe, ja. Wenn man etwas über Menschenführung oder Führung lernen will, welche Aspekte sollte man beachten, einhalten oder unterlassen, um an der Stelle weiterzukommen und sich zukunftsorientiert aufzustellen?
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LC: Über die angesprochenen Punkte wie der Suche nach Eigenständigkeit, Kreativität, Teamfähigkeit etc. hinaus geht es für mich um grundsätzliche Dinge wie die Aufmerksamkeit gegenüber der eigenen Wahrnehmung, die Klarheit bei der sorgfältigen Diskussion und der Vermittlung der Zielsetzungen und schließlich die konsequente Verfolgung der identifizierten Ziele. Warum ich so Grundsätzliches betone? Weil sich nach meiner Erfahrung häufig hier die Schwachstellen finden, die tatsächlich zukunftsorientierte, verändernde Prozesse verhindern. In der alltäglichen Praxis gibt es nicht selten die Neigung, mehr am Weg festzuhalten als am Ziel.
Die gute Nachricht ist, das sind für mich alles Punkte, hinsichtlich derer sich jeder immer wieder überprüfen kann, die jeder individuell trainieren kann.
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BÖ: Ja absolut.
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LC: In der Führungsarbeit bekommt man irgendwann den Spiegel vorgehalten, das ist ein reaktives System. Manches wird vielleicht diplomatisch verpackt, kommt spät oder auch gar nicht zurück – anders als bei den Kindern, über die wir gerade sprachen. Aber ich denke, offenes Umgehen miteinander zu propagieren und direktes Feedback einzuholen, ist ein unersetzbares Mittel, sein Führungsverhalten zu verbessern und zu trainieren.
Im Übrigen ist es gut, sich auch die Frage zu stellen: Wie würde ich denn selbst gerne geführt werden? Wie wäre es, wenn ich gegenübersitzen würde, was würde ich als hilfreich und unterstützend ansehen, was würde ich als angemessen empfinden? Führung ist nicht nur „ich oben, du unten“. Führung ist für mich viel breiter.
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BÖ: So habe ich Ihre Position verstanden.
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LC: Und das kann man wirklich überall ausprobieren, vor allem und ganz intensiv in Gesprächen.
Auch ganz andere, sehr überschaubare Situationen sind insoweit lehrreich: So bin ich überzeugt, wenn man zusammen eine Woche auf einem Segelboot war, dann weiß man voneinander, wie der andere tickt. Da gibt's kein Entkommen. Sie haben überschaubare, aber auch wechselnde Aufgabenbereiche. Sie sehen, wie Leute agieren, Sie sehen, ob Leute zupacken oder eher ausweichen. Sie sehen eigentlich alles.
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BÖ: Auch die Gruppendynamik …
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LC: Oh ja, wie bereits gesagt, ein System mit all‘ seinen Reaktionen. Bedauerlich, aber aus meiner Sicht Fakt ist, dass gravierende Führungsfehler nur schwer „vergessen“ oder wirklich verziehen werden. Wenn in einem Unternehmen führungsseitig vollkommen unangemessen agiert oder reagiert wird, dann muss sich sehr viel tun, um das Ganze wieder zu begradigen. Das heißt, Führung selber ist nicht sehr fehlertolerant und insofern ein hehres Gut.
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BÖ: Ich bedanke mich ganz herzlich. Ich fand es ein reichhaltiges, ein ganz eigenes Gespräch mit Ihnen. Mir hat es Vergnügen gemacht, und dafür darf ich mich wirklich herzlich bedanken.
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LC: Danke auch Ihnen für diese Gelegenheit zur Reflektion und zum Gespräch über einige individuelle Führungsfacetten. Ich bin gespannt, welche Schlüsse Sie aus diesen wahrscheinlich recht unterschiedlichen Gesprächen ziehen durch die Verarbeitung, die Durchdringung.
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BÖ: Es zeigt sich beispielsweise: Die konzentrierte Umsetzung von Führungslehren findet so nicht statt. Was durchkommt, ist die Notwendigkeit einer sehr individuellen Durchdringung. Die Umsetzung in die Lebensbezüge ist eigentlich das, was da deutlich wird. Seit Tausenden von Jahren machen die Leute Führung in irgendeiner Weise, reden seit mehreren Jahrhunderten darüber, publizieren seit einem halben Jahrtausend, und da kommen so Destillate, die sich immer wiederholen. Manche Sachen stimmen ja auch, aber viele sind Plattitüden, die von den Leuten nicht übersetzt werden können, und ich glaube, dass es mehr hilft, fühlbar zu machen, was an Erfahrung dahintersteckt, warum Leute zu ihren Perspektiven und ihren Anwendungen kommen. Ich spreche mal ein konkretes Beispiel an. Ganz entscheidend das Thema „Wahrnehmung“. Das Thema, das Sie am Schluss angesprochen haben, „walk the talk“ oder die Konsequenz, das sind Punkte, die kommen schon sehr deutlich heraus.
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LC: Ich denke auch, das werden Sie vielfach hören.
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BÖ: In unterschiedlichen Bezügen! Dass Konsequenz nicht einfach „Sanktionen“ bedeutet, sondern dass Konsequenz sich auf die Konsistenz des eigenen Verhaltens oder der Vermittlung oder Botschaften bezieht. Und beides ist hilfreich: Der Originalton, der etwas ganz anders vermittelt, als wenn man es auf eine psychologische Metaebene bringt und dann versucht, zusammenzufassen. Man braucht beides, die stringente Ableitung, die man zusammenfasst, aber auch das originale Fühlen und Denken dahinter mit eigenen Erfahrungen, weil dann die Situationsabhängigkeit deutlich wird.
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LC: Das erinnert mich an das klassische Begriffspaar aus der Wissenschaft, der Induktion und der Deduktion.
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BÖ: Genau, und es gibt für mich noch ein Drittes: Der sehr unterschiedliche Duktus, in dem die Gespräche ablaufen. Die Art und Weise der Sprache, weil sich Werte abbilden, weil deutlich wird, was Leute eigentlich nicht nur für wichtig halten, sondern was sie zwischen den Zeilen kommunizieren, ohne es sagen zu wollen, aber trotzdem vermitteln, die Art und Weise, wie sie kommunizieren. Das alles sind wichtige Punkte.
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LC: Das hängt sicherlich neben der einzelnen Persönlichkeit von der spezifischen Rolle und der Führungssituation ab.
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BÖ: Sie haben beispielsweise einen deutlichen Unterschied zu argumentieren im Vergleich zu der Art und Weise, in der ich als Coach an ein Gespräch herangehe. Das ist sehr viel sammelnder, hat assoziative und auch stark empathische Elemente, es hat den weniger Überzeugungsdruck, den Sie hereinbringen, sondern es hat eher den Fragecharakter.
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LC: Ja klar, Sie müssen ja aufnehmen, müssen schauen und gegebenenfalls abwarten.
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BÖ: Genau, und diese Art und Weise der Diktion sagt etwas über die Steuerungs-Notwendigkeiten in unterschiedlichen Anwendungssituationen aus. Deswegen ist es nicht allein die verbale Aussage, sondern auch die Art der Diktion, die etwas vermittelt, wie man vorgeht oder vorgehen kann oder worauf man dabei achtet. Ich finde extrem hilfreich, zu verstehen, warum sich diese unterschiedlichen Diktionen entwickeln, nicht einfach zu bewerten, sondern: Warum, woher kommt das und warum ist das so und was stimuliert das in einem. Ich habe mich früher sehr stark damit auseinandergesetzt, wie ich eigentlich arbeite, um zu verstehen, wie ich arbeite. Persönlich habe ich die Neigung, nach dem Prinzip der Aktionsforschung zu starten. Ich fange irgendwo an – das kann scheinbar chaotisch sein – und suche dann eine Struktur, in der sich das Verständnis für die Situation abbildet. Aber ich fange in der Regel nicht an, so strukturiert zu sprechen, wie Sie sprechen. Ich komme erst am Ende dazu.
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LC: Ja gut, weil Sie ja dann damit, sagen wir einmal, nicht derjenige sind, von dem man Orientierung erwartet.
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BÖ: Genau, so klar will ich das manchmal auch nicht.
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Das Gespräch mit Ihnen hatte für mich jetzt einen stimulierenden Reiz. Das bringt mich auf eine erhöhte Drehzahl und auf Gedanken. Und es hat die Wirkung, dass ich assoziiere und Zusammenhänge herstelle, mir fallen Dinge auf, ich systematisiere. Das empfinde ich als ausgesprochen positiv und reizvoll und ergiebig.
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LC: Das freut mich.
Das Interview führte Dr. Uwe Böning
5.5 Dr. Uwe Hartmann
Dr. Uwe Hartmann, geb. 1966. Abitur, Ausbildung als Polizist bei der Hessischen Polizei. Dann Studium der Rechtswissenschaften in Gießen auf. Referendariat bei Linklaters (heute). Nach Promotion und Steuerberater-Examen Selbständigkeit im Jahr 2000, in 2001 Wechsel zur englischen Sozietät Norton Rose, um den Standort Frankfurt aufzubauen. 2013 Wechsel zur Kanzlei FPS Fritze Wicke Seelig Partnerschaftsgesellschaft von Rechtsanwälten mbB, als Rechtsanwalt, Steuerberater und Notar tätig.
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FR: Wir möchten gerne Ihre ganz persönlichen Erlebenswelten zum Thema Führung niederschreiben. Wann haben Sie das erste Mal Führung erlebt? Wie hat sich Führung für Sie entwickelt und wann haben Sie angefangen zu führen? Das kann sehr früh in der Jugend begonnen haben.
Deshalb meine direkte Frage an Sie: Wann haben Sie das erste Mal mit diesem Begriff Führung etwas zu tun gehabt?
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UH: Jetzt ist die Frage, was man unter Führung versteht. Führung heißt für mich: jemand, der Ziele definiert und mich dort hinführt. Dann ist Führung sicherlich etwas, was man in der Schule das erste Mal erlebt hat. Da wurden Ziele definiert, die man selber noch nicht hatte und wo man sich vielleicht auch nicht mit identifizieren konnte. Sicherlich habe ich schon damals gemerkt, dass ich mit Lehrern, die durch ihre Kompetenz, durch ihre Lebenserfahrung geführt haben, besser zurechtkam, als mit Personen, die aufgrund ihrer Position geführt haben. Bestes Beispiel war mein Erdkundelehrer, der früher Kapitän auf einem Handelsschiff war. Ich will nicht sagen, dass es basisdemokratisch bei ihm zuging. Das war ihm als Person auch nicht gegeben. Aber aufgrund seiner Art und seiner Erfahrung hat man sich ihm gerne „untergeordnet“ und von ihm führen lassen. Man hatte das Gefühl, an einen interessanten Ort geführt zu werden.
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FR: Schön! Das ist nachvollziehbar.
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UH: Das hat mir den Weg wesentlich einfacher gemacht, mich führen zu lassen. Von dem, wie man standardmäßig Führung versteht, habe ich natürlich nach meiner Ausbildung als Polizist viel erfahren. Dort wird man geführt, ob man will oder nicht. Da hat man sozusagen als Befehlsempfänger Führung erfahren und genossen. Ich habe aber für mich entschieden, dass das auf Dauer nichts für mich ist.
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FR: Sie sind Polizist, ausgebildeter Polizist?
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UH: Ja, ich war 3 Jahre bei der Bereitschaftspolizei, zum Schluss noch Polizeitaucher.
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FR: Das überrascht mich aber sehr!
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UH: Ich habe damals den vollen Umfang der Startbahn West genossen, das gemeinsame Marschieren mit Wasserwerfern. Silvester haben wir dort gefeiert, nicht mit Freunden, sondern mit Demonstranten, mit denen man nicht so eng befreundet war. Dort lief natürlich der Apparat nur, wenn jeder seinen Befehlen, der Führung gefolgt ist. Und man hat die Führung nicht in Frage gestellt. Im Endeffekt aber doch! Ob das, was man dort macht, sinnvoll ist! Insbesondere, weil man selber vielleicht auch kein Fan der Startbahn West war und sehr gut verstanden hat, wie schwierig das Ganze ist. Aber dort hat man, ohne den Prozess gestalten oder Widerstand leisten zu können, der Führung Folge geleistet. Im Endeffekt musste man sich selber überzeugen, ob man dieser Führung Folge leisten wollte, ob man sich mit den Zielen identifizieren konnte. Dort habe ich erfahren, wie es ist, manipuliert zu werden. Wie man in der Gruppe manipuliert werden kann. Wie man sich mit Zielen identifiziert, mit gemeinsamen Feindbildern, um dann eine Führung zuzulassen. Das ist in jungen Jahren sicherlich nicht ohne. Das habe ich 3 Jahre lang genossen. Dann habe ich mich entschieden, dass mein Lebensweg ein anderer wird und habe studiert.
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FR: Und jetzt haben Sie einen ganz anderen Beruf und sind eigentlich Ihr alleiniger Herrscher, Sie müssen sich selber führen, das, glaube ich, ist eine wesentliche Voraussetzung.
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UH: Jetzt führt man sein kleines Reich in dem Gesamtkontext. Ich bin eigentlich eher Abteilungsleiter mit Veto-Rechten. So würde ich es nennen. Die Führung ist oft basisdemokratisch, was sich von einer englischen Kanzlei deutlich unterscheidet. In einer deutschen Kanzlei ist man sehr frei in den Entscheidungen, natürlich im Rahmen, den einem die Sozietät vorgibt.
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FR: Wenn Sie sagen: Abteilungsleiter! In einem Unternehmen haben Sie ja auch Kollegen auf dieser Ebene, aber es ist doch eine andere Konstruktion.
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UH: Was wir Juristen nie gelernt haben und was es uns dann auch manchmal schwermacht, wenn wir in einen Konzern gehen oder aus ‘nem Konzern in die freie Wirtschaft, ist die Frage: „Wie finde ich mich in einer Konzernstruktur zurecht?“. In einer Konzernstruktur merken wir oft, dass sehr viel Zeit darauf verwandt wird, seine eigene Position zu sichern. Es wird weniger in die Frage investiert „wie bringe ich mein Business nach vorne?“. Natürlich gehört da eine gewisse Persönlichkeit dazu und auch eine gewisse Empathie, zu erkennen, von wo Gefahr droht. Natürlich gehört auch dazu, sich in so einem Konzern zu bewegen mit den richtigen Leuten, den richtigen Teams. Während es in unseren kleinen Einheiten – je nachdem, wie viele Personen man führt –, darauf ankommt, dass man selber unternehmerisch erfolgreich ist, persönliche Bindungen aufbauen und halten kann und unternehmerische Entscheidungen mit den Mandanten trifft. Das Unternehmertum ist sicherlich in den deutschen Kanzleien stärker ausgeprägt, als in englischen. Dort will man, dass der Kunde wegen des brands kommt und nicht wegen des Anwalts. Zum Schutz der Kanzlei. Da besteht die Gefahr, wenn der Anwalt geht, nimmt er die Mandanten mit. Natürlich möchte man, dass die Kunden kommen, weil sie die Kanzlei toll finden und dort die richtigen Leute mit der richtigen Qualität arbeiten. Da geht man sicherlich mehr in Richtung Abteilungsleiter, der unter dem brand arbeitet, während in einer rein deutschen Kanzlei und zum Teil in amerikanischen Kanzleien sehr stark auf die einzelne Persönlichkeit und deren Bindung gesetzt wird.
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FR: Ich verstehe! Dadurch wird auch eine etwas andere Kultur geprägt, nehme ich an, nicht wahr?
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UH: Die Zusammensetzung ist sicherlich zum Teil eine andere. Wenn ich erwarte, dass jeder Anwalt sehr stark in der Akquise sein muss, verträgt die Struktur weniger Personen, die hochqualitativ arbeiten, aber schwach im Unternehmertum sind. Für die muss ja jemand anders akquirieren. Oder ich ersetze das durch einen starken brand, dass die Kunden sowieso zu mir kommen.
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FR: Gibt es das noch? Kann man davon automatisch ausgehen?
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UH: Es gibt sicherlich auch im deutschen Markt sehr starke Kanzleien, die sich über Jahre durch die hohe Qualität ihrer Partner einen Ruf aufgebaut haben. Jetzt, wo vielleicht diese Partner zurückgetreten sind oder nicht mehr so stark am Markt agieren, muss man dennoch dorthin, wenn man gewisse Fragen hat.
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FR: Der brand und die Qualität haben sich dann stabilisiert.
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UH: Das hat sich einfach über Jahre stabilisiert. Der brand ist aufgebaut durch die Führung des Unternehmens mit starken Partnern. Einen brand aufbauen ist mit einer Qualität verbunden, die starke Signale in Richtung „ich ziehe die Kunden an, weil … “ sendet. Als bestes Beispiel gilt für mich eine Kanzlei im Bereich Banking und internationale Transaktionen. Das ist keine internationale „Riesen“-Kanzlei, sie haben auch kein Riesen-Gearing mit 1:4 Anwälten, aber eine sehr hohe Qualität, sehr gute Vernetzung, starke Partner-Involvierung, High-End-Geschäft im Endeffekt.
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FR: Heute sind Sie nun an dieser Stelle in einer deutschen Kanzlei. Wenn Sie noch einmal zurückschauen: Wer oder was hat den größten Eindruck zum Thema Führung bei Ihnen hinterlassen? Der Erdkundelehrer scheint ja in recht frühen Jahren eine prägende Persönlichkeit gewesen zu sein. Oder haben Sie Ihr späteres Führungswissen aus Büchern gelernt?
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UH: Ja! Ich glaube, ich hatte immer ein starkes Faible für Kollegen, die durch hohe Kompetenz und Lebenserfahrung, aber auch durch ein interessantes Leben geführt haben, ohne dass man es als Führung empfunden hat. Das hat mich persönlichen angezogen. Sicherlich habe ich ein gewisses Problem mit Autorität und deren Akzeptanz. Es gab aber immer wieder Persönlichkeiten in meinem Leben, wo ich aufgrund der Kompetenz, der Lebenserfahrung, des Lebenslaufs und auch der Art des Umgangs kein Problem hatte, mich unterzuordnen und führen zu lassen. Wobei Führung nicht automatisch unterordnen bedeutet. Das hatte mit dem Alter, dem Altersunterschied oder der Lebenserfahrung zu tun. Sehr oft habe ich einfach sehr viel lernen, sehr viel partizipieren können. Ich erinnere mich an einen Seniorpartner, der schon viel gesehen hatte, sehr ruhig in seiner Art war mit sehr viel Erfahrung. Seine Führung war proaktiv unterstützend. Er hat den Leuten nicht gesagt, wo sie hingehen müssen. Er hat sie durch seine Unterstützung dorthin geführt. Man ist quasi mit ihm gelaufen. Wenn man Führung gebraucht hat, hat man sie bekommen. Aber man sich nicht bevormundet gefühlt. Trotz der ruhigen Art seiner Führung wusste man: Dahinter steckt eine Strategie. Das war eine sehr angenehme Art der Zusammenarbeit. Man war selbständig, bekam im Team immer wieder Anregungen, konnte sich zurückziehen und punktuell Unterstützung holen.
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FR: Ihre Beschreibung ist wirklich beeindruckend! Es gibt ja unterschiedliche Begrifflichkeiten für das Thema Führung. Es gibt das Thema „Management“, „Führung“ oder das Thema „Leadership“, je nachdem, in welchem kulturellen Kontext man sich bewegt. Gibt es für Sie Unterschiede, weil Sie möglicherweise sagen: Das eine hat mit dem anderen nicht unbedingt etwas zu tun?
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UH: Hm, das ist eine gute Frage. Ich glaube, es ist schwierig, eine einheitliche Definition für Führung zu finden. Aber im Endeffekt soll es den Kontext beschreiben, wie das Management eines Unternehmens, das die Ziele festlegen soll und muss, seine Mitarbeiter abholt, um diese Ziele gemeinsam zu verfolgen. Das führt dann im Endeffekt zu Führung, der Verbindung zu denjenigen, die geführt werden. Das ist für mich aber keine Einbahnstraße. Die Ziele und Strategien des Unternehmens sollten – interaktiv natürlich – festgelegt werden.
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FR: Das heißt ja auch eine ganz andere Lebendigkeit, nicht?
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UH: Korrekt.
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FR: In den letzten Jahrzehnten haben wir doch einige Führungsstil-Veränderungen miterlebt. Seit dem Bad Harzburger-Modell, paramilitärisch, autoritär, hat sich der Stil deutlich verändert. Dann haben wir nicht zuletzt durch die Entwicklung der 68er eine sehr starke Demokratisierung erlebt. Und jetzt erleben wir etwas, was mit einer deutlichen Verselbständigung auch der Mitarbeiter einhergeht. Andere wechselvollere Ansprüche an Lebens-, Freizeit- und Jobgestaltung und wie der Job zu verstehen ist, prägen verstärkt das Führungsbild. Mich interessiert in diesem Zusammenhang, ob das in einer Kanzlei ähnlich ist oder ob da noch ganz klare Spielregeln gelten.
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UH: Man merkt schon, dass jetzt andere Generationen kommen. Auch die Generationen der Kollegen, die jetzt kommen, agieren ganz anders und legen ganz andere Ziele für sich fest. Ich gehörte noch zu der Generation, die beigebracht bekommen hat, dass der Mandant eine Rundumbetreuung erwarten kann, d.h. man muss rund um die Uhr da sein. Stunden spielen keine Rolle und Wochenende auch nicht. Der Job kommt an erster Stelle. Jetzt kommt eine Generation, die andere Auswahlmöglichkeiten hat. Plötzlich spielen Begriffe wie work-life-balance eine größere Rolle. Man erwartet, dass sich der Mandant daran gewöhnt. Das ist schwierig, weil der Mandant derzeit noch die Auswahl hat. Auch das Anspruchsdenken ist noch ein anderes. Man erwartet eben, dass man in gewissen Fällen seinen Anwalt auch am Wochenende und am Abend bekommt und dass der Anwalt, bevor er zu Bett geht, noch mal die Emails liest. Morgens, wenn er aufsteht, macht er es auch als erstes. Ich sehe schon die Gegenbewegung, intransparenter und nicht mehr so erreichbar zu sein.
Wenn ich einen Unternehmer beraten will und will Teil seiner unternehmerischen Entscheidung sein und ihm dabei helfen, dann endet dieser Job nicht freitags abends um 5 oder um 7. Der Unternehmer nimmt sein Unternehmen mit ins Wochenende. Und wenn ich dort sein „Spielpartner“ sein will, dann muss ich es auch ertragen, wenn er mich mal anruft! Dazu bin ich auch bereit. Ich denke, dieser Generationenwechsel ist sicherlich in vielen Bereichen sinnvoll. Ich kann nicht jeden Kollegen-Mitarbeiter verdonnern, jederzeit erreichbar zu sein. Aber es gibt andere Bereiche der Industrie, wo man Führungsentscheidungen treffen muss. Das ist nicht etwas, was man freitags abends ausschalten kann. Und die dabei unterstützenden Service-Industrien müssen das eben mittragen. Dafür werden wir ja auch anders kompensiert. Ich sehe das so! Und als selbständiger Anwalt würde ich auch freitags abends nicht nach Hause gehen, sondern würde ich samstags noch im Büro sitzen und die Buchhaltung oder andere Dinge erledigen. Ich sehe das ein bisschen entspannter! Aber ich erlebe das derzeit bei vielen neuen Kollegen anders. Sie hätten gerne die gleiche Kompensation bei weniger Arbeit. Das wäre ein schöner Deal, den ich auch gerne hätte. Nur die Lebenswirklichkeit ist eine andere!
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FR: Also ganz ernst betrachtet verschiebt sich da möglicherweise etwas.
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UH: Ja, ich sehe das mit sehr großen Bedenken, weil ich die Konkurrenz sehe. Wir sind mittlerweile sehr viel internationaler, gerade als Top-Exportland in Deutschland, d.h. viele Kanzleien arbeiten mit Zeitverschiebungen, weil sie weltweit unterwegs sind. Dadurch haben wir auch Vorteile, d.h. der Kollege in China, der tagsüber hart gearbeitet hat, kann sicherlich seinen Kollegen in Kanada, der Sekretärin oder dem Pool dort Aufgaben zuweisen. Und am nächsten Morgen hat er alles auf dem Tisch. Das verwöhnt natürlich! Da werden Schreibpools outgesourct. Ob das immer sinnvoll ist und die Qualität sichert, weiß ich nicht. Aber es führt sicherlich dazu, dass eine hohe Arbeitsgeschwindigkeit, eine hohe Qualität und derzeit auch eine sehr hohe Nachfrage selbst in unserem Bereich an standardisierten Produkten besteht, die man auch erst einmal for free bekommt, quasi als Entree, was sicherlich den einen oder anderen vor Probleme stellt.
Wir haben in China und in Indien sehr viele gut ausgebildete Leute sitzen, die noch sehr hungrig sind, sehr viel aufzuholen haben und noch nicht nach einer work-life-balance schreien. Als Exportland müssen wir aufpassen, damit man nicht rechts und links überholt wird. Man bewegt sich in seinem Wohlfühl-Bereich, hat sich an alles gewöhnt und empfindet es als selbstverständlich. Ich glaube schon, dass man da auch im Rahmen der Führung sehr wachsam sein muss, dass das Unternehmen weiterhin in einem internationalen Kontext wettbewerbsfähig bleibt.
Das ist sehr schwierig zu vermitteln, wenn man sieht, wie viele „hungrige“ Nationen, die unseren Lebensstandard auch nur ansatzweise anstreben, bereit sind, eben noch die Extrameile zu gehen. Um den Vorsprung zu halten, muss man sehr stark innovativ tätig sein.
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FR: Ich wollte gerade sagen: Innovation ist gefragt, das heißt wahrscheinlich auch, Auswirkungen auf das ganze Thema Führung.
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UH: Absolut, das sind völlig andere Herausforderungen als die, die man bisher hatte. Damit muss man sich erst mal beschäftigen.
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FR: Was meinen Sie, wie sieht das aus Ihrer Sicht zukünftig aus? Wir haben jetzt work-life-balance, wir haben Frauen, da würde ich Sie auch nochmal fragen, wie das in Ihrer Kanzlei oder überhaupt in der Juristerei ist, ob da Frauen eine Chance haben – wir haben zunehmend sich öffnende Märkte, wir haben einen Zustrom an Menschen aus der ganzen Welt – was verändert sich da?
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UH: Also erstens, Thema Frauen: Wir haben einen sehr hohen Frauenanteil in unser Kanzlei, was gut ist. Wir haben zu wenig Frauen in der Partnerschaft, was nicht so gut ist! Wir bieten sehr flexible Arbeitszeitmodelle für Frauen, was ich sehr gut finde, da wir sonst einen Großteil der sehr guten Juristen in Deutschland vor der Tür ließen. Eine große Zahl davon sind Juristinnen. Die schauen eben auf flexible Arbeitszeitmodelle wegen der Familienplanung. Es gibt die Juristinnen bei uns, die die Familienbetreuung ihrem Mann überlassen, weil sie eben besser verdienen als der Mann. Es gibt ja auch andere Teilzeitmodelle. Mein Eindruck ist, dass die Effektivität der Kolleginnen, die Teilzeitmodelle fahren, meistens sehr viel höher ist.
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FR: Tatsächlich? Wie erklärt sich das?
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UH: Weil sie in sehr viel kürzer zur Verfügung stehenden Zeit versuchen, ihre Arbeit zu machen. Und die machen sie meistens sehr gut, sehr effektiv und sehr belastbar. Sie gehen dann nach Hause, bringen ihre Kinder ins Bett und sind dann ab 20 Uhr wieder erreichbar. Natürlich wehren sich die anderen Kollegen. Ich glaube, es gibt genug Bereiche, wo man diese Modelle fahren kann und muss. Für mich sind sehr viele Partnerkandidatinnen dabei. Ich halte es für absolut abwegig, dass eine Frau oder ein Mann für seine Familienplanung die Karriere aufgeben muss. Das kann man verbinden. Es ist sicherlich nicht so, dass man um 5 Uhr seine Kinder sieht, aber ich glaube, wir haben zu wenig gute Leute, um diejenigen dann auch noch vor der Tür zu lassen. Da muss ich einfach flexible Modelle finden. Unsere Arbeit ist ja nicht zwingend an einen Schreibtisch gebunden.
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FR: Ich denke, dass es mit Planung und gutem Willen eine ganze Menge Möglichkeiten gibt.
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UH: Ja, sehe ich genauso. Die internationalen Herausforderungen sind für mich ein Problem. Insoweit, dass man sehr oft nicht so beweglich ist. Der Mensch ist von Natur aus bequem und Veränderungen machen auch ängstlich. Diese Hürden zu umschiffen aufgrund einer abstrakten Gefahr, die sich jetzt noch nicht zeigt, das ist eine Führungsherausforderung für mich. Das ist wie mit einer Krankheit, von der man die Spätfolgen kennt, wo aber noch nichts passiert ist. Da fängt man ja auch nicht sofort an, Diät zu halten. Genauso ist das auch in diesen Bereichen, dass die Leute die Gefahr erkennen. Sie sind intelligent genug zu wissen, es kommt etwas. Aber natürlich hat keiner ein Patentrezept dafür. Wir sehen es bei unseren Konkurrenten, dass sie Mitarbeiter abbauen und sie als outgesourcte Rechtsabteilungen selbst wieder nutzen, quasi als verlängerte Werkbank, um die Kosten niedrig zu halten. Aber das ist auch nur ein Modell. Wie zukünftig Modelle in der Zusammenarbeit der Kanzleien mit den Unternehmen aussehen werden, das ist schwierig vorauszusagen. Aber da findet ein Umdenken statt.
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FR: Ja, das kann ich mir gut vorstellen. Ich glaube, das ist auch eine Frage von Wendigkeit, Schnelligkeit und Spezialisierung. Die Finanzen spielen ganz bestimmt eine große Rolle. Wahrscheinlich gibt es noch ein paar andere Argumente, die dafürsprechen. Aber Blaupausen gibt es möglicherweise noch nicht.
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UH: Ja. Es ist natürlich auch ein Problem der Industrie für uns. Wir sind ja eine Service-Industrie, die im Endeffekt je nach Ausgestaltung die Bauwirtschaft, Banken, Versicherungen, Unternehmensberater unterstützt. Natürlich muss sich unsere Strategie danach ausrichten, welche Strategie diese Unternehmen verfolgen. Wir wollen ja deren Strategie unterstützen. Wir sind in deren strategische Entscheidungen nicht involviert und werden auch darüber nicht informiert, sondern wir reagieren auf das, was uns dann gezeigt und geliefert wird.
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FR: Hinterher, nicht wahr?
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UH: Hinterher, d.h. es findet eine Zeitverzögerung und nicht ein Ineinandergreifen statt. Das würde natürlich zu viel Nähe bedeuten. Man will den Dienstleister und die rechtliche Beratung unabhängig haben. Wir werden nicht als eine erforderliche Industrie gesehen. Nicht in der Ausrichtung des Unternehmens! Das Unternehmen richtet seine Strategie aus und informiert seine Rechtsberater, was es braucht, damit das funktioniert.
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FR: Das ist aber noch ein etwas antiquiertes Bild von dem Rechtsberater, oder?
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UH: Klar, natürlich, wenn wir anderweitig involviert wären, würden wir natürlich viel früher auch mitbekommen, in welche Richtung das Ganze geht. Und natürlich ist es auch ‘ne Entscheidung. Die Kanzlei wird aufgefordert, zu sehen und zu erkennen, wo die Industrien hingehen, wo sind Produkte, wo sind Märkte, die sich entwickeln, wo wird Rechtsberatung von Interesse sein? Derzeit sind vielleicht die Erneuerbaren Energien nicht mehr der Vervielfältiger, den es mal gegeben hat. Dafür war jetzt lange Zeit Compliance ein großes Thema, als Reaktion, aber nicht als Strategie. D.h. „agieren statt reagieren“ ist ein Problem. Wir reagieren auf Sachen, die in der Industrie passieren. Plötzlich ist jeder ein Restrukturierer, weil alles in die Insolvenz fällt oder fallen könnte. Wir sind alle Compliance-Spezialisten und Strafrecht-Spezialisten, weil eben das das aktuelle Thema ist. Aber die Kanzleien werden, glaube ich, viel gefragter, wenn sie an Strategien und Marktentwicklungen stärker teilnehmen würden, den Markt dorthin führen und rechtlich unterstützen könnten, auch in der Rahmengebung, der Gesetzgebung. Das ist sicherlich für uns eine Herausforderung.
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FR: D.h. auch, sehr viel dichter am Kunden oder am Mandanten zu sein.
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UH: Sehr viel dichter am Kunden, zu verstehen, wo der Kunde hingeht oder vielleicht auch mit ihm zusammen zu entwickeln, wo er hingehen müsste, um dort auch die Ressourcen aufzubauen, ihn dahin zu begleiten.
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FR: Verstehe. Sie sprachen vorhin die Internationalisierung an und die Frage der zeitlichen Verschiebungen. Trifft das jetzt für Ihre Kanzlei zu oder eher für die Angelsachsen. Sie bezeichnen sich ja als deutsche Kanzlei, nicht?
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UH: Ich sage mal so: Die internationale Arbeitsweise ist natürlich ‘ne etwas andere, wenn ich mit anderen internationalen Kanzleien zusammenarbeite und Kunden in den USA habe, dann ist es eben so, dass die Gespräche sehr viel später stattfinden. Ich habe 6 Stunden Zeitverzug, d.h. wenn ich abends nach Hause will, dann haben die gerade Mittagessen gehabt, und dann erwarten die noch einen conference call mit mir.
Abends bedeutet bei mir, nach Mitternacht. Da wird es lockerer. Diese Zeitverschiebungen spiegeln sich auch in den Kanzleien wieder, die sich auf den amerikanischen Markt spezialisieren. Da kommen die Kollegen eher gegen Mittag, bleiben dafür aber mal bis 2 h, während derjenige, der sich auf den asiatischen Markt stürzt, gern mal früher aufsteht. Wenn eine Transaktion ansteht, die zwischen diesen Playern spielt, das ist das Schlimmste, was einem passieren kann. Da wird man mit wenig Schlaf belohnt, darauf muss man sich und die passenden Teams einstellen. Das Hauptproblem ist, Leute zu findet, die an so etwas Spaß haben, die sich damit identifizieren können und unter extremem Zeitdruck mit vielen Personen Deals auch zu Ende bringen können. Die Kunst ist es, einen Deal zu Ende zu bringen. Dazu müssen Sie einfach die richtigen Leute finden. Der wichtigste Teil der Führung ist, dass man zu seinem Produkt auch die richtigen Leute zusammenbringt. Daran sehen wir viele Start-ups scheitern.
Muss man ehrlich sagen, das Interessanteste bei Start-ups ist der Umschwung von einer rein wissenschaftlichen Expertise, der Entwicklung des Produktes in den Vertrieb eines Produktes. Das gelingt den meisten Unternehmen nicht. Man ist zu verliebt ist in das Produkt. Man will’s ja eigentlich nicht verkaufen, so gut ist es.
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FR: Deswegen kann man auch keinen Entwickler zum Verkäufer machen, das geht ja gar nicht.
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UH: Korrekt, man muss ihn von seinem Produkt trennen, was ihm sehr schwerfällt. Das gilt gerade für die neuen Industrien im IT-Bereich, wo sie über das Netz den Vertrieb herstellen und ohne große Manpower ein Riesen-Vertriebsnetz aufbauen können allein durch die Nachfrage im Netz. Für diese Klientel müssen sie den richtigen Anwalt finden. Die Unternehmer in dem Bereich sind meistens zwischen 20 bis 40 Jahre alt, die schon mit Mitte 30 zwei-, dreimal ihr Unternehmen verkauft haben. Die sprechen eine ganz andere Sprache, die brauchen ein ganz anderes Umfeld, die brauchen einen ganz anderen Anwalt. Und das muss dann noch in einer Sozietät passen.
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FR: Und funktionieren, denke ich mir.
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UH: Ja, wenn Sie diesen Anwaltstypus dann zusammenbringen mit demjenigen, der den Bauunternehmer vertritt und Baurecht, Steuern oder Arbeitsrecht macht, der ein ganz anderes System vertritt, eine andere Persönlichkeit darstellt, die sitzen dann plötzlich in einer Gruppe zusammen und sollen gemeinsam strategisch geführt werden – das ist sicherlich eine der größten Herausforderungen überhaupt, weil das Produkt und die Anforderung so vielfältig sind. Aber die Kompatibilität dieser Produkte oder derjenigen, die Sie beraten, ist halt begrenzt. Und deren strategisches Denken spielt sich ja nur in ihren Produktbahnen ab.
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FR: Jetzt verlangen Sie ja wirklich viel von Ihren zukünftigen Mitarbeitern …
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UH: Ja, aber die Gedanken muss man sich machen! Es ist ja genau das, was eine Full-Service-Firma anbietet. Das ist extrem schwierig, weil man die unterschiedlichsten Persönlichkeiten dafür braucht, die sich dann noch auf die Strategie der Gesamtkanzlei als Full-Service-Kanzlei einigen müssen.
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FR: Sie haben ja sehr unterschiedliche Kollegen, die alle ein eigenes Thema vertreten und sehr unterschiedliche Persönlichkeiten sind.
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UH: Ja, wir haben einen bunten Blumenstrauß und jeder kann seinen Teil sehr glaubhaft vertreten, vom „Nerd“, der verliebt ist in die letzten Verästelungen des IT/IP-Rechts und alles versteht, was dort gesagt wird, bis zum Investmentbanker/M&A-Anwalt, der sehr gut mit Bankern, M&A-Beratern umgehen kann, vom Finanzierer bis hin zum Arbeitsrechtler bis hin zum Baurechtler und Öffentlichen Rechtler. Wenn Sie mit einer Stadtverwaltung über deren Bebauungspläne sprechen, haben Sie ein anderes Publikum, als wenn Sie danach zu jemandem gehen, der gerade sein Unternehmen verkaufen und finanzieren will – völlig andere Persönlichkeiten.
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FR: Das ist schon sehr spannend. Wenn Sie daran denken, was Ihnen wichtig ist an Maßstäben, Wertvorstellungen, Philosophien? Was ist Ihnen wichtig in Ihrer Führungsaufgabe und Führungsfunktion?
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UH: Was in einem Unternehmen immer schwierig ist, was ich aber als sehr angenehm empfunden habe, sind „erfolgsunabhängige Prinzipien“, also ein Basis-Mindset, wie ich mein Unternehmen führe. Unabhängig davon, ob ich gewissen Strömungen nachgebe oder nicht, die es gerade im Unternehmen, der Industrie oder sonst irgendwo gibt. Wir haben gewisse Prinzipien, wie und welche Sachen wir machen. In der Konsequenz haben wir uns aus gewissen Märkten herausgeschossen, obwohl die vielleicht sehr profitabel sind. Ich nehme mal ein Beispiel aus meinem Bereich. Gewisse Arten von Steuerprodukten, die Kollegen sehr erfolgreich verkauft haben, haben wir nie entwickelt. Wir haben sie als angreifbar gewertet, weil sie wirtschaftlich nicht nachvollziehbar waren. Dazu zählen für mich z.B. die Cum-Ex Trades, mit denen ich u.U. zweimal oder mehr Kapitalertragssteuer auf Dividenden erstattet bekomme. Für mich ist es wichtig, Prinzipien zu haben, wofür die Firma stehen will. Das macht auch den brand aus: Mitarbeiterführung, soziale und ethische Werte, für die wir stehen. Unabhängig von der wirtschaftlichen Situation kann sich der Mitarbeiter, auch wenn er selbst in einer schwierigen Situation ist, auf uns verlassen kann. Nicht, dass er das Gefühl hat, wenn wir in raues Fahrwasser kommen, er der erste ist, der geopfert wird. Ich glaube, wenn man Teamarbeit anstrebt und nicht will, dass nur der Stärkere überlebt, sondern sagt, wir sind „eine Familie“ – soweit das als Unternehmen geht –, dass man dann auch füreinander einsteht, Kollegen unterstützt und zur Seite steht, auch in privaten Problemen.
Vielleicht auch um glaubhaft Werte zu vermitteln, an denen man sich selbst am stärksten messen lassen muss. D.h., nicht nur reden und behaupten, sondern sie leben, um glaubhaft zu sein. Das ist sicherlich eine schwierige Sache. Führungspersönlichkeit, wie ich sie akzeptiert habe, waren die Personen, die glaubhaft und authentisch für mich waren, dass das, was sie gesagt haben, auch das war, was sie vermittelt haben. Gut, man kann nie in den Kopf schauen. Man weiß nicht, ob man nicht irgendwann enttäuscht wird. Es war das Gefühl, was mir vermittelt wurde, dass das eine durch und durch authentische Person ist, die das, was sie vermitteln will, auch selber lebt. Insoweit hatte ich auch kein Problem, mich in diese Richtung führen zu lassen.
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FR: Dass das auch geht.
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UH: Dass das praktisch geht! Ich glaube, das waren die wenigen Personen, wo man sagen konnte: mit denen kann man durch dick und dünn gehen. Die würde ich auch unterstützen in guten und in schlechten Zeiten. Wenn wir Loyalität, Teamwork usw. als Werte definieren, dann muss man auch dafür sorgen, dass die Personen, die dann später in die Führungsebene kommen, das genau auch leben.
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FR: Das ist ja nicht ohne Anspruch, was Sie da gerade sagen, nicht?
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UH: Aber wir sprechen ja von einer idealen Welt, ja?
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FR: Ich kann das nachvollziehen, das ist ja kein Widerspruch. Aber es zeigt eine gewisse Prägnanz. Ich glaube, das ist eines der wichtigsten Dinge in der Führung, prägnant und kalkulierbar zu sein.
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UH: Ja, ich glaube auch, man muss für etwas Bestimmtes stehen, wenn man erfolgreich führen will, so dass die Leute sich mit einem identifizieren oder an einem reiben können. Man muss ja nicht immer der gleichen Meinung sein. Das ist man nie, wenn man führt. Wenn alle in die gleiche Richtung rennen, braucht man nicht zu führen. Aber ich glaube auch, dass man für einen gewissen Stil und für gewisse Entscheidungen stehen, transparent und berechenbar sein muss. Dass man weiß, wenn gewisse Umstände eintreten, dann wird die Führungsetage so oder so entscheiden. Das hilft in Krisensituationen. Wenn man weiß, dass der Chef nicht sofort die Guillotine rausholt und den Nächstbesten opfert, sondern sich vor seine Mitarbeiter stellt. Zur Not nimmt er selber den Hut, wenn er einen Fehler gemacht hat. Das ist unbezahlbar, wird in meinen Augen aber noch viel zu geringgeschätzt, wird aber immer wichtiger.
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FR: Ja, das stabilisiert ja die Verhältnisse wie die Arbeitsbezüge. Das gibt letztendlich eine Verlässlichkeit für und von beiden Seiten.
Vielleicht noch eine Frage zum Schluss: Stellen Sie sich vor, Sie haben junge Menschen, die auf dem Sprung in eine Führungsaufgabe sind. Welche Botschaften würden Sie denen mitgeben? Was sollen sie tun oder worauf sollen sie verzichten, nach welchen Modi sollten sie leben, arbeiten?
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UH: Erstens sollten sie die Kritik von Personen nie persönlich nehmen. Sie sollten sich ihre eigenen Rückzugsräume ermöglichen, indem sie sich unabhängig von ihrem beruflichen Umfeld ein Gebiet schaffen, wo sie sich persönlich wohlfühlen, wo sie auftanken können. Zweitens sollen sie einfach ihre Muster, ihren Weg finden, mit guten und auch mit schlechten Entscheidungen zu leben, ihren Frieden zu schaffen, um wieder gestärkt und mit freiem Kopf nach draußen zu gehen. Sie sollten offen sein, offen für Kritik, offen für Einflüsse anderer, aber ohne manipuliert werden zu können. Am Ende müssen sie ihre eigene Entscheidung treffen, mit deren Ergebnis sie dann leben können, so oder so, und dann kann man am Ende auch sagen: Okay, es ist gut gelaufen, es ist schlecht gelaufen, aber das war dann meine Entscheidung. Mit der müssen wir dann alle am Ende leben. Aber damit kann man besser leben, als wenn man für eine fremde Entscheidung stolpert und es hätte besser machen können. Das ist für mich wichtig.
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FR: Herr Hartmann, ich bedanke mich ganz herzlichen für das Gespräch und die neuen Erkenntnisse!
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UH: Gerne geschehen!
Das Interview führte Brigitte Fritschle
5.6 Lothar Hoss
Lothar Hoss ist heute Geschäftsführer von Hoss + Kollegen, einer Unternehmensberatung, die sich auf komplexe Personalanpassungen im Rahmen von Transformationen, Restrukturierungen und M&A Projekten spezialisiert hat. Seine geschilderten persönlichen Erfahrungen gelten für ihn heute unverändert fort.
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FR: Herr Hoss, wie hat Ihre Führung begonnen und wer hat Ihre Fähigkeiten entwickelt?
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LH: Ich bin sehr jung in eine Geschäftsleitungsposition gekommen und hatte keine wirkliche Entwicklungsphase.
Mit 28 habe ich für eine mittelständische Unternehmensgruppe – ein enorm dynamisches Familienunternehmen – gearbeitet und musste mich behaupten. Dort habe ich reflektiert: Wie führen die unterschiedlichen Geschäftsführer eigentlich und was bedeutet das für mich. Wie hättest du in dieser Situation gehandelt? Das war mein Learning und so arbeite ich auch heute.
Ich hätte gerne einen Mentor gehabt, um mich auszutauschen. Das war aber in meiner Position nicht möglich.
Ich hatte die Möglichkeit, mir sehr viele Führungsstile anzuschauen und mich durch das Erlebte persönlich weiterzuentwickeln, zu sehen, was funktioniert und was nicht.
Im Rahmen des Veränderungsmanagements kommt es auf Routine an. Das Thema „Reife und Seniorität“ ist ein Garant dafür, dass man in diesen Situationen auch bestehen kann. Meine ganz persönliche Empfehlung wäre: Nehmt Euch mal die Zeit, auch zu reifen.
Mit Anfang 30 habe ich mir einen Berater genommen, mit dem ich meine persönliche Lebens- und Karriereplanung besprochen habe. Ich bin mit ihm durchgegangen, wie ein idealer Weg aussehen könnte, um immer wieder auf diesen Weg zurückzukommen.
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FR: Welche wichtigen Erkenntnisse haben Sie gewonnen?
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LH: Um bei Veränderungen in Unternehmen mit unterschiedlichen Konstellationen und Situationen umzugehen, ist neben dem Fachwissen eine unglaubliche Routine extrem wichtig, gerade um die unterschiedlichen Interessenlagen bedienen zu können.
Wenn wir über den Zwang nach Veränderung sprechen, gibt es situationsbezogen einen großen Unterschied: Bin ich in einem eigentümer-, inhabergeführten Unternehmen oder bin ich in einem Unternehmen, das aus dem Fremdmanagement herauskommt oder im Fremdmanagement bleibt.
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FR: Was denken Sie, wie wird sich Führung morgen entwickeln?
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LH: Das Thema Bindung ist wichtig. Wenn das nicht gegeben ist, ist die Austauschbarkeit deutlich höher und der Vertrag besteht nur noch auf der Ebene Geld-gegen-Stunden. Dann wird nur noch funktional abgearbeitet. Ich glaub, das ist nicht das, wo wir hinwollen und hinmüssen.
Heute geht es stärker um die Balance zwischen dem privaten und dem beruflichen Umfeld und nicht mehr darum, möglichst viel Geld zu verdienen. Die jungen Leute sind teilweise nicht bereit, 60 Kilometer zu fahren, weil sie zu viel Zeit dabei verlieren. Sie lehnen aufgrund der Belastung auch Führungspositionen ab. Sie wollen nicht mehr führen, wollen diesen politischen Druck, diese große Verantwortung nicht mehr.
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FR: Aus Schlüsselerlebnissen kann man lernen. Wie war das bei Ihnen?
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LH: Ich hatte als studentischer Berater ein Projekt in der Schweiz. Da ging es um die Reorganisation einer Betriebseinheit mit 1.800 Mitarbeitern. Ich bin damals von meinem Professor, der den Auftrag hatte, in das Projektteam als Assistent des Projektleiters gesetzt worden. Dort habe ich gelernt, wie die Einbindung von Mitarbeitern den Erfolg eines Projektes herbeiführen kann. Wir haben selbstverständlich formal informiert. Aber das Entscheidende war, dass Mitarbeiter mit in Teams saßen und damit die Ängste der Belegschaft raus waren. Diese informelle Kommunikation war das entscheidende Element. Wow!
Zu Beginn meiner Zeit im Unternehmen hatten wir eine kritische Situation. Wir hatten damals Setzer, die halb automatisch gearbeitet haben – Könige in der Druckindustrie – am höchsten bezahlt. Dann haben wir entschieden, Apple-Macintosh-Arbeitsplätze zu kaufen. Leute mit teilweise 40 Jahren Betriebszugehörigkeit waren von jetzt auf gleich völlig wertlos. Wenn ich bei ihnen anrief, war klar: Jetzt kommt das Gespräch über die Auflösung des Arbeitsverhältnisses. Das ganze Unternehmen muss unheimlich verängstigt gewesen sein. In dieser Situation hätte ich mich gerne mit jemandem darauf vorbereitet.
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FR: Was meinen Sie, verliert die persönliche Kommunikation an Bedeutung?
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LH: Virtuelle Führung funktioniert nur, wenn man sich auch in regelmäßigen Abständen persönlich sieht, damit man ein Gespür füreinander bekommt. Viele Unternehmen machen es tatsächlich so, dass sie mindestens einmal im Jahr das komplette Führungsteam an einem Ort dieser Welt zusammentrommeln. Persönlich auf Kollegen zuzugehen, mit denen eine Relationship zu bilden, das hat unglaublich geholfen in der Art der Kommunikation, um Lösungen zu entwickelt. Das ist für mich das A und O. Nur via Telefon oder Email, das funktioniert meines Erachtens nicht, vor allen wenn es kulturelle Unterschiede gibt.
Kommunikation, Dialog, Wertschätzung, Offenheit – das sind für mich die Türöffner, mit denen ich üblicherweise ins Unternehmen hineingehe.
Der Reiz ist, immer wieder neues Wissen, neue Erfahrung zu sammeln und zum nächsten zu gehen, national und international, das ist das Spannende an diesem Geschäft.
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FR: Ich möchte Ihre letzte Aussage bestätigen. Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Brigitte Fritschle
5.7 Unser Kommentar: Führung von der Außenlinie
Wortwörtlich neben den verantwortlichen Führungskräften in all‘ den Organisationen, Unternehmen, Verwaltungen, Agenturen, Parteien, Bewegungen, die wir aufgesucht haben, sozusagen in der Coaching-Zone am Spielfeldrand, bewegen sich professionelle Berater unterschiedlicher Disziplinen, um die Führungskräfte als Hauptakteure nach Kräften zu unterstützen, nicht zuletzt auch in deren Führungs-Situationen, -Rollen und -Aufgaben.
Wir haben zwei ausgesuchte Milieus betreten. Wir haben zwar nur mit einigen Rechtsanwälten gesprochen, zu deren beraterischem Selbstverständnis insbesondere die Wahrung der Unabhängigkeit und Urteilsfähigkeit gehört, die gerade auch eine gewisse Distanz voraussetzt. Und wir haben zweitens mit Unternehmensberatern gesprochen, für die gerade die Anschlussfähigkeit ihrer Arbeit einen Erfolgsfaktor darstellt.
Beginnen wir mit den Rechtsanwälten. Der erste Befund ist überraschend: Das Führen im eigenen Kontext (also: Wie führen wir Beratungsprojekte, Rechtsfälle, Beratungsunternehmen, Kanzleien, Beraterteams … ?) wurde faktisch kaum reflektiert.
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Die befragten Rechtsanwälte zeigten noch weniger das Verständnis, wie man innerhalb einer Organisation Mitarbeiter führt: „Das typische Problem ist: Definiere Führung. Das Wort Chef gibt es unter den Kollegen Anwälten nicht.“ „Man hat sein kleines Reich. Man ist selbständig. Im Team der Kollegen kann man sich Anregung holen und auch mal Unterstützung.“
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Selbstverständlich müssen wir zurückhaltend mit der Interpretation und vor allem deren Generalisierung sein. Wir haben schließlich nur eine kleine Zahl von Beratern interviewt. Aber immerhin geht die bisherige Diagnose mit unserer jahrelangen Erfahrung mit Rechtsanwälten und Unternehmensberatern einher: Juristen versuchen ja nach ihrem Selbstverständnis bewusst und explizit die emotionale und sinnlich erfahrbare Welt weitgehend auszublenden und sich in ihrem Vorgehen, d.h. in ihrer Wahrnehmung und Argumentation so weit wie möglich auf der Sachebene und der logischen Betrachtung zu bleiben. Das haben sie, ähnlich wie der Arzt Hippokrates seinen Göttern Apollon und Asklepios, ihrer zuständigen „Fachheiligen“ Justitia geschworen. Diese entscheidet bekanntlich mit dem Schwert – also eindeutig und mit Konsequenz –, mithilfe einer Waage – also nach sorgfältiger Abwägung der Sachlage – und mit verbundenen Augen – also ohne Ansehen der Person! Zumindest gilt dies in der Zunft weitgehend als das Leitbild, um nicht zu sagen als das Ideal, auch wenn dieses in der Zwischenzeit zunehmend von psychologischen Erkenntnissen „aufgeweicht“ wird.
Führung wird von ihnen dann folgerichtig auch primär sachlich verstanden, z.B. als Führen einer Auseinandersetzung oder Führen eines Prozesses. „Da geht es schlicht und ergreifend darum, tatsächlich in der Sache zu wissen, was los ist und dann Leute zu überzeugen.“
Zugespitzt könnte man sagen: „Hier führt kein Mensch.“ Hier führt das Recht, nicht nur inhaltlich (über Gesetze, Verträge, Rechtsprechung), sondern auch verfahrenstechnisch, ordnungsbezogen und aus der bisherigen eigenen Erfahrung abgeleitet. Die Aufgabe von Juristen – so sehen wir das wenigstens bisher – besteht darin, reale Tatbestände durch Subsumption, Auslegung und Abwägung in das Recht hinein zu übertragen und dann dort wie in einem eigenen Raum argumentativ zu interpretieren und rhetorisch bis logisch zu begründen bzw. zu entscheiden.
Personale Führung allgemein und Mitarbeiterführung im Besonderen werden deshalb stark funktional verstanden und vollzogen. Diktate mit Angabe von Punkt und Komma sind an der Tagesordnung. Das Medium der Kommunikation ist vor allem der Schriftsatz.
Nun kommt es aber doch vor, dass sich mehrere Anwaltskollegen in Kanzleien organisieren. Unter dieser Prämisse könnte man doch noch einmal nach Führung fragen. Die Antworten fallen nüchtern aus: „Führung ist im Endeffekt für mich jemand, der Ziele definiert, auf die ich selber vielleicht nicht gekommen bin.“ „Wir machen eine reine Partnerrunde einmal im Monat, etwas häufiger mit allen angestellten Anwälten, da werden die zu erledigenden Arbeiten verteilt.“ „Und ansonsten ist es eben die Selbstführung.“
Dieses Zitat ist geradezu richtungsweisend: Die „Selbstführung“ hängt natürlich auch direkt mit der Aufteilung in verschiedene Rechtsgebiete und Arbeitsschwerpunkte in den Kanzleien zusammen. Die drückt sich u.a. in einer weitgehenden fachlichen Selbständigkeit der jeweiligen „zuständigen“ Fachexperten aus. Auch in einer relativ hohen organisatorischen Eigenständigkeit, die wiederum verstärkend auf die Art des Selbstverständnisses und die Art der zwischenmenschlichen Kommunikation und der „abgegrenzten Kooperation“ zurückwirkt – und damit auch auf die Art der „Führung“ von Einzelnen und von Teams. Ein professionelles Verständnis der damit verknüpften psychologischen Zusammenhänge ist folglich stark von den individuellen emotionalen und konstruktivistischen Erkenntnissen, Fähigkeiten und Lebenserfahrungen abhängig. Diese stehlen sich sozusagen wie psychologische Mikroben in die Wahrnehmung, die Interpretation und Beurteilung der schließlich „emotionsgereinigten Sachverhalte“ hinein und werden dann im Sinne einer Durchsetzungsrhetorik argumentativ vertreten. Das psychologische Subjektive verkleidet sich somit selbstüberzeugend mit der Robe einer angeblich schwer bestreitbaren „Objektivität“, um damit den Versuch zu legitimieren, sich gegen andere Positionen durchzusetzen. Seinen finalen Ausdruck findet dies in dem Ritual einer richterlichen Entscheidung.
Werfen wir abschließend noch einen kurzen Blick auf die hohe Zunft der Consultants, sei es in der Gilde der Unternehmensberater, der Personalberater oder der Business Coaches. Kommen wir zu einigen wichtigen Eindrücken, auch wenn hier ebenso wie bei den Rechtsanwälten die Einschränkung der geringen Fallzahl und die Gefahr der möglichen Übergeneralisierung bedacht werden muss. Gleichwohl gilt auch hier unsere langjährige Erfahrung, dass die festgestellten Gewohnheiten bzw. Auffälligkeiten zumindest bei einem guten Teil der Beratungskollegen zu beobachten sind, selbst wenn sie nicht die überwiegende Reaktion darstellen sollten. Halten wir uns also einfach an unsere Stichprobe.
Die befragten Gesprächspartner sprachen viel lieber – und nahezu ausschließlich – darüber, wie ihre Klienten „Führung“ praktizieren (im Ist und Soll, im Guten und Schlechten, im Großen und Kleinen), als über ihr eigenes internes bzw. über ihr persönliches Führungsverhalten. Auch die Art und Weise, wie sie ihre Klienten beraten bzw. führen und anleiten, wurde nicht so richtig deutlich. Zumindest nicht so wie gefragt und beabsichtigt! Ihre intellektuelle Flexibilität gab ihnen sozusagen die Möglichkeit zu „shiften“ und auf die gestellten Fragen die ihnen selbst wichtigen Antworten zu geben.
Die Gespräche mit ihnen waren, was ihr spezifisch eigenes Führungsverständnis anbelangt begrenzt ergiebig.
Immerhin bestätigen sie durchweg, worauf es beim Führen in Veränderungs- bzw. Umbruchsituationen ankommt: auf Mitnehmen der Mitarbeiter und anderer Stakeholder, auf intensive Kommunikation, intensive Reflexion, mutiges Herangehen usw. Gemessen an der Vehemenz, mit der sie die Selbstreflexion propagieren, reflektieren sie ihre eigene Führungspraxis allerdings eher abstrakt, weniger differenziert und weniger tief.
Inhaltlich bleibt das geäußerte Führungsverständnis der Berater somit vergleichsweise unklar. Als Führungsanspruch wird u.a. formuliert:
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„die unterschiedlichen Interessenlagen nicht gegen-, sondern miteinander zu verbinden“
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„die Verantwortung für das Ganze, für ein Ergebnis, was in den größeren Zielrahmen des Unternehmens passt“
Und die genannten Aufgaben scheinen eher in einem kurzen reflektiven Brainstorming entstanden zu sein als in einer durchdrungen systematischen bzw. einer persönlichen Betrachtung.
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„Die richtigen Charaktere auswählen und vorbereiten auf das, was auf sie zukommt.“ „Jedes Teammitglied bestmöglich und ressourcenschonend einzusetzen, und das unter Zeitdruck.“
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„Führungskräfte mitnehmen, wirklich in die Betriebe auch reingehen und mit 'nem offenen Ohr, mit 'nem offenen Auge an die Maschinen rangehen und zu versuchen, rauszukriegen, zu spüren: Wo steht die Mannschaft im Moment?“
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„Motivation und Leistungsfähigkeit“
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„Reden miteinander, Kommunizieren, Arbeiten mit Symbolen“
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„ … unterschiedliche Perspektiven einnehmen, weil Perspektiven den Blick aufs Ganze geben“
Ein durchgängiges und gerne vorangetragenes Motiv im beraterischen Selbst- und Führungsverständnis ist Enabling, d.h., die Klienten dabei zu unterstützen, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Hört man genauer hin, dann haben die meisten Berater dabei sehr klare Vorstellungen, wozu sie befähigen möchten und wie sich das methodisch-instrumentell bewerkstelligen lässt. Letzten Endes entpuppt sich Beteiligung oft als normatives Herangehen, bis hin zu der paradoxen Botschaft: „Sie sollten mehr Eigenverantwortung übernehmen!“ Und dann werden Ratschläge gegeben … !
Deutlicher konturiert ist dann wiederum das Anforderungsprofil für die führenden Berater – an sich selbst, z.B. so:
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„Ich brauche Leidenschaft, die über ein Normalmaß hinausgeht, sonst bewirke ich nichts“
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„Ich muss Zugewandtheit zeigen“
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„Inspiration brauche ich“
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„Ich lasse mich nicht beirren“
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„Ich glaube auch wirklich, dass ich als Führungskraft irgendwann gelassen sein muss und auch loslassen muss.“
Fazit: Aus der Sicht von Beratern klingt das Anforderungsprofil an Führungskräfte ganz einfach: Diese sollten am besten einfach so sein, wie es die Berater schon sind, na sagen wir mal: wie die Berater zu sein glauben oder vielleicht auch, wie die Berater selbst gerne sein möchten …
Wir geben es zu: Das ist eine Vereinfachung. Aber eine, für die es viele Beispiele gibt. Und wir geben selbstverständlich auch zu, dass es natürlich ganz unterschiedliche Beraterzünfte und Beraterpersönlichkeiten gibt, die durch verschiedene Richtungsprioritäten gekennzeichnet sein können: „Enabler“ auf der einen Seite, die primär empathisch, anleitend und entwicklungsorientiert arbeiten, wie z.B. Business-Coaches. Und solche Berater, die eher die Dirigentenrolle verinnerlicht zu haben scheinen, da sie von dem Vorsprung von Meistern gegenüber ihren Schülern überzeugt sind. Nun, man könnte auch sagen: Wir reden nicht von Besserwissern. Selbstverständlich gibt es diese. Sondern wir sprechen von den intelligenten besser Wissenden – die es selbstverständlich ja auch gibt …
5.7 Zusammenfassung:
In der Tab. 5.1 werden die obigen Ausführungen nochmals verdichtet zusammengefasst.
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