FormalPara Literatur:

v. Mutius, Albert, Die Vereinigungsfreiheit gemäß Art. 9 Abs. 1 GG, Jura 1984, 193 ff.; Neumann, Dirk, Der Schutz der negativen Koalitionsfreiheit, RdA 1989, 243 ff.; Nolte, Norbert/Planker, Markus, Vereinigungsfreiheit und Vereinsbetätigung, Jura 1993, 635 ff.; Schwarze, Roland, Die verfassungsrechtliche Garantie des Arbeitskampfes – BVerfGE 84, 212, JuS 1994, 653 ff.

FormalPara Fallbearbeitungen:

Aust, Helmut Philipp/Gutmann, Chris, Streikrecht aus Straßburg? Das beamtenrechtliche Streikverbot unter Anpassungsdruck, Jura 2015, 282 ff. Brinktrine, Ralf/Šarčević, Edin, Klausur Nr. 1 (S. 1 ff.); Günther, Thomas/Franz, Einiko B., Grundfälle zu Art. 9 GG, JuS 2006, 787 ff., 873 ff.; Höfling, Wolfram, Fall 11 (S. 123 ff.); Pieroth, Bodo/Görisch, Christoph/Hartmann, Bernd J., Fall Nr. 5 (S. 121 ff.); Pollmann, Holger, Referendarexamensklausur – Öffentliches Recht: Grundrechts‐ und grundfreiheitenkonforme Zwangsmitgliedschaft – Strategische Erdgasreserven, JuS 2010, 626 ff.; Schleusener, Arno, Arbeitsrecht: Die Gewerkschaft in der Gewerkschaft, JuS 2001, 471 ff.; Volkmann, Uwe, Fall 10 (S. 284 ff.).

FormalPara Leitentscheidungen:

BVerfGE 2, 1 ff. (SRP‐Verbot); 15, 235 ff. (Zwangsmitgliedschaft); 50, 290 ff. (Mitbestimmung); 93, 352 ff. (Mitgliederwerbung II); 116, 202 ff. (Tariftreueerklärung); 124, 25 ff. (Kontrahierungszwang für Krankenversicherungen); BVerwG, NVwZ 2014, 736 ff. (Streikrecht für Beamte).

I. Hintergrund

Art. 9 GG verbürgt zwei Grundrechte, nämlich in Abs. 1 die allgemeine Vereinigungsfreiheit und in Abs. 3 die Koalitionsfreiheit. Die Vereinigungsfreiheit wurde bereits in Art. 162 der Paulskirchenverfassung genannt und in Art. 124 WRV geschützt. Bei Art. 9 Abs. 3 GG handelt es sich demgegenüber nicht um ein klassisches Grundrecht. Auch wenn die historische Betrachtung bis zu den Gesellenbünden des frühen Mittelalters zurückreicht,Footnote 1 hat sich die Koalitionsfreiheit erst im Zuge der Industrialisierung im 19. Jahrhundert herausgebildet. In der Paulskirchenverfassung wurde die Koalitionsfreiheit nicht ausdrücklich geschützt. Allenfalls könnte man sie unter die „Vereinigungsfreiheit“ fassen. Art. 9 Abs. 3 GG geht auf den fast wortgleichen Art. 159 WRV zurück. Aus diesem Grund ist die sozial‐ und dogmengeschichtliche Entwicklung der Koalitionsfreiheit bei der Auslegung des Art. 9 Abs. 3 GG besonders zu berücksichtigen.Footnote 2 Die besondere Bedeutung der Vereinigungs‐ und Koalitionsfreiheit wird daran deutlich, dass zahlreiche europäische und internationale Vorschriften zu ihrem Schutz bestehen. Zu nennen sind insbesondere Art. 11 EMRK und Art. 12, 28 GR‐Charta sowie Art. 20 und Art. 23 Nr. 4 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.

In einem demokratisch verfassten Gemeinwesen kommt den Vereinigungen eine große Bedeutung bei der politischen Willensbildung zu. Art. 9 GG ist aus diesem Grund ebenso wie Art. 8 GG eine Komplementärgarantie zur Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG).Footnote 3 Systematisch lässt sich Art. 9 GG demnach nicht nur als Wirtschaftsgrundrecht, sondern auch als Kommunikationsgrundrecht einordnen, da Vereinigungs‐ und Koalitionsfreiheit der „kommunikativen Verfolgung politischer, sozialer und privater Zwecke“Footnote 4 dienen.

II. Vereinigungsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 GG)

Fall 26: Missliebige Zwangsmitgliedschaft

Die Versicherungsmaklerin V betätigt sich im Bezirk der Industrie‐ und Handelskammer B (IHK B). Bereits in der Vergangenheit hat V sich über diese „antiquierte Organisation“ geärgert, die doch nur von ihren Beiträgen lebe, ohne irgendeinen Nutzen für ihre Mitglieder zu bringen. Wegen der Weite des Gewerbebegriffs und der damit einhergehenden Vielfalt der Mitglieder fühle sie sich sowieso nicht richtig repräsentiert. Als im Vorfeld einer Bundestagswahl die IHK B ganzseitige Zeitungsanzeigen unter der Überschrift „Ein wirtschaftlich denkender Mensch kann nicht die S‐Partei wählen“ veranlasst, reicht es der V, die sich der S‐Partei zugehörig fühlt. Der kurz nach der Anzeigenveröffentlichung bei ihr eintreffende Beitragsbescheid regt die V derartig auf, dass sie – weil sie sich nicht anders zu helfen weiß – direkt an das BVerfG schreibt und Verfassungsbeschwerde gegen die Pflichtmitgliedschaft in der IHK B nach dem IHK‐G einlegt.

1. Ist die Verfassungsbeschwerde der V zulässig und begründet? Nehmen Sie zu den aufgeworfenen Fragen – gegebenenfalls hilfsgutachterlich – Stellung.

2. Kann sich die V dagegen wehren, dass sich die IHK B allgemeinpolitisch äußert?

§ 1 Abs. 1 IHK‐G: Die Industrie‐ und Handelskammern haben (…) die Aufgabe, das Gesamtinteresse der ihnen zugehörigen Gewerbetreibenden ihres Bezirkes wahrzunehmen, für die Förderung der gewerblichen Wirtschaft zu wirken und dabei die wirtschaftlichen Interessen einzelner Gewerbezweige oder Betriebe abwägend und ausgleichend zu berücksichtigen; dabei obliegt es ihnen insbesondere, durch Vorschläge, Gutachten und Berichte die Behörden zu unterstützen und zu beraten sowie für Wahrung von Anstand und Sitte des ehrbaren Kaufmanns zu wirken.

§ 2 Abs. 1 IHK‐G: Zur Industrie‐ und Handelskammer gehören (…) natürliche Personen, (…) welche im Bezirk der Industrie‐ und Handelskammer entweder eine gewerbliche Niederlassung oder eine Betriebsstätte oder Verkaufsstelle unterhalten.

§ 3 IHK‐G

(1) Die Industrie‐ und Handelskammer ist Körperschaft des öffentlichen Rechts.

(2) Die Kosten der Errichtung und Tätigkeit der Industrie‐ und Handelskammer werden (…) durch Beiträge der Kammerzugehörigen (…) aufgebracht.

Fall nachgebildet BVerwGE 107, 169 ff.

1. Schutzbereich

a) Persönlicher Schutzbereich

aa) Individuelle Vereinigungsfreiheit

Bei der Vereinigungsfreiheit handelt es sich nach Art. 9 Abs. 1 GG um ein sog. Deutschen‐Grundrecht. Ausländern ist die Vereinsbildung bzw. die entsprechende Betätigung nicht untersagt; sie können sich nur nicht auf ein spezielles Grundrecht zu ihrem Schutze berufen, sondern sind auf das Auffanggrundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG verwiesen.Footnote 5

bb) Kollektive Vereinigungsfreiheit

Personenmehrheiten können sich grundsätzlich nur nach Maßgabe des Art. 19 Abs. 3 GGFootnote 6 auf die Grundrechte berufen. Bei der Vereinigungsfreiheit nach Art. 9 Abs. 1 GG ebenso wie bei der Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 GG gehen indes sowohl Rechtsprechung als auch weite Teile der Literatur davon aus, dass die Vereinigungen bzw. Koalitionen unmittelbar aus dem entsprechenden Grundrecht berechtigt sind.Footnote 7 Deshalb wird Art. 9 GG auch als Doppelgrundrecht bezeichnet. Die GegenauffassungFootnote 8 möchte auch bei der Vereinigungsfreiheit keine Ausnahme von der üblichen Grundrechtsdogmatik machen und zieht deshalb Art. 19 Abs. 3 GG heran. Für den Grundrechtsschutz ergeben sich aber im Ergebnis keine Unterschiede, zumal auch die erstgenannte Ansicht in Anlehnung an Art. 19 Abs. 3 GG den Grundrechtsschutz der Vereinigungsfreiheit auf solche Vereinigungen beschränkt, die ihren Sitz in der Bundesrepublik haben.Footnote 9

Hinweis zur Fallbearbeitung:

In einer Klausur kann der überwiegenden Ansicht, die die Grundrechtsberechtigung von Personenmehrheiten unmittelbar aus Art. 9 GG herleitet, gefolgt werden. Ein kurzer Hinweis darauf, dass auch die Gegenauffassung über Art. 19 Abs. 3 GG den persönlichen Schutzbereichs eröffnet sieht, reicht aus.

Da es sich bei der Vereinigungsfreiheit um ein so genanntes Deutschen‐Grundrecht handelt, werden auch Vereine, deren Mitglieder oder Leiter sämtlich oder überwiegend Ausländer sind (sog. Ausländervereine) nicht durch Art. 9 Abs. 1 GG geschützt.Footnote 10 In diesen Fällen erfolgt – wie auch bei der individuellen Koalitionsfreiheit – ein grundrechtlicher Schutz allein nach Maßgabe von Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 19 Abs. 3 GG.

b) Sachlicher Schutzbereich

aa) Positive Vereinigungsfreiheit
(1) Begriff der Vereinigung

Art. 9 Abs. 1 GG gewährleistet das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden; Oberbegriff hierfür ist die „Vereinigung“ . Die verfassungsrechtliche Definition der Vereinigung stimmt mit der Legaldefinition des Vereins in § 2 Abs. 1 VereinsG überein: „Verein im Sinne dieses Gesetzes ist ohne Rücksicht auf die Rechtsform jede Vereinigung, zu der sich eine Mehrheit natürlicher oder juristischer Personen für längere Zeit zu einem gemeinsamen Zweck freiwillig zusammengeschlossen und einer organisierten Willensbildung unterworfen hat.“

Hinweis zur Fallbearbeitung:

Der Verweis auf § 2 Abs. 1 VereinsG ist nur als eine Merkhilfe zu verstehen, da unter Beachtung der Normenhierarchie eine einfachrechtliche Definition nicht den Inhalt des Verfassungsrechts bestimmen kann.Footnote 11 Der Begriff der Vereinigung ist eigenständig aus der Verfassung zu gewinnen. Aus diesem Grund darf in einer Klausur zur Definition der Vereinigung nicht auf § 2 Abs. 1 VereinsG abgestellt werden.

Der Hinweis auf die „Rechtsform“ deutet auf eine Besonderheit des Art. 9 Abs. 1 GG hin: Wie Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 14 Abs. 1 GG ist auch Art. 9 Abs. 1 GG ein – wenn auch nur teilweise – normgeprägtes Grundrecht.Footnote 12 Denn ein Zusammenschluss von Menschen in einer Vereinigung ist zwar auch ohne Zutun des Staates auf Grund freier Willensübereinkunft möglich. Eine rechtliche Vereinigung ist hingegen nur dann möglich, wenn die Rechtsordnung dazu entsprechende Möglichkeiten bereitstellt. Auf diesen Aspekt bezieht sich die in Art. 9 Abs. 1 GG enthaltene Einrichtungsgarantie Footnote 13 zunächst, wenn sie vom Staat die Bereitstellung einer hinreichenden Vielfalt dieser Möglichkeiten verlangt. Dies ist etwa durch das BGB‐Vereinsrecht, das Recht der Personengesellschaften (§§ 705 ff. BGB, §§ 105 ff. HGB) und das Recht der Kapitalgesellschaften (u. a. AktG, GmbHG) geschehen. Darüber hinaus werden die Vereinigungen erst durch die Ausgestaltung ihrer rechtlichen Möglichkeiten in die Lage versetzt, am Rechtsverkehr teilzunehmen und sich rechtlich zu binden. Auch insoweit muss der Staat folglich Regelungen schaffen.

Nach umstrittener Ansicht reichen bereits zwei Personen aus, um eine Vereinigung zu gründen;Footnote 14 die Ein‐Mann‐GmbH (vgl. § 1 GmbHG) ist jedenfalls keine Vereinigung. Kennzeichnendes Merkmal der Vereinigung ist zunächst die Freiwilligkeit des Zusammenschlusses; ZwangsverbändeFootnote 15 öffentlich‐rechtlicher und privatrechtlicher Natur werden vom Schutzbereich des Art. 9 GG nicht erfasst. An den gemeinsamen Zweck werden keine besonderen Anforderungen gestellt. Der Schutz des Art. 9 Abs. 1 GG bezieht sich nicht nur auf politische Vereine. Erfasst werden sämtliche Zusammenschlüsse, seien sie wirtschaftlicher, politischer oder rein ideeller Natur. Bestimmte Beschränkungen werden – im Gegensatz zu den Koalitionen nach Abs. 3 – nicht aufgestellt. Die Rechtsform ist ebenfalls nicht entscheidend, sodass die lose verbundene Bürgerinitiative genauso als Vereinigung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 GG anzusehen ist wie die Aktiengesellschaft. Allein maßgeblich ist, ob eine gewisse organisatorische Festigkeit besteht, die sich z. B. in einer gemeinsamen Willensbildung äußert. Öffentlich‐rechtliche Vereinigungen können nicht von Privatpersonen gebildet werden, da sie auf einem staatlichen Hoheitsakt beruhen. Einen Anspruch auf deren Erlass gewährt Art. 9 GG nicht.

Nach verbreiteter, allerdings wohl nicht vom BVerfG geteilter Ansicht handelt es sich bei Art. 9 Abs. 2 GG nicht um eine Schutzbereichsbegrenzung, sondern um einen qualifizierten Gesetzesvorbehalt.Footnote 16 Diese dogmatische Einordnung hat zur Folge, dass auch eine gegen die verfassungsmäßige Ordnung gerichtete Vereinigung bis zu einem Verbot von Art. 9 Abs. 1 GG geschützt wird. Insoweit besteht ein Unterschied zur Versammlungsfreiheit nach Art. 8 GG, deren Schutzbereich sich nur auf friedliche und ohne Waffen durchgeführte Versammlungen erstreckt.Footnote 17 Letztlich soll das Verständnis von Art. 9 Abs. 2 GG als Schranke der Vereinigungsfreiheit der Rechtssicherheit dienen. Eine Vereinigung soll nicht bereits nach Art. 9 Abs. 2 GG, sondern erst aufgrund eines (konstitutiven) Verbots nach § 3 Abs. 1 VereinsG als verboten angesehen werden. Diese Argumentation ist allerdings fragwürdig. Rechtsunsicherheit entsteht allein dann, wenn Art. 9 Abs. 2 GG als verfassungsunmittelbares Verbot verstanden wird, dessen Vollzug keiner weiteren Exekutivmaßnahmen bedarf. In diesem Fall bestünde die Schwierigkeit festzustellen, ob im Einzelfall eine Vereinigung als verboten anzusehen ist oder noch nicht den Tatbestand des Art. 9 Abs. 2 GG erfüllt. Soweit Abs. 2 kein so weitgehender Bedeutungsgehalt beigemessen wird, bleibt bei einer entsprechenden Schutzbereichsbegrenzung immer noch der Schutz durch Art. 2 Abs. 1 GG, bei dessen Auslegung der Art. 9 Abs. 1 GG zu berücksichtigen ist. Damit ist gewährleistet, dass ein Vereinsverbot nur auf einer gesetzlichen Grundlage erfolgt und damit der Rechtssicherheit genügt. Auf einen das Verbot konkretisierenden Verwaltungsakt kann nicht verzichtet werden.Footnote 18

Gegenüber spezielleren grundrechtlichen Gewährleistungen tritt Art. 9 GG zurück: Nach Ansicht des BVerfG ist die religiöse Vereinigungsfreiheit durch Art. 4 Abs. 1, 2 GG i. V. m. Art. 140 GG und Art. 137 WRV gewährleistet.Footnote 19 Entsprechendes gilt für die politischen Parteien; für diese ist Art. 21 GG lex specialis.Footnote 20 Da Stiftungen als rechtliche Verselbstständigung von Vermögensmassen ein personeller Zusammenschluss fehlt, findet Art. 9 Abs. 1 GG keine Anwendung. Ein Schutz erfolgt im Wesentlichen durch Art. 14 GG.

BVerwGE 106, 177 (180 f.): „Denn anders als bei einer Vereinigung, bei der sich eine Mehrheit natürlicher oder juristischer Personen oder Personenvereinigungen für längere Zeit zur Verfolgung eines gemeinsamen Zweckes auf freiwilliger Basis zusammenschließt und einer einheitlichen Willensbildung unterwirft, fehlt es bei einer Stiftung (…) an einer verbandsmäßigen Organisation. Sie weist keinen personellen Zusammenschluss auf, sondern ist eine auf Ausstattung mit einem Vermögen angelegte, nicht in einem Personenverband bestehende selbstständige juristische Person zur Erreichung eines dauernden Zwecks. Schon wegen des bei einer Stiftung fehlenden personalen Bezugs, wie er für Vereinigungen prägend ist, erstreckt sich der Schutzbereich des Art. 9 GG nicht auf Stiftungen.“

(2) Geschütztes Verhalten

Nach seinem Wortlaut schützt Art. 9 Abs. 1 GG als individuelle Vereinigungsfreiheit die Bildung von Vereinen und Gesellschaften und damit das „Prinzip freier sozialer Gruppenbildung“.Footnote 21 Hierunter ist die Entscheidung über den Zeitpunkt der Gründung, den Zweck, die Rechtsform, den Namen, die Satzung und den Sitz der Vereinigung zu verstehen (sog. Vereinsautonomie). Eine Vereinigungsfreiheit, die sich hierauf beschränken würde, wäre relativ wirkungslos. Deshalb werden durch Art. 9 Abs. 1 GG über den Wortlaut hinausgehend auch der Beitritt zu einer bestehenden Vereinigung, der Verbleib in einer Vereinigung und die auf die Verwirklichung des Vereinszwecks gerichtete vereinsspezifische Betätigung (Einberufen und Abhalten von Vereinssitzungen, Wahl eines Vereinsvorstandes etc.) umfassend geschützt.

Da Art. 9 Abs. 1 GG – im Gegensatz zu Abs. 3 – keine unmittelbare Drittwirkung aufweist, kann sich der Einzelne nicht auf die Vereinigungsfreiheit berufen, soweit er in eine Vereinigung aufgenommen werden möchte bzw. aus einer Vereinigung ausgeschlossen werden soll. Art. 9 Abs. 1 GG findet dagegen vermittelt durch das Privatrecht Eingang in die Beziehungen Privater. So kann sich ein Aufnahmeanspruch aus §§ 242, 826 BGB ergeben, wenn die Vereinigung eine Monopolstellung oder „wenn ein Verein oder Verband im wirtschaftlichen oder sozialen Bereich eine überragende Machtstellung innehat und ein schwer wiegendes Interesse von Beitrittswilligen am Erwerb der Mitgliedschaft besteht“.Footnote 22

Art. 9 Abs. 1 GG umfasst zudem die kollektive Vereinigungsfreiheit. Geschützt wird zunächst die interne Struktur der Vereinigung, ihre „Selbstbestimmung über die eigene Organisation, das Verfahren ihrer Willensbildung und die Führung ihrer Geschäfte“.Footnote 23 Wieweit die Betätigung der Vereinigung – also ihre Außenwirkung – geschützt wird, ist umstritten. Nach Ansicht des BVerfG wird jedenfalls ein Kernbereich des Vereinsbestandes und der Vereinsbetätigung von Art. 9 Abs. 1 GG gewährleistet. Dieser Kernbereich erfasst die Existenz und die Funktionsfähigkeit der Vereinigung. Entschieden hat das BVerfG beispielsweise, dass die NamensführungFootnote 24 sowie die für die Existenz bedeutsame werbewirksame SelbstdarstellungFootnote 25 geschützt werden.

Zu beachten ist, dass die Betätigungen der Vereine, mit denen sie nach außen treten und mit dem Staat und Dritten in Konflikt kommen können, vielfach dem Schutzbereich anderer Grundrechte als Art. 9 GG unterfallen, ohne dass sie einen Bezug zur vereinsmäßigen Struktur aufweisen. Ein entsprechendes Verhalten, das genauso von Einzelpersonen oder von Zusammenschlüssen ohne organisatorische Willensbildung in gleicher Weise vorgenommen werden könnte, ist nicht von Art. 9 Abs. 1 GG geschützt.Footnote 26 Begründet wird dieses Verständnis damit, dass die gemeinschaftliche Zweckverfolgung (der Vereinigung) keinen größeren Schutz erhalten soll als die individuelle Zweckverfolgung.Footnote 27 So ist für die Frage, ob eine Bürgerinitiative eine Demonstration veranstalten darf, Art. 8 GG maßgebend. Bestimmte behördliche Auflagen für technische Anlagen berühren die den betroffenen Betrieb leitende Gesellschaft in Art. 12 GG und gegebenenfalls in Art. 14 GG, nicht jedoch in Art. 9 Abs. 1 GG. Ein Rauchverbot in für die öffentlich zugänglichen Räumlichkeiten eines als Verein organisierten „Raucherclubs“ ist an der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG zu messen, nicht hingegen an der Vereinigungsfreiheit.Footnote 28 Auch soweit der Gesetzgeber Versicherungsunternehmen bestimmte Tarife vorschreibt, wird nur die Vertrags‐ und Kalkulationsfreiheit eines Versicherungsunternehmens berührt, hingegen nicht der spezielle, auf das Prinzip freier sozialer Gruppenbildung bezogene Schutzbereich der Vereinigungsfreiheit.Footnote 29

bb) Negative Vereinigungsfreiheit
(1) Schutz der negativen Vereinigungsfreiheit

Art. 9 Abs. 1 GG schützt nach seinem Wortlaut das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden. Ganz überwiegend geht man aber noch einen Schritt weiter und sieht auch den Schutz vor der Vereinigung als mitumfasst an (sog. negative Vereinigungsfreiheit).Footnote 30 Die negative Vereinigungsfreiheit schützt die Freiheit, einer Vereinigung nicht beizutreten sowie die Freiheit, aus einer Vereinigung auszutreten. Dem Wortlaut des Art. 9 Abs. 1 GG lässt sich dieses Recht nicht entnehmen. Die Vertreter dieser Ansicht berufen sich zumeist auf logische Erwägungen. Demnach sei der Beitritt zu einer Vereinigung nur dann wirklich frei, wenn der Einzelne genauso die Möglichkeit habe, einer Vereinigung fernzubleiben. Freiheit zum Handeln bestehe nur, wenn es auch die Freiheit zum Unterlassen gebe; bildlich gesprochen wird das auf der positiven Seite geschützte Verhalten gespiegelt.

Gegen die Herleitung der negativen Vereinigungsfreiheit aus Art. 9 Abs. 1 GG wird eingewandt, dass der eindeutige Wortlaut des Art. 9 Abs. 1 GG nur vom „Bilden“ einer Vereinigung spricht und damit ein aktives Verhalten meint. Bei einigen Grundrechten wird dagegen im Grundgesetz explizit eine negative Komponente genannt. So enthält Art. 12 Abs. 2 und 3 GG das Verbot von Arbeitszwang und Zwangsarbeit. Durch Art. 136 Abs. 3 WRV i. V. m. Art. 140 GG wird dem Einzelnen das Recht verbürgt, seine religiöse Überzeugung nicht mitteilen zu müssen. Gleiches gilt für die von Art. 140 GG i. V. m. Art. 136 Abs. 4 WRV erfasste Freiheit, nicht an religiösen Veranstaltungen teilnehmen zu müssen.Footnote 31 Weiterhin wird kritisiert, dass die spiegelbildliche Ableitung der negativen Freiheit beim Schutz vor öffentlich‐rechtlichen Zwangsverbänden versagt.Footnote 32 Für die Freiheit des Einzelnen ergebe es jedoch keinen Unterschied, welcher Rechtsnatur die Vereinigung sei, in die er gezwungen werde. Die negative Vereinigungsfreiheit versage ihren Schutz dann, wenn er am dringendsten benötigt werde.Footnote 33

Gegen das Argument, wirkliche Freiheit bestehe nur dann, wenn neben der Freiheit zum Handeln die Freiheit zum Unterlassen gleichermaßen geschützt sei,Footnote 34 lässt sich einwenden, dass die Freiheit zum Unterlassen auch dann besteht, wenn sie grundrechtlich nicht geschützt ist. Der Mensch bedarf keiner staatlichen Ermächtigung, um etwas zu tun oder nicht zu tun. Etwas anderes wäre dann gegeben, wenn es eine Pflicht gäbe, Vereinigungen zu gründen oder ihnen beizutreten. Nur in diesen Fällen bedürfte das Unterlassen einer besonderen „Erlaubnis“. Eine solche Pflicht kann Art. 9 Abs. 1 GG nicht entnommen werden. Schließlich erfährt die negative Vereinigungsfreiheit grundrechtlichen Schutz im Rahmen der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG.Footnote 35

(2) Schutz vor öffentlich‐rechtlichen Vereinigungen

Soweit davon ausgegangen wird, dass Art. 9 Abs. 1 GG die negative Vereinigungsfreiheit umfasst, ist umstritten, ob dieser Schutz auch im Hinblick auf Zwangsmitgliedschaften in öffentlich‐rechtlichen Vereinigungen Anwendung findet. Zweck dieser Vereinigungen ist es, den Bürger in eigener Verantwortung an der Staatsverwaltung zu beteiligen; insofern wird auch von mittelbarer Staatsverwaltung gesprochen. Als Beispiele sind zu nennen: Bundesrechtsanwaltskammer, Industrie‐ und Handelskammer, verfasste Studentenschaft (der AStA ist ihr Organ), Handwerkskammer.

Wenn die negative Seite dogmatisch als Spiegelbild der positiven Seite begründet wird, wird es nachvollziehbar, dass sich die negative Vereinigungsfreiheit aus Art. 9 Abs. 1 GG nicht auf den Schutz vor öffentlich‐rechtlichen Zwangsvereinigungen erstreckt.Footnote 36 Dem Bürger kommt nicht das Recht zu, eine öffentlich‐rechtliche Vereinigung zu bilden. Folglich besteht auch kein spiegelbildliches Recht einer öffentlich‐rechtlichen Vereinigung fernzubleiben („wo nichts ist, kann auch nichts gespiegelt werden“). Ausgehend von dieser Prämisse wird der Zwang zum Beitritt zu öffentlich‐rechtlichen Vereinigungen allein von Art. 2 Abs. 1 GG erfasst.

Nach einer im Schrifttum vertretenen AuffassungFootnote 37 soll die sich aus Art. 9 Abs. 1 GG ergebende negative Vereinigungsfreiheit auch vor öffentlich‐rechtlichen Vereinigungen schützen. Denn für den Bürger mache es keinen Unterschied, ob die Vereinigung, in die er gezwungen wird, öffentlich‐rechtlicher oder privatrechtlicher Natur ist. Schließlich habe die Vereinigungsfreiheit historisch gerade gegen hoheitliche Zwangszusammenschlüsse wie beispielsweise Zünfte gedient. Außerdem stelle das bloße Fernbleiben von einem öffentlich‐rechtlichen Verband keine Inanspruchnahme öffentlich‐rechtlicher Handlungsformen dar und könne deshalb nicht mit der Gründung eines öffentlich‐rechtlichen Verbandes verglichen werden. Diese Ansicht hat jedoch Schwierigkeiten zu begründen, wie sich die bestehenden öffentlich‐rechtlichen Zwangsverbände, die teilweise schon vor Inkrafttreten des GG gegründet wurden, unter grundrechtsdogmatischen Gesichtspunkten rechtfertigen lassen.

Sieht man indes die negative Vereinigungsfreiheit nicht durch Art. 9 GG geschützt,Footnote 38 ist ein Schutz durch Art. 2 Abs. 1 GG gegeben, unabhängig davon, ob es um eine Vereinigung des privaten oder des öffentlichen Rechts geht.

BVerfG, NVwZ 2002, 335 (336): „1. Der Schutzbereich von Art. 9 Abs. 1 GG ist nicht berührt. Art. 9 Abs. 1 GG schützt nicht vor einer gesetzlich angeordneten Eingliederung in eine öffentlich‐rechtliche Körperschaft.

a) Der Schutz der Vereinigungsfreiheit greift ein, wenn es um einen privatrechtlichen Zusammenschluss natürlicher oder juristischer Personen geht, der auf Dauer angelegt ist, auf der Basis der Freiwilligkeit erfolgt, zur Verfolgung eines gemeinsamen Zwecks konstituiert ist und eine organisierte Willensbildung aufweist (…). Damit ist das Element der Freiwilligkeit für den in Art. 9 Abs. 1 GG verwandten Vereinsbegriff konstituierend. Vereinigungen, die ihre Entstehung und ihren Bestand nicht grundrechtsinitiierter Freiwilligkeit verdanken – wie hier die Industrie‐ und Handelskammer –, unterfallen daher von vornherein nicht dem Vereinsbegriff des Art. 9 Abs. 1 GG.

b) Auch aus der Entstehungsgeschichte folgt, dass Art. 9 Abs. 1 GG nicht i. S. eines umfassenden Fernbleiberechts gegenüber öffentlich‐rechtlichen Verbänden verstanden werden kann. Schon im Verfassungskonvent von Herrenchiemsee wurde der Vorschlag der Ergänzung der Vereinigungsfreiheit um eine Regelung, dass niemand solle gezwungen werden dürfen, sich einer Vereinigung anzuschließen, abgelehnt. Die Ablehnung gründete sich auf die möglicherweise bestehende Notwendigkeit, auch künftig Angehörige bestimmter Berufe in öffentlich‐rechtlichen Organisationen verpflichtend zusammenzufassen. Auf dieser eindeutigen Stellungnahme bauen die Beratungen des Parlamentarischen Rats auf. Dieser trennte die allgemeine Vereinigungsfreiheit von den arbeitsverfassungsrechtlichen Problemen, fasste aber beide Aspekte der Vereinigungsfreiheit in einen Artikel, wobei nur für die Koalitionsfreiheit ein ausdrückliches Fernbleiberecht diskutiert wurde. Den Mitgliedern des Parlamentarischen Rats war in dieser Diskussion die Existenz berufsständischer Zwangszusammenschlüsse bewusst. Diesen alten Traditionszusammenhang wollten sie weder unterbrechen noch aufheben, sonst hätte dies besonders zum Ausdruck gebracht werden müssen.

c) Wenn vom BVerfG der Schutzbereich des Art. 9 Abs. 1 GG in ständiger Rspr. auf das Recht ausgedehnt wird, einer Vereinigung fernzubleiben, so reicht dieser Schutz der negativen Vereinigungsfreiheit daher nicht weiter als der Schutzbereich der positiven Gewährleistung. Den Bürgerinnen und Bürgern ist die Freiheit garantiert, sich auf freiwilliger Basis zusammenzuschließen, und der Staat darf nicht andere Bürger zwingen, sich diesem freiwilligen Zusammenschluss anzuschließen.

2. Prüfungsmaßstab für den Schutz gegen die Inanspruchnahme als Mitglied einer Zwangskorporation ist nach ständiger Rspr. des BVerfG Art. 2 Abs. 1 GG. Diese Vorschrift stellt ein hinreichendes Instrument zur Abwehr unnötiger Pflichtverbände dar und erlaubt damit auch, dem Prinzip der freien sozialen Gruppenbildung, das Art. 9 Abs. 1 GG nach der Rspr. des BVerfG zu Grunde liegt, gerecht zu werden. Zugleich lässt dieser Prüfungsmaßstab aber dem Staat genügende Gestaltungsfreiheit, damit er seine Aufgaben angemessen wahrnehmen kann.“

Hinweis zur Fallbearbeitung:

  • Negative Vereinigungsfreiheit: In einer Klausur kann der Schutz der negativen Vereinigungsfreiheit durch Art. 9 Abs. 1 GG bejaht werden, ohne sich weiter mit dem Streit auseinanderzusetzen. In einer Hausarbeit kann es hingegen geboten sein, auf die Problematik näher einzugehen.

  • Schutz vor öffentlich‐rechtlichen Zwangsvereinigungen: Mit der Frage nach dem Bestehen einer negativen Vereinigungsfreiheit ist die Frage verknüpft, ob der Schutzbereich auch den Zwang zum Beitritt zu öffentlich‐rechtlichen Vereinigungen umfasst. Da hier einer der Schwerpunkte der Klausur liegen wird, ist auf den Streit detailliert einzugehen.

2. Eingriffe

Eingriffe in Art. 9 Abs. 1 GG sind alle Regelungen, die die Ausübung der Vereinigungsfreiheit behindern. Die schwerste Form des Eingriffs ist das Verbot, wobei zu berücksichtigen ist, dass nach einem Verbot der Verein im Rahmen des gerichtlichen Rechtsschutzes noch prozessfähig und grundrechtsfähig ist.Footnote 39 Aber auch gesetzliche Anforderungen an eine Vereinsgründung, wie z. B. die präventive Kontrolle durch ein Konzessionssystem, beeinträchtigen den Schutzbereich. Darüber hinaus können faktische Beeinträchtigungen von einigem Gewicht wie etwa die nachrichtendienstliche Unterwanderung als Eingriffe zu werten sein.Footnote 40 In der Pflicht zur Aufnahme neuer Mitglieder kann ebenfalls ein Eingriff in Art. 9 Abs. 1 GG zu sehen sein.Footnote 41

Abzugrenzen sind Eingriffe in die Vereinigungsfreiheit von Ausgestaltungen.Footnote 42 Soweit die Normprägung des Art. 9 Abs. 1 GG reicht, ist der Staat berechtigt und verpflichtet, Regelungen über das Vereinswesen zu treffen, die trotz beschränkender Wirkungen keine Grundrechtseingriffe darstellen. Dazu gehören vor allem Regelungen, die die unterschiedlichen Vereins‐ und Gesellschaftsformen und ihre Teilnahme am Rechtsverkehr zum Gegenstand haben. Auch die Veränderung bereits bestehender Vereinigungstypen stellt keinen Eingriff dar, weil bestehende Ausgestaltungen keinen Verfassungsrang haben.Footnote 43 Gleichwohl ist der Gesetzgeber im Rahmen der Ausgestaltung nicht völlig frei. Sein Handeln muss auf einen Ausgleich gerichtet sein, der geeignet ist, die freie Assoziation und Selbstbestimmung der Vereinigung unter Berücksichtigung der Notwendigkeiten eines geordneten Vereinslebens und der schutzbedürftigen sonstigen Belange zu ermöglichen und zu erhalten. Er hat die Grundlagen des Vereinsrechts so zu gestalten, dass seine Regelung die Funktionsfähigkeit der Vereinigungen gewährleistet.Footnote 44

3. Rechtfertigung von Eingriffen

a) Schranken

Die Vereinigungsfreiheit steht nicht ausdrücklich unter einem Gesetzesvorbehalt, sofern man nicht Art. 9 Abs. 2 GG als solchen ansieht.Footnote 45 Die genannten Verbotsgründe sind abschließend. Sie gelten auch für Religionsgemeinschaften.Footnote 46 Darüber hinaus besteht die Möglichkeit der Einschränkung auf Grund kollidierenden Verfassungsrechts.

b) Schranken‐Schranken

Das Verbot einer Vereinigung ist nur bei Vorliegen der in Art. 9 Abs. 2 GG genannten Voraussetzungen und unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes möglich. „Strafgesetze“ sind nur die allgemeinen Strafgesetze, die kein gegen die Vereinigungsfreiheit gerichtetes Sonderstrafrecht darstellen. Andernfalls stünde die Vereinigungsfreiheit zur Disposition des Gesetzgebers.Footnote 47 Insofern besteht eine Parallele zur Sonderrechtslehre, die die Einschränkung der Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG betrifft.Footnote 48 Gegen den Gedanken der Völkerverständigung verstößt eine Vereinigung dann, wenn sie die rassische oder nationale Minderwertigkeit bestimmter Gruppen propagiert. Bloße Kritik an fremden Staaten oder die Ablehnung politischer Kontakte zu bestimmten Staaten ist nicht ausreichend; ein Verhalten nach Art. 26 GG (Störung des friedlichen Zusammenlebens der Völker) genügt aber in jedem Fall.Footnote 49 Die „verfassungsmäßige Ordnung“ ist nicht wie bei Art. 2 Abs. 1 GG umfassend zu verstehen. Ansonsten hätte Art. 9 Abs. 1 GG neben Art. 2 Abs. 1 GG keine eigene Bedeutung. Vielmehr ist die verfassungsmäßige Ordnung entsprechend Art. 18 S. 1 GG und Art. 21 Abs. 2 S. 1 GG als „freiheitlich demokratische Grundordnung“ auszulegen.Footnote 50

BVerfGE 2, 1 (12 f.) (SRP‐Verbot): „Die besondere Bedeutung der Parteien im demokratischen Staat rechtfertigt ihre Ausschaltung aus dem politischen Leben nicht schon dann, wenn sie einzelne Vorschriften, ja selbst ganze Institutionen der Verfassung mit legalen Mitteln bekämpfen, sondern erst dann, wenn sie oberste Grundwerte des freiheitlichen demokratischen Verfassungsstaates erschüttern wollen. Diese Grundwerte bilden die freiheitliche demokratische Grundordnung, die das GG innerhalb der staatlichen Gesamtordnung – der ‚verfassungsmäßigen Ordnung‘ – als fundamental ansieht. Dieser Grundordnung liegt letztlich nach der im GG getroffenen verfassungspolitischen Entscheidung die Vorstellung zu Grunde, dass der Mensch in der Schöpfungsordnung einen eigenen selbstständigen Wert besitzt und Freiheit und Gleichheit dauernde Grundwerte der staatlichen Einheit sind. Daher ist die Grundordnung eine wertgebundene Ordnung. Sie ist das Gegenteil des totalen Staates, der als ausschließliche Herrschaftsmacht Menschenwürde und Gleichheit ablehnt. So lässt sich die freiheitliche demokratische Grundordnung als eine Ordnung bestimmen, die unter Ausschluss jeglicher Gewalt‐ und Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit darstellt. Zu den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung sind mindestens zu rechnen: die Achtung vor den im GG konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteiensystem und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition.“

In jedem Fall ist es erforderlich, dass sich die Vereinigung gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder die Völkerverständigung richtet, was eine „aggressiv kämpferische Haltung“ voraussetzt.Footnote 51 Dies entspricht der Rechtsprechung des BVerfG hinsichtlich eines Parteiverbots nach Art. 21 Abs. 2 S. 1 GG.

BVerfGE 5, 85 (141) (KPD‐Verbot): „Eine Partei ist auch nicht schon dann verfassungswidrig, wenn sie diese obersten Prinzipien einer freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht anerkennt, sie ablehnt, ihnen andere entgegensetzt. Es muss vielmehr eine aktiv kämpferische, aggressive Haltung gegenüber der bestehenden Ordnung hinzukommen; sie muss planvoll das Funktionieren dieser Ordnung beeinträchtigen, im weiteren Verlauf diese Ordnung selbst beseitigen wollen. Das bedeutet, dass der freiheitlich‐demokratische Staat gegen Parteien mit einer ihm feindlichen Zielrichtung nicht von sich aus vorgeht; er verhält sich vielmehr defensiv, er wehrt lediglich Angriffe auf seine Grundordnung ab. Schon diese gesetzliche Konstruktion des Tatbestandes schließt einen Missbrauch der Bestimmung im Dienste eifernder Verfolgung unbequemer Oppositionsparteien aus.“

III. Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG)

Fall 27: 5000 Plus

Die Polizeigewerkschaft P möchte in Nordrhein‐Westfalen eine Kampagne durchführen, um die Neueinstellung von Polizeibediensteten zu erreichen. Durch die Neueinstellungen sollen die Beschäftigten entlastet werden. Aus diesem Grund veranstaltet sie eine landesweite Unterschriftenaktion. Mit einem Flugblatt wirbt sie unter Hinweis auf mehr als sieben Millionen geleisteter Überstunden für die Einstellung von 5000 neuen Polizeibediensteten. Außerdem sammelt sie Unterschriften. In einer mit dem Emblem der P versehenen „Eintragungsliste“ heißt es: „Die unterzeichneten Eintragungsberechtigten begehren die Befassung des Landtages mit dem folgenden Gegenstand der politischen Willensbildung: Sicherung und Ausbau der inneren Sicherheit durch Einstellungen in den Polizeidienst statt Personalabbau!“ Die P führt die Aktion nicht nur auf Straßen und öffentlichen Plätzen durch, sondern legt Flugblätter und Unterschriftenlisten auch im öffentlich zugänglichen Bereich von Polizeidienststellen aus, damit sie nicht nur von den Polizeibediensteten, sondern auch von allen Bürgern gesehen und unterzeichnet werden können. Das Innenministerium sieht durch die Aktion der P die Neutralität der Verwaltung gefährdet. Durch die Wahl des Ortes der Aktion könne dem Bürger nämlich der Eindruck der staatlichen Billigung vermittelt werden. Mit dem Auslegen der Unterschriftenlisten im Dienstgebäude werde der bestimmungsgemäße Gebrauch der Polizeidienststellen überschritten. Ebenfalls falle es nicht in den Aufgabenbereich der Polizei, den Forderungen nach einer Stellenvermehrung Nachdruck zu verleihen. Hierdurch würden gewerkschaftlichen Aktivitäten und polizeiliche Dienstgeschäfte vermengt. Um dies zu unterbinden, weist das Innenministerium des Landes Nordrhein‐Westfalen mit einem Schreiben an die P und die Polizeidienststellen darauf hin, dass das Auslegen derartiger Listen und Flugblätter in Polizeidienstgebäuden zu unterlassen sei. Die P, die durch den „Erlass“ den Erfolg ihrer Kampagne gefährdet und damit ihr Recht zur gewerkschaftlichen Betätigung eingeschränkt sieht, geht dagegen gerichtlich vor und begehrt die Duldung ihrer Kampagne. Die Klage der P vor den Gerichten bleibt jedoch in allen Instanzen erfolglos. Nunmehr erhebt die P form‐ und fristgemäß Verfassungsbeschwerde. Prüfen Sie die Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerde.

Fall nach BVerfGK 10, 250 ff., und BAG AP Nr. 123 zu Art. 9 GG

1. Schutzbereich

a) Persönlicher Schutzbereich

Im Gegensatz zu der Vereinigungsfreiheit nach Art. 9 Abs. 1 GG handelt es sich bei der Koalitionsfreiheit gemäß Art. 9 Abs. 3 GG um ein Jedermann‐Grundrecht. Nach überwiegender Ansicht wird hierdurch nicht nur die individuelle, sondern auch die kollektive Koalitionsfreiheit gewährt. Insoweit wird die Koalitionsfreiheit als Doppelgrundrecht angesehen.Footnote 52

b) Sachlicher Schutzbereich

aa) Begriff der Koalition

Art. 9 Abs. 3 GG schützt die Koalitionsfreiheit als eine besondere Form der Vereinigungsfreiheit. Deshalb müssen für die Koalitionseigenschaft die Voraussetzungen des Art. 9 Abs. 1 GG gegeben sein; vor allem müssen Vereinigungen auf privatrechtlicher Grundlage frei gebildet sein. Öffentlich‐rechtliche Handwerkskammern sind also keine Koalitionen. Die Koalitionsfreiheit dient nach der Rechtsprechung des BVerfG der sinnvollen Ordnung des Arbeitslebens. In diesem Bereich hat der Staat seine Regelungszuständigkeit zurückgenommen, damit die Beteiligten ihre Angelegenheiten in eigener Verantwortung und im Wesentlichen ohne staatliche Einflussnahme regeln können.Footnote 53 Konstitutiv für den Begriff der Koalition ist das in Art. 9 Abs. 3 GG genannte Ziel: Wahrung und Förderung von Arbeits‐ und Wirtschaftsbedingungen. Diese beiden Aspekte müssen kumulativ vorliegen. Arbeitsbedingungen sind die Bedingungen, die die einzelnen Arbeitsverhältnisse bestimmen, wie z. B. Lohnhöhe, Urlaubsgeld, Arbeitszeiten. Die Wirtschaftsbedingungen betreffen die für Arbeitgeber und Arbeitnehmer bedeutsamen allgemeinen wirtschafts‐ und sozialpolitischen Verhältnisse wie z. B. Maßnahmen zur Verringerung der Arbeitslosigkeit oder die Einführung neuer Technologien.Footnote 54

Für eine Koalition im Sinne des Art. 9 Abs. 3 GG ist weiterhin erforderlich, dass sie gegnerfrei ist. Footnote 55 Das bedeutet, dass ihr der soziale Gegenspieler nicht angehören darf: In Gewerkschaften dürfen nur Arbeitnehmer und in Arbeitgeberverbänden nur Arbeitgeber Mitglied sein. Die Vereinigung muss rechtlich und tatsächlich unabhängig sein. Eine nicht unerhebliche finanzielle Unterstützung einer Gewerkschaft durch den Arbeitgeber ist hiermit unvereinbar. Auch eine Abhängigkeit von Dritten – wie z. B. Staat, Parteien, Kirchen – schließt die Koalitionseigenschaft aus. Eine Koalition muss überbetrieblich organisiert sein; dieses Merkmal soll die Gegnerunabhängigkeit gewährleisten und ein gesamtgesellschaftliches Verhalten fördern. Insofern stellt die Überbetrieblichkeit lediglich ein Indiz für die Gegnerunabhängigkeit dar.Footnote 56

Die Begriffe „Koalition“ und „Gewerkschaft“ bzw. „Arbeitgeberverband“ sind nicht identisch. Beide erfüllen zwar alle Merkmale der Koalition; Gewerkschaften müssen aber zusätzlich tariffähig sein.Footnote 57 Daher sind alle Gewerkschaften Koalitionen, nicht aber alle Koalitionen Gewerkschaften oder Arbeitgeberverbände. Die Tariffähigkeit, also die Fähigkeit, die Rechtsverhältnisse der Mitglieder mittels Tarifverträgen zu regeln, setzt die soziale Mächtigkeit voraus, d. h. eine gewisse Durchsetzungskraft, damit Tarifverhandlungen sich nicht als „kollektives Betteln“Footnote 58 darstellen. Indizien sind z. B. Mitgliederzahl und Finanzkraft.Footnote 59 Darüber hinaus werden überwiegend Tarifwilligkeit, Arbeitskampffähigkeit und ‐willigkeit und die Anerkennung des geltenden Tarif‐, Schlichtungs‐ und Arbeitskampfrechts (Anerkennung der „Spielregeln“) gefordert.Footnote 60 Ein Arbeitgeberverband, der für sich den Abschluss von Tarifverträgen ausgeschlossen hat, ist trotzdem eine Koalition; dasselbe gilt für Beamtenverbände, die keine Tarifverträge abschließen können.

Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG spricht zwar nur von „bilden“ einer Vereinigung, jedoch geht die Gewährleistung – wie auch bei Art. 9 Abs. 1 GG – hierüber hinaus. Im Rahmen der positiven Koalitionsfreiheit werden der Beitritt zu einer bestehenden Koalition, der Verbleib in der Koalition sowie die koalitionsmäßige Betätigung geschützt. Auch Arbeitskampfmaßnahmen (Streik und AussperrungFootnote 61) werden vom Schutzbereich umfasst, wie der 1968 im Rahmen der Notstandsverfassung eingefügte Art. 9 Abs. 3 S. 3 GG klarstellt. Das Recht zum Streik soll sogar entgegen der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung grundsätzlich den Beamten zustehen, wenn sie nicht im Kernbereich hoheitlicher Staatsverwaltung (insb. der Eingriffsverwaltung) tätig sind.Footnote 62 Dies wird aus Art. 11 EMRK hergeleitet, der bei der Auslegung von Art. 9 Abs. 3 GG und Art. 33 Abs. 5 GG herangezogen wird. Allerdings sollen nach der Ansicht des BVerwG die hergebrachten Grundsätze des Beamtentums (Art. 33 Abs. 5 GG) ein Streikrecht derzeit – bis zu einer Regelung durch den Gesetzgeber – ausschließen.Footnote 63 Nach ganz überwiegender Ansicht wird auch die negative Koalitionsfreiheit geschützt, also die Freiheit einer Koalition fernzubleiben oder aus einer solchen auszutreten.Footnote 64 Umstritten ist aber, ob die negative Koalitionsfreiheit vor der Mitgliedschaft in öffentlich‐rechtlichen Zwangsvereinigungen wie z. B. Arbeitnehmerkammern schützt.Footnote 65 Ebenso ist zweifelhaft, ob die negative Koalitionsfreiheit auf ein Fernbleiberecht beschränkt ist oder auch davor schützt, vom Wirken der Koalitionen betroffen zu werden (Stichwort: Schutz vor fremder Normwirkung).Footnote 66 Das BVerfG geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass die negative Koalitionsfreiheit allein dann betroffen ist, wenn ein (erheblicher) Druck zum Beitritt ausgeübt wird. Dementsprechend wird der Schutzbereich von Art. 9 Abs. 3 GG nicht berührt, wenn ein Unternehmer verpflichtet wird, Tarifverträge unabhängig von seiner Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband anzuwenden, um öffentliche Aufträge zu erhalten wie bei der Berliner Tariftreueregelung.Footnote 67 Entsprechendes gilt auch für die Festlegung von Mindestlöhnen durch Ausdehnung von Mindestlohntarifverträgen auf nichtorganisierte Arbeitnehmer und Arbeitgeber gemäß §§ 3 ff. AEntG.Footnote 68

Nach früherer Rechtsprechung war der Schutz der kollektiven Koalitionsfreiheit auf den Kernbereich koalitionsmäßiger Betätigung beschränkt. Lediglich die für den Koalitionsbestand unerlässlichen Betätigungen sollten von Art. 9 Abs. 3 GG umfasst werden (z. B. Abschluss von Tarifverträgen, durch die eine autonome Ordnung des Arbeitslebens ermöglicht wird [Tarifautonomie], Durchführung eines Streiks).Footnote 69 Für den Bestand der Gewerkschaft nicht unerlässlich ist hingegen die Werbung während der Arbeitszeit. Diese Kernbereichsrechtsprechung beruhte auf dem Gedanken, dass dem Gesetzgeber ein weiter Ausgestaltungsspielraum eröffnet werden sollte.Footnote 70 Später hat das BVerfG klargestellt, dass der Kernbereich lediglich ein Teil des Schutzbereichs ist, ansonsten aber die Koalitionsfreiheit durch Art. 9 Abs. 3 GG umfassend geschützt wird.Footnote 71 Der Begriff des Kernbereichs hat heute nur noch insoweit Bedeutung, als er ein nicht antastbares Minimum der Koalitionsfreiheit definiert.Footnote 72 Die Koalitionsfreiheit bezieht daher alle koalitionsspezifischen Verhaltensweisen in den Schutzbereich ein.Footnote 73

BVerfGE 93, 352 (359 f.) (Mitgliederwerbung II): „Die Mitgliederwerbung ist auch nicht, wie das BAG meint, nur in dem Maße grundrechtlich geschützt, in dem sie für die Erhaltung und die Sicherung des Bestandes der Gewerkschaft unerlässlich ist. Der Grundrechtsschutz erstreckt sich vielmehr auf alle Verhaltensweisen, die koalitionsspezifisch sind. Ob eine koalitionsspezifische Betätigung für die Wahrnehmung der Koalitionsfreiheit unerlässlich ist, kann demgegenüber erst bei Einschränkungen dieser Freiheit Bedeutung erlangen. Insoweit gilt für Art. 9 Abs. 3 GG nichts anderes als für die übrigen Grundrechte.

a) Allerdings hat das BVerfG in einer Reihe von Entscheidungen ausgeführt, Art. 9 Abs. 3 GG schütze die Koalitionsfreiheit und damit auch die Betätigung der Koalitionen lediglich in einem Kernbereich. Gewerkschaftliche Betätigung sei nur insoweit verfassungskräftig verbürgt, als diese für die Erhaltung und Sicherung der Koalition als unerlässlich betrachtet werden müsse (wird ausgeführt). Diese Formulierungen können in der Tat den Eindruck erwecken, als schütze Art. 9 Abs. 3 GG jedenfalls die koalitionsmäßige Betätigung von vornherein nur in einem inhaltlich eng begrenzten Umfang. Auch in der Literatur wird die Rechtsprechung des BVerfG in diesem Sinne verstanden, allerdings überwiegend kritisch gewürdigt (…).

b) Das in der Rechtsprechung des BVerfG entwickelte Verständnis der Koalitionsfreiheit wird damit jedoch nur unvollständig wieder gegeben. Ausgangspunkt der Kernbereichsformel ist die Überzeugung, dass das Grundgesetz die Betätigungsfreiheit der Koalitionen nicht schrankenlos gewährleistet, sondern eine Ausgestaltung durch den Gesetzgeber zulässt. Mit der Kernbereichsformel umschreibt das Gericht die Grenze, die dabei zu beachten ist; sie wird überschritten, soweit einschränkende Regelungen nicht zum Schutz anderer Rechtsgüter von der Sache her geboten sind. Das BVerfG wollte damit den Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG aber nicht von vornherein auf den Bereich des Unerlässlichen beschränken.“

2. Eingriffe

Eingriffe in die Koalitionsfreiheit können vielfältiger Natur sein, wobei es an einer eingriffsgleichen Wirkung einer staatlichen Maßnahme fehlt, wenn mittelbare Folgen ein bloßer Reflex einer nicht entsprechend ausgerichteten gesetzlichen Regelung sind.Footnote 74 Einerseits können Behinderungen der koalitionsmäßigen Betätigungen Art. 9 Abs. 3 GG beeinträchtigen. Eine staatliche Zwangsschlichtung würde etwa die Tarifautonomie der am Arbeitskampf beteiligten Koalitionen einschränken. Eine Ungleichbehandlung von gewerkschaftsangehörigen und unorganisierten Arbeitnehmern führt zu einem Eingriff in die positive bzw. in die negative Koalitionsfreiheit, je nachdem, wer bevorzugt und wer benachteiligt wird. Faktische Behinderungen – wie die Errichtung einer Arbeitnehmerkammer als öffentlich‐rechtliche Zwangskörperschaft – können bei einigem Gewicht einen Eingriff in die Koalitionsfreiheit der mit der Kammer konkurrierenden Gewerkschaften darstellen. Ein Eingriff kann auch in der gesetzlichen Regelung von Arbeitsbedingungen zu sehen sein, da in diesem Fall den Koalitionen die durch die Tarifautonomie geschützte Regelungsbefugnis entzogen wird.Footnote 75 Demgegenüber ist die bloße Erstreckung der Tarifgeltung nach §§ 3 ff. AEntG oder § 5 TVG auf nichtorganisierte Arbeitnehmer nach der Rechtsprechung des BVerfG nicht als Eingriff anzusehen.Footnote 76

Nicht als Eingriff ist die Ausgestaltung der Koalitionsfreiheit durch den Staat anzusehen. Wie die allgemeine Vereinigungsfreiheit nach Art. 9 Abs. 1 GG bedarf auch die Koalitionsfreiheit als teilweise normgeprägtes Grundrecht der gesetzlichen Ausgestaltung. Diese ist erforderlich, um die aufeinander treffenden individuellen und kollektiven Koalitionsfreiheiten von Arbeitnehmern, Arbeitgebern und ihrer Koalitionen zu regeln und zu einem Ausgleich zu bringen. Auch sind die Koalitionen darauf angewiesen, dass der Staat mit dem Tarifrecht ein rechtliches Instrumentarium bereitstellt – vergleichbar dem Vertragsrecht –, um verbindlich die Arbeitsbedingungen der Mitglieder regeln zu können. An einer zulässigen Ausgestaltung fehlt es, wenn durch einen bestimmten Rechtsakt der Kernbereich der Koalitionsfreiheit beeinträchtigt wird.Footnote 77 Ob die Ausgestaltung verhältnismäßig sein muss, ist umstritten.Footnote 78 Eine zulässige gesetzliche Ausgestaltung stellt beispielsweise das Tarifvertragsgesetz dar, aufgrund dessen die Tarifvertragsparteien für ihre Mitglieder verbindlich die Arbeitsbedingungen festlegen können.Footnote 79 Auch die vom BAG aufgestellten Voraussetzungen, unter denen ein Arbeitskampf rechtmäßig ist – beispielsweise Wahrung des Ultima‐Ratio‐Prinzips und der Verhältnismäßigkeit zur Erreichung eines tariflich regelbaren Ziels –, sind als durch den Richter erfolgende Ausgestaltung zu klassifizieren.Footnote 80

BVerfGE 50, 290 (368 ff.) (Mitbestimmung): „Mehr noch als die in Art. 9 Abs. 1 GG gewährleistete allgemeine Vereinigungsfreiheit bedarf die Koalitionsfreiheit von vornherein der gesetzlichen Ausgestaltung. Diese besteht nicht nur in der Schaffung der Rechtsinstitute und Normenkomplexe, die erforderlich sind, um die grundrechtlich garantierten Freiheiten ausüben zu können. Die Bedeutung und Vielzahl der von der Tätigkeit der Koalitionen berührten Belange namentlich im Bereich der Wirtschaftsordnung und Sozialordnung machen vielmehr vielfältige gesetzliche Regelungen notwendig, die der Koalitionsfreiheit auch Schranken ziehen können; dies umso mehr, als der Gegenstand der Gewährleistung auf sich wandelnde wirtschaftliche und soziale Bedingungen bezogen ist, die mehr als bei anderen Freiheitsrechten die Möglichkeit zu Modifikationen und Fortentwicklungen lassen müssen. Demgemäß geht das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass Art. 9 Abs. 3 GG die Koalitionsfreiheit nur in ihrem Kernbereich schützt: Das Grundrecht räumt den geschützten Personen und Vereinigungen nicht mit Verfassungsrang einen inhaltlich unbegrenzten und unbegrenzbaren Handlungsspielraum ein; es ist vielmehr Sache des Gesetzgebers, die Tragweite der Koalitionsfreiheit dadurch zu bestimmen, dass er die Befugnisse der Koalitionen im Einzelnen gestaltet und näher regelt. Dabei kann er den besonderen Erfordernissen des jeweils zu regelnden Sachverhalts Rechnung tragen. Allerdings dürfen dem Betätigungsrecht der Koalitionen nur solche Schranken gezogen werden, die zum Schutz anderer Rechtsgüter von der Sache her geboten sind. Regelungen, die nicht in dieser Weise gerechtfertigt sind, tasten den durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Kerngehalt der Koalitionsbetätigung an.“

Bei Art. 9 Abs. 3 GG ist weiterhin als Besonderheit zu beachten, dass die Norm nicht nur als Abwehrrecht gegen staatliches Handeln wirkt, sondern auch – anders als die allgemeine Vereinigungsfreiheit – unmittelbare Drittwirkung entfaltet. Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG formuliert, dass koalitionswidrige Abreden nichtig und entsprechende Maßnahmen rechtswidrig sind. Abreden sind vertragliche Vereinbarungen, wobei eine Einschränkung nur bei einer Beteiligung des Grundrechtsträgers gegeben ist. Maßnahmen sind sowohl einseitige Rechtsgeschäfte als auch tatsächliche Handlungen und Unterlassungen.Footnote 81 Somit besteht ein Abwehrrecht der einzelnen Arbeitnehmer und Arbeitgeber sowie der Koalitionen gegenüber Beeinträchtigungen von privater Seite. Da Art. 9 Abs. 3 GG als Schutzgesetz angesehen wird, besteht bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen ein zivilrechtlicher Unterlassungsanspruch nach § 1004 BGB analog bzw. ein Schadensersatzanspruch nach § 823 Abs. 2 BGB. In die individuelle positive Koalitionsfreiheit eines Arbeitnehmers wird eingegriffen, wenn der Arbeitgeber nachteilige Folgen an einen Gewerkschaftsbeitritt knüpft. Andererseits wird nach der Rechtsprechung des BAG in die negative Koalitionsfreiheit des Arbeitnehmers eingegriffen, wenn der Arbeitgeber durch einen Tarifvertrag verpflichtet wird, den nicht der Gewerkschaft angehörenden Arbeitnehmer schlechter zu behandeln als den gewerkschaftsangehörigen (sog. Differenzierungsklauseln).Footnote 82 Die negative Koalitionsfreiheit schützt die Arbeitgeber wiederum davor, aufgrund privatrechtlicher Vereinbarung auf Dauer Mitglied eines Arbeitgeberverbandes zu bleiben.Footnote 83 Werden durch einen tarifgebundenen Arbeitgeber systematisch Tarifverträge gebrochen, so kann hierin eine Beeinträchtigung der Koalitionsfreiheit der tarifvertragsschließenden Gewerkschaft gesehen werden.Footnote 84

3. Rechtfertigung von Eingriffen

a) Schranken

Die Koalitionsfreiheit ist nach dem Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 GG ein vorbehaltlos gewährtes Grundrecht. Umstritten ist, ob die Begrenzungsregelung des Art. 9 Abs. 2 GG anwendbar ist. Soweit Abs. 2 als Schutzbereichsbegrenzung angesehen wird, stellt sich das Problem entsprechend beim Schutzbereich der Koalitionsfreiheit.Footnote 85 Für diese Möglichkeit wird angeführt, dass die Koalitionsfreiheit nicht stärker geschützt werden könne als die Parteienfreiheit. Letztere können aber nach Art. 21 Abs. 2 GG bei einer aggressiv kämpferischen Haltung gegenüber der freiheitlich demokratischen Grundordnung verboten werden.Footnote 86 Gegen die Anwendung von Abs. 2 sprechen systematische Erwägungen: Einerseits steht Art. 9 Abs. 2 GG nach der allgemeinen Vereinigungsfreiheit, aber vor der Koalitionsfreiheit; andererseits wird bei Art. 5 GG die Schranke der allgemeinen Gesetze (Abs. 2) nicht auf die Gewährleistung nach Art. 5 Abs. 3 GG angewendet.Footnote 87 Letztlich dürfte der Streit ohne praktische Auswirkungen sein, da eine Vereinigung mit den in Art. 9 Abs. 2 GG genannten Zielen nicht mehr als Koalition anzusehen sein wird.Footnote 88

Einschränkbar ist die Koalitionsfreiheit daher allein auf Grund kollidierenden Verfassungsrechts. Solches kann sich insbesondere aus der positiven Koalitionsfreiheit des Arbeitgebers, keine gegnerische Koalition unterstützen zu müssen, und aus der negativen Koalitionsfreiheit der Unorganisierten, keiner Gewerkschaft beitreten zu müssen, ergeben. Ob aufgrund des durch Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 WRV geschützten Selbstbestimmungsrechts der Religionsgemeinschaften die Koalitionsfreiheit und insbesondere das Streikrecht eingeschränkt werden kann, ist umstritten.Footnote 89 Eine Bindung der Koalitionen an das Gemeinwohl besteht nicht;Footnote 90 andernfalls bestünde die Gefahr einer inhaltlichen Kontrolle koalitionsmäßiger Betätigung (insbesondere von Tarifverträgen) anhand völlig vager Kriterien und damit der Tarifzensur.Footnote 91 Gleichwohl kann die Koalitionsfreiheit zum Schutz von Gemeinwohlbelangen mit Verfassungsrang eingeschränkt werden.Footnote 92 Beispielsweise kann der Gesetzgeber den Tarifvertragsparteien vorgeben, dass sie das aus der Menschenwürdegarantie abgeleitete Existenzminimum bei der Lohnfindung nicht unterschreiten dürfen.Footnote 93

b) Schranken‐Schranken

Wie bei allen Grundrechtseinschränkungen auf Grund von kollidierendem Verfassungsrecht, müssen auch bei der Koalitionsfreiheit die entgegenstehenden Grundrechtspositionen zu einem schonenden Ausgleich gebracht werden (praktische Konkordanz Footnote 94). Wenn man den Kernbereich koalitionsmäßiger Betätigung als unantastbares Minimum versteht, kann ein Eingriff hierin verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt werden.Footnote 95 Für das Arbeitskampfrecht bildet Art. 9 Abs. 3 S. 3 GG eine Schranken‐Schranke, die nicht – auch nicht durch kollidierende Verfassungsgüter – überwunden werden kann. Verfassungsrechtlich problematisch ist die Einführung von Mindestarbeitsbedingungen. Aufgrund des MiLoG wurde zum 1. Januar 2015 ein flächendeckender allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn für Arbeitnehmer und Praktikanten eingeführt. Durch das MiLoG wird der Gestaltungsspielraum der Tarifparteien insoweit eingeschränkt, dass sie im Regelfall keine niedrigeren Löhne vereinbaren dürfen.Footnote 96 Rechtfertigen lässt sich dieser Eingriff insbesondere mit dem kollidierenden Verfassungsrecht aus Art. 20 Abs. 1 GG (Sozialstaatprinzip) und dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. 1 Abs. 1 GG). Das Sozialstaatsprinzip schützt die finanzielle Stabilität der sozialen Sicherungssysteme und dient damit der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Darin sind verfassungsrechtlich legitimierte Gemeinwohlbelange zu sehen, aufgrund derer die Tarifautonomie grundsätzlich eingeschränkt werden kann.Footnote 97 Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht kann als Rechtfertigung für die Festsetzung einer angemessenen Entlohnung herangezogen werden. Nach der Rechtsprechung des BVerfG dient Arbeit der Entfaltung der Persönlichkeit. Durch Arbeit erfährt der Einzelne Achtung und Selbstachtung. Gesetzliche Entgeltvorgaben könnten damit auch dem Schutz des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Arbeitnehmer Rechnung tragen.Footnote 98 Durch das MiLoG wird gerade der Schutz von Beschäftigten gestärkt, die bis zur Einführung des Mindestlohns, ihren Lohn durch sog. ergänzende Grundsicherungsleistungen aufbessern mussten. Zu berücksichtigen ist auch, dass nach der Rechtsprechung des BVerfG bestehende tarifvertragliche Regelungen grundsätzlich einen stärkeren Schutz genießen als die Tarifautonomie in Bereichen, die die Koalitionen ungeregelt gelassen haben.Footnote 99 Das MiLoG zeigt gerade in den Wirtschaftszweigen besondere Wirkung, in denen den Tarifvertragsparteien eine Regelung des Arbeits‐ und Wirtschaftslebens nicht oder nicht umfassend gelungen ist. Unter Berücksichtigung der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers spricht dies für die Verfassungsmäßigkeit des MiLoG im Hinblick auf Art. 9 Abs. 3 GG.

Überblick: Typische Klausurprobleme

  • Verfassungsrechtlicher Schutz vor der Zwangsmitgliedschaft in öffentlich‐rechtlichen Vereinigungen (Rn. 566, 884 ff.).

  • Grundrechtlicher Schutz von Ausländervereinen (Rn. 865, 868).

  • Zugangsrechte der Gewerkschaft zum Betrieb, um Werbemaßnahmen durchzuführen (Rn. 895, 902).

  • Ausgestaltung des Vereinsrechts und des Tarifrechts (Rn. 871, 891, 905).

  • Staatlich festgesetzte Mindestarbeitsbedingungen (Rn. 908 f.).

  • Vereinsverbote nach den §§ 3 ff. VereinsG (Rn. 873).

  • Streikrecht von Beamten und in kirchlichen Einrichtungen (Rn. 901, 908).