Zusammenfassung
Bisher haben wir den von Konrad Lorenz aufgestellten Grundsatz, dass das ontogenetische Apriori der mentalen Strukturen ein phylogenetisches Aposteriori darstellt, nur in einer sehr allgemeinen Form benutzt. Dieser Satz besagt letztlich nichts anderes, als dass die grundlegenden geistigen Kategorien des Menschen nicht vom Himmel gefallen sind, sondern sich, wie seine körperlichen Charakteristika auch, in einem evolutionären Anpassungsprozess entwickelt haben. Die Gene liefern hier wie immer nur das Grundmaterial und die Informationen zur organismischen Entfaltung; entscheidend ist immer auch die Wechselwirkung mit der Außenwelt. Diese Hypothese ist gewissermaßen eine naturalistische Umdeutung des kantschen Apriori. Gleichzeitig weist sie darauf hin, dass menschliches Erkennen ein zirkelhafter Prozess ist, denn sie benutzt empirische Erkenntnisse aus der Biologie zur Erklärung der Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis. Gerhard Vollmer hat gegenüber Kritiken an dieser Formulierung wiederholt und schlüssig darauf hingewiesen, dass die einzige Möglichkeit, eine plausible Theorie der Erkenntnis aufzustellen, darin besteht, diesen Zirkel nicht als vitiösen Zirkel, als Fehlschluss zu deuten, sondern als plausible Beschreibung der Art und Weise, wie wir Menschen eben tatsächlich Erkenntnis erlangen.
Das Sein bestimmt das Bewusstsein.
(Karl Marx )
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Notes
- 1.
Es gibt natürlich auch andere Auswege aus diesem Dilemma. Man könnte etwa einen harten reduktionistischen Materialismus mit all seinen seltsamen Konsequenzen vertreten. Letztlich begreift dieser das Materielle als den archimedischen Punkt, von dem aus alles andere zu verstehen ist. Oder man geht von der gleichfalls ungedeckten Annahme sicherer synthetischer Wahrheit a priori aus, wie Kant es tat. Keiner dieser Auswege besitzt allerdings auch nur annähernd äquivalente Plausibilität in seinen Postulaten und Folgerungen. Solchen Positionen ist gemein, dass sie die Ungewissheit und Vorläufigkeit menschlicher Erkenntnis verkennen. Max Scheler hat einmal sehr süffisant die erkenntnistheoretische Situation des Materialismus mit einem alten Berliner Studentenlied persifliert: „Ick wünscht, ick wär ein Louisdor, da koofte ick mir ein Bier dafor.“
- 2.
- 3.
Der Begriff des soziokulturellen Apriori ist ein sehr universeller Begriff und vielseitig anwendbar. Er ist auch keineswegs nur in der hier entwickelten Erkenntnistheorie ableitbar. Er lässt sich jedoch in einer pluralistisch-evolutionär orientierten Erkenntnistheorie wie dieser besonders einfach und elegant darlegen und fügt sich problemlos in die übrigen Konzepte ein. Er lässt sich wahrscheinlich auch über einem anderen theoretischen Unterbau formulieren, büßt dann aber eventuell an Tragweite ein.
- 4.
Man beachte sehr, was Thomas Mann ganz in diesem Sinne der Aufgehobenheit des archaischen oder kindlichen Menschen in der Natur über Lew Tolstoi schreibt: „Tolstoi erinnert sich in seinen Bekenntnissen, dass er als kleines Kind von Natur nichts gewusst, sie überhaupt nicht bemerkt habe. ‚Es ist unmöglich‘, sagt er, ‚dass man mir weder Blumen noch Blätter zum Spielen gab, dass ich das Gras nicht sah oder das Licht der Sonne. Dennoch habe ich bis zu meinem fünften oder sechsten Jahr keine Erinnerung an das, was wir Natur nennen. Wahrscheinlich muss man sich von ihr loslösen, um sie zu sehen, und ich selbst war Natur.‘ Hiermit ist ausgedrückt, das schon das bloße Sehen der Natur, der sogenannte Naturgenuss, ein zugleich spezifisch menschlicher und schon sentimentalisch-sehnsüchtiger, d. h. aber pathologischer Zustand ist, da er Losgelöstheit von der Natur bedeutet.“ Mann (1957), S. 57f.
- 5.
Während das Rechnen eine kulturelle Errungenschaft ist, besitzt der Mensch nach neueren Studien aber so etwas wie ein angeborenes Mengenverständnis, wie etwa der Hirnforscher Stanislas Dehaene in Dehaene (1997) aufgezeigt hat. Dieses ist seinem Wesen nach nicht linear, sondern logarithmisch: Der Unterschied zwischen 99 und 100 erscheint uns folglich geringer als der zwischen 9 und 10.
- 6.
Lévy-Strauss (1975), S. 376.
- 7.
Lévy-Strauss (1968), S. 302f.
- 8.
- 9.
Für alles andere wäre auch eine vollständige Umprogrammierung der emotionalen Komponenten unserer Wahrnehmungsstruktur in der frühkindlichen Entwicklung notwendig. Hier bestehen aber offensichtlich Grenzen der Prägbarkeit.
- 10.
Ob aus diesem Grund das Christentum , wie von einigen Autoren vertreten wird, eine entscheidende Voraussetzung der modernen Wissenschaft gewesen ist, ist mehr als zweifelhaft und nicht falsifizierbar. Es ist aber nicht unwahrscheinlich, dass der Monotheismus zumindest in gewisser Hinsicht eine förderliche Rolle für die Entstehung der modernen Wissenschaft gespielt hat. Vergleiche hierzu Kap. 19.6.
- 11.
Diesen Zusammenhang hat auch Kurt Tucholsky in dem wunderbaren Gedicht „Deine Welt“ beschrieben, demzufolge sich alles Leben nur unter 200 Menschen abspielt; siehe Tucholsky (1929), S. 344.
- 12.
Gleichwohl sind durchaus starke regionale und kulturelle Unterschiede zu beobachten, inwieweit und auf welche Weise Kriegsführung durch Grundsätze, insbesondere religiös-spiritueller Natur, geregelt ist.
- 13.
Lévy-Strauss (1975), S. 369.
- 14.
Ebenda, S. 370.
- 15.
In jüngerer Vergangenheit zeugt etwa das vergebliche Bemühen, Religionen mit dem Schwert oder Demokratie mit Laserbomben zu verbreiten, vom Verkennen der Weise gesellschaftlicher Entwicklung und ist nichts weiter als die zynische Inanspruchnahme des Rechts des Stärkeren, zu dessen Überwindung jede echte Spiritualität und Humanität aufruft.
- 16.
Doch auch archaischen Kulturen ist die soziologische Komponente einer Arbeitsethik keinesfalls fremd, wie sich etwa an ihrer Einschätzung ihrer Waldmitbewohner ausdrückt: „Die Ureinwohner Borneos beispielsweise betrachteten die Orang-Utans als Menschen, die nur darin von uns unterschieden seien, daß sie auf den Trick verfallen waren, nicht zu sprechen – um nicht arbeiten zu müssen.“ Welsch (2011), S. 244.
- 17.
Gehlen (1977), S. 57.
- 18.
Siehe hierzu auch Kap. 16.2.4 über die Rolle von Kunst und Sport, die ähnliche Diversifikationen erfahren.
- 19.
Es sei erinnert an die Kap. 1.1.2 (Kausalität und Determinismus in der klassischen Physik), 2.8 (quantenphysikalischer Indeterminismus), 10.4 und 11.6 (Kausalität und Evolution), sowie den letzten Absatz von 16.5 (Begriff der Kausalität in dieser Erkenntnistheorie).
- 20.
Diese wahrscheinlich unvermeidliche Verquickung von harter mathematischer Analyse und abergläubischem Denken findet sich nicht nur in Babylon, sondern ebenso im pharaonischen Ägypten, in der jüdischen Kabbala und im antiken Griechenland, dort vor allem bei den Pythagoräern und Platonikern. Weniger abstrakt und stärker physisch drückt sich ein solches Weltbild in der Alchemie und in ihren modernen esoterischen Ablegern wie etwa der Homöopathie aus. Auch zahlreiche berühmte Forscher und Philosophen standen in solchen gemischten Traditionen, wenngleich dies heute oft wenig bekannt ist. Kepler etwa betrieb seine astronomische Forschung unter stark religiösen Auspizien, Newton widmete sich neben Mathematik und Mechanik ausführlich alchimischen und theologischen Studien.
- 21.
Siehe den Kommentar in der letzten Fußnote in Kap. 1.1.2.
- 22.
Planck (1948), S. 22. Auch und gerade die Sozialisierung im wissenschaftlichem Betrieb geht nach Planck also mit einem deutlichen soziokulturellen Apriori einher.
- 23.
Den trefflichsten Kommentar zum Streit um Evolution und Kreationismus verfasste bereits im 19. Jahrhundert kein geringerer als Wilhelm Busch . Er war hierzu nicht nur ob seiner spitzen Feder prädestiniert: Als Knabe wurde er von seinem Onkel Georg Kleine erzogen, der nicht nur Pastor, sondern auch leidenschaftlicher Imker war und der als Herausgeber des Bienenwirtschaftlichen Centralblatts zu den bekanntesten Bienenzüchtern seiner Zeit gehörte. Kleines Rat in Bienenfragen interessierte auch Charles Darwin ; denn der Austausch mit Tierzüchtern lieferte Darwin wichtige Einsichten für die Ausarbeitung der Evolutionstheorie. Für den Pastor und seine Bekannten jedoch waren die neuen Thesen nicht gerade beruhigend. Es kam, wie es nach Wilhelm Buschs unvergleichlicher Schilderung kommen musste: „Sie stritten sich beim Wein herum / Was das nun wieder wäre / Das mit dem Darwin wär gar zu dumm / Und wider die menschliche Ehre. / Sie tranken manchen Humpen aus / Sie stolperten aus den Türen / Sie grunzten vernehmlich und kamen zu Haus / Gekrochen auf allen Vieren.“ Busch (1874).
- 24.
Scheler (1926), S. 483 f. Von wissenschaftshistorischem Interesse ist hierbei die Tatsache, dass Scheler – auch wenn seine erkenntnistheoretischen Positionen mittlerweile zum Teil als überholt betrachtet werden mögen – in diesem Werk bereits den indeterministischen Charakter der gerade im Entstehen begriffenen Quantenphysik als Kritik gegen die Deutungshoheit des klassisch-physikalischen Weltbildes mit ins Feld führt.
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Eidemüller, D. (2017). Das soziokulturelle Apriori. In: Quanten – Evolution – Geist. Springer Spektrum, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-49379-3_18
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-662-49379-3_18
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Publisher Name: Springer Spektrum, Berlin, Heidelberg
Print ISBN: 978-3-662-49378-6
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