13.1 Einleitung

Der derzeitige Entwicklungsschub der Digitalisierung spricht für deutlich erweiterte Anwendungspotenziale der neuen, internetbasierten Technologien und strukturverändernde Konsequenzen in Wirtschaft und Gesellschaft. Unter den Schlagworten „Internet der Dinge“ und „Cyber-physische Systeme (CPS)“ wird auf neue Verknüpfungen von Informationstechnologien und physischen Gegenständen verwiesen, die bislang unbekannte Nutzungspotenziale in vielfältigen Anwendungsbereichen wie Wohnen, Gesundheit, Erziehung, Verkehr oder industrielle Produktion eröffnen. Im Bereich der industriellen Produktion werden die Entwicklungsdynamiken seit einigen Jahren unter dem Schlagwort „Industrie 4.0“ diskutiert. Wenngleich der Begriff der Industrie 4.0 insgesamt recht unbestimmt und vielseitig verwendet bleibt, fokussiert die Debatte, die insbesondere von Ingenieurwissenschaften, Wirtschaftsverbänden, technologieintensiven Unternehmen und der Politik forciert wird, in einer technologiezentrierten Perspektive auf das „intelligente“ Produkt und seine prozesszentrierte und unternehmensübergreifende Bearbeitung in „entgrenzten“ Betrieben und komplexen Wertschöpfungsketten (Plattform Industrie 4.0 2013).

Durch eine hochflexible Verknüpfung und Synchronisierung der jetzt durch das Internet vernetzten Datenebene mit realen Fabrikabläufen eröffnen sich grundlegend neue Potenziale für die Planung, die Steuerung und die Organisation von Produktions- und Wertschöpfungsprozessen (Kagermann et al. 2011; Forschungsunion und acatech 2013; Reinhart et al. 2013; BMWi 2015). Diese zielen u. a. auf die Realisierung einer individualisierten, voll flexiblen Produktion (Losgröße 1), die Atomisierung von Sendungen im E-Commerce (Günthner und ten Hompel 2010) sowie die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle und innovativer IT-Services, die dezentral über cloud-basierte Plattformen bereitgestellt werden. Die Entwicklung wird forciert durch umfangreiche Initiativen und Forschungsprogramme aus der Politik, um Deutschland als zukünftigen Produktionsstandort zu stärken und die „Technologieführerschaft“ der deutschen Industrie zu sichern (BMBF 2014; BMWi 2014).

Mit der Entstehung, Realisation und Diffusion von Industrie-4.0-Systemen und der fortschreitenden Digitalisierung industrieller Produktion werden nachhaltige Wandlungsprozesse sozio-ökonomischer Strukturen angestoßen (zusammenfassend z. B. Hirsch-Kreinsen et al. 2015). In diesem Zuge verändern sich auch die Anforderungen an Erwerbsarbeit resp. Industriearbeit, der häufig attestiert wird, dass sie zukünftig vernetzter, digitaler und flexibler sein wird (BMAS 2015). Im industriellen Bereich betrifft dies nicht nur die Tätigkeiten auf dem Shopfloor, sondern auch die indirekten Bereiche von der Planung und Steuerung bis hin zur Produktentwicklung und auch die Anforderungen an Leitung und Management werden sich deutlich verändern. Darüber hinaus ist mit einer durchgreifenden Reorganisation überbetrieblicher Arbeits- und Wertschöpfungsketten zu rechnen. Viele Protagonisten der Debatte verbinden mit der Industrie 4.0 optimistische Visionen zukünftiger industrieller Arbeitswelten. H. Kagermann (2014, S. 608) betont die „Sicherung der Arbeitsplätze an unserem Hochlohnstandort“ und „eine bessere Qualität an Arbeit“, der wissenschaftliche Beirat der Plattform Industrie 4.0 (2014, These 1) sieht „vielfältige Möglichkeiten für eine humanorientierte Gestaltung der Arbeitsorganisation (…), auch im Sinne von Selbstorganisation und Autonomie“. Die politische Akteure betonen „neue Freiräume für ein stärker selbstbestimmtes Arbeiten“ (BMAS 2015) oder „mehr Möglichkeiten und Freiräume, etwa für die Vereinbarkeit von Familien und Beruf“ (BMWi 2015). Im Gegensatz zur CIM-Debatte, bei der der menschlichen Arbeitskraft in der automatisierten Fabrik häufig keine nennenswerte Rolle zugeschrieben wurde, bilden somit die Themen „Mensch“ und „Arbeiten“ wichtige Bezugsgrößen in der Diskussion zur Industrie 4.0, die auch von Interessenverbänden, Gewerkschaften und Arbeitswissenschaften mitgetragen wird.

Allerdings wird die Frage, wie sich Arbeit in der Industrie und darüber hinaus verändern wird, in der Wissenschaft gegenwärtig sehr unterschiedlich beantwortet: Einige Studien greifen die optimistischen Perspektiven auf, die Arbeitsplatzgewinne, steigende Ansprüche an Arbeit sowie eine generelle Aufwertung von Tätigkeiten und Qualifikationen erwarten. Andere Trendbestimmungen betrachten dies eher mit Skepsis und verweisen auf Risiken wie hohe Arbeitsplatzverluste, Dequalifizierungsgefahren, neue Belastungssituationen und vermehrte soziale Unsicherheit.

13.2 Stand der Forschung: Entwicklungstrends und Widersprüche

Der derzeitige Stand der Forschung basiert letztlich auf unterschiedlichen Annahmen zum Stellenwert und zur Reichweite der Digitalisierung der industriellen Produktion bzw. ihrer Automatisierung sowie den Auswirkungen auf die (qualitative und quantitative) Entwicklung von Arbeit. Die zentralen Trendbestimmungen und Widersprüchlichkeiten können an den Themenfeldern „Beschäftigungseffekte“, „Tätigkeiten und Arbeitsorganisation“, „Mensch-Technik-Interaktion“ und „Flexibilisierung und Entgrenzung“ verdeutlicht werden (vgl. Ittermann et al. 2015).

13.2 Umstrittene Beschäftigungseffekte:

In einer generalisierenden Betrachtung verweisen Studien aus dem angelsächsischen Raum auf erhebliche Rationalisierungspotenziale im Sinne einer zukünftigen Substitution von menschlicher Arbeit durch Digitalisierung und Computerisierung (Frey und Osborne 2013; Bowles 2014; Brynjolfsson und McAfee 2014; Berger und Frey 2015). Nach der breit rezipierten Studie von Frey und Osborne könnten perspektivisch (hier mit Blick auf den US-amerikanischen Arbeitsmarkt) rund die Hälfte aller Berufe zukünftig automatisiert werden (Frey und Osborne 2013, S. 38). Brynjolfsson und McAfee (2014, S. 177ff.) betonen, dass unter den Bedingungen der Diffusion digitaler Technologien nicht mehr wie in der Vergangenheit kurzfristige Arbeitsplatzverluste langfristig durch neue Beschäftigungsmöglichkeiten kompensiert würden. Andere Autoren betrachten die skizzierten Szenarien zur Substitution von Arbeit durch Technik mit Skepsis (z. B. Autor 2015; Bonin et al. 2015; Pfeiffer und Suphan 2015).

Die Frage nach den langfristigen Beschäftigungsperspektiven wird auch in der Debatte zur Industrie 4.0 in Deutschland kontrovers diskutiert. Einige Prognosen schließen nicht aus, dass das Beschäftigungsvolumen auch in der deutschen Wirtschaft insgesamt schrumpfen könnte (Schlund et al. 2014; Bonin et al. 2015; Wolter et al. 2015). Sehr weitreichend argumentieren Studien, wonach in Folge der digitalen Automatisierung insgesamt 59 Prozent oder mehr als 18 Mio. Arbeitsplätze „im Laufe der Zeit“ wegfallen könnten (Brzeski und Burk 2015, S. 3; vgl. Schuh und Stich 2013). Fast alle Studien betonen dabei, dass insbesondere einfache industrielle Tätigkeiten wie Maschinenbedienung gefährdet sind. Die Studie der Unternehmensberatung Boston Consulting Group hingegen verweist auf positive Arbeitsmarkteffekte bei der weiteren Umsetzung von Industrie-4.0-Systemen und prognostiziert einen Beschäftigungszuwachs von sechs Prozent für die nächsten zehn Jahre (BCG 2015, S. 8). Nach den Ergebnissen einer Fraunhofer IAO-Studie (Spath et al. 2013, S. 46f.) geht die überwiegende Mehrheit der Industrieunternehmen davon aus, dass die menschliche Arbeit in der industriellen Produktion in den nächsten Jahren bedeutsam bleiben werde.

13.2 Neue Funktions- und Kontrollverteilung in der Mensch-Technik-Interaktion:

Ein weiteres Themenfeld der einschlägigen Studien der Industrie-4.0-Debatte richtet sich auf die Mensch-Maschine-Interaktion und insbesondere auf die Funktionszuschreibungen des technischen und personellen Systems und auf die Kontroll- und Verantwortungsverteilung (Grote 2015). Die vorliegenden Beiträge knüpfen dabei mehr oder weniger implizit an Arbeiten der Arbeits- und Sozialwissenschaften an, die sich bereits seit mehreren Jahrzehnten mit der Gestaltung der Interaktion von Mensch und Maschine befassen. Hier liegen eine Vielzahl von Forschungserkenntnissen vor, die in neueren Studien aufgegriffen werden (vgl. Hinrichsen und Jasperneite 2013; Geisberger und Broy 2012; Peissner und Hipp 2013; Bauernhansl et al. 2014). Sie verweisen im Kern auf eine zunehmende Verschränkung und Integration natürlicher und virtueller Realitäten, die über traditionelle Konzepte der Mensch-Technik-Interaktion hinausgehen und neue Lösungen erforderlich machen (Botthof und Hartmann 2015b, S. 162). Im Ergebnis zeichnen sich auch in diesem Themenfeld unterschiedliche Positionen ab, die sich auf zwei divergente Entwicklungspfade zuspitzen lassen:

Der eine Entwicklungsverlauf ist von einer technikzentrierten Perspektive gekennzeichnet, die eine weitreichende Automatisierung anstrebt und zentrale Steuerungsfunktionen dem „CPS“ überträgt. Die Mehrheit der Beschäftigten übernimmt lediglich ausführende Arbeiten, während eine handverlesene Expertengruppe für die Installation und Wartung des Systems verantwortlich ist. Die Autonomie der Fachkräfte ist eingeschränkt.Footnote 1 In einer stärker arbeitsorientierten Perspektive steht die Fachkraft in der Industrie im Zentrum, die das CPS Hier hat die industrielle Facharbeit die Kontrolle über die digitalisierten Arbeits- und Produktionsabläufe und wird durch intelligente Assistenzsysteme unterstützt. Ein erweitertes Aufgabenspektrum der Beschäftigten, Mitgestaltungsmöglichkeiten und systematische Kompetenzentwicklung kennzeichnen diese Perspektive.Footnote 2

13.2 Divergierende Entwicklungsperspektiven von Tätigkeiten und Qualifikationen:

Viele Trendaussagen stimmen in dem Punkt überein, dass mit der weiteren Digitalisierung der industriellen Produktion und der Fokussierung auf wissensintensivere Arbeitsbereiche in der Industrie 4.0 erhebliche Veränderungen der Tätigkeits- und Qualifikationsanforderungen verbunden sein werden. Zentral ist zum einen der Auf- und Ausbau von IT-Kompetenzen und Prozessverantwortung in der Fertigung und Montage, aber auch in indirekten Bereichen wie der Arbeitsvorbereitung, der Produktionsplanung und der Qualitätssicherung sowie in der Logistik. Völlig offen ist hingegen zum gegenwärtigen Zeitpunkt, in welche Richtung sich die Tätigkeitsstrukturen und die damit zusammenhängenden Qualifikationsanforderungen entwickeln. Die Pole des Spektrums divergierender Entwicklungsperspektiven, die in Wissenschaft und Praxis diskutiert werden, können idealtypisch als „Upgrading von Qualifikationen“ und „Polarisierung von Qualifikationen“ bezeichnet werden.

Ein generelles Upgrading von Qualifikationen basiert auf der Annahme, dass in Folge der Digitalisierung und Informatisierung die Arbeits- und Produktionsprozesse anspruchsvoller, vernetzter und komplexer werden (Spath et al. 2013, S. 123). Hier wird Upgrading als ein Prozess verstanden, der generell alle Beschäftigtengruppen erfasst. Die Folge wären „better jobs – jobs that at every level would be enriched by an informating technology“ (Zuboff 1988, S. 159). Einfacharbeit in der Industrie erfährt in dieser Perspektive entweder eine kontinuierliche qualifikatorische Aufwertung oder entfällt als Folge der Automatisierung gering qualifizierter Tätigkeiten. Der Kern der Polarisierungsthese hingegen ist, dass sich eine Schere zwischen komplexen Tätigkeiten mit hohen Qualifikationsanforderungen einerseits und einfachen Tätigkeiten mit niedrigem Qualifikationsniveau andererseits öffnet und mittlere Qualifikationsgruppen an Bedeutung verlieren.Footnote 3 Denn durch den Einsatz digitaler Technologien werde eine Automatisierung und Entwertung der Jobs mittlerer Qualifikationsgruppen Platz greifen (Kinkel et al. 2008; Düll 2013). Die Folge sind erhebliche Dequalifizierungsprozesse durch den Technologieeinsatz. Mättig et al. (Kap. 5) verweisen z. B. auf den Rückgang „eigenständiger Lösungsfindungen“ in der Kommissionierarbeit.

Diese Entwicklungsperspektiven von Tätigkeiten und Qualifikationen korrelieren zwangsläufig mit unterschiedlichen Varianten in der Arbeitsorganisation. In der Debatte um die Digitalisierung von Arbeit wird verschiedentlich als arbeitsorganisatorisches Leitbild, das im weitesten Sinne der Upgrading-These folgt, ein Muster hervorgehoben, das metaphorisch als Schwarm-Organisation bezeichnet wird (Hirsch-Kreinsen 2014a). Dieses Organisationsmuster ist durch eine lockere Vernetzung qualifizierter und gleichberechtigt agierender Beschäftigter gekennzeichnet, die weitgehend selbstorganisiert und situationsbestimmt im digitalisierten Arbeits- und Produktionsprozess agieren (vgl. Bächler et al., Kap. 3). Von der Leitungsebene wird lediglich eine Handlungsrahmen mit grundlegenden Regeln und strategischen Ziele vorgegeben (Neef und Burmeister 2005, S. 569ff.). Das Muster der polarisierten Arbeitsorganisation ist hingegen ein arbeitsorganisatorisches Gestaltungsmuster, das durch eine ausgeprägte Arbeitsteilung gekennzeichnet ist. Es entspricht weitgehend den derzeit schon in vielen hoch technisierten Betrieben vorherrschenden Arbeitsformen, die als widersprüchliche Kombination von Gestaltungsprinzipien der Dezentralisierung und Aufgabenerweiterung einerseits und Strukturierung und Standardisierung andererseits gekennzeichnet werden kann (z. B. Kinkel et al. 2008).

13.2 Flexibilisierungs- und Entgrenzungspfade der Industriearbeit:

Der Digitalisierungsprozess in der industriellen Produktion eröffnet Chancen zur Realisierung von Arbeitsstrukturen, die bislang eher aus anderen Arbeitszusammenhängen und wissensintensiven Branchen bekannt sind. Angesprochen werden hiermit Fragen der Entgrenzung und der Flexibilisierung von Industriearbeit. Diese lassen sich zum einen im Kontext einer weitgehenden Dezentralisierung bisheriger Unternehmensstrukturen verorten (z. B. Zäh et al. 2003; Scholz-Reiter et al. 2009; Forschungsunion und acatech 2013). Die Annahme ist, dass die bisherigen Formen der Fabrikorganisation, insbesondere auch die klassischen Organisations- und des Personaleinsatzstrukturen umgebaut, dezentralisiert und flexibilisiert werden (z. B. BMWi 2013; Spath et al. 2013; Bauernhansl 2014). Mit Blick auf die betriebliche Ebene ersetzen in dieser Argumentation temporäre Projektorganisationen und Netzwerke feste Organisations- und Managementstrukturen. Zugleich wird auf überbetriebliche Entwicklungstendenzen und den Wandel ganzer Wertschöpfungsstrukturen verwiesen, welche die bisherigen Formen überbetrieblicher Arbeitsteilung und des Outsourcings deutlich transzendieren. Durch die Ausdifferenzierung und Öffnung von Produktionsprozessen und den internetbasierten Einbezug unternehmensexterner Akteure in die Wertschöpfung gewinnen „Crowdsourcing“ oder „Crowdworking“ an Bedeutung (Leimeister und Zogaj 2013; Benner 2014). Verstanden wird darunter die Ausdifferenzierung von Produktions- und Arbeitsfunktionen nicht mehr in Form einer formalisierten Auslagerung von vertraglich definierten Aufgaben an ein Drittunternehmen oder eine bestimmte Institution, sondern die Verlagerung von verschiedenen Funktionen an eine ex ante nicht definierte Anzahl unterschiedlich spezialisierter Akteure.

Die möglichen Konsequenzen dieser Entgrenzungstendenzen für Arbeit und Beschäftigung werden in der vorliegenden Literatur ebenfalls widersprüchlich eingeschätzt. Auf der einen Seite finden sich, ähnlich wie bei der Upgradingthese, Argumente, die eine Steigerung der Qualität der Arbeit betonen. Hervorgehoben wird beispielsweise, dass die Flexibilisierungstendenzen generell eine deutlich verbesserte „Work-Life-Balance“, etwa eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie ermögliche (z. B. Kagermann 2014; BMWi 2015). Auch könnten Mitarbeiter unter den neuen Arbeitsbedingungen ihre Arbeitsbelastung und ihren Arbeitsanfall autonomer als früher regulieren. Auf der anderen Seite werden bereits seit längerem die Risiken der Prekarisierung entgrenzter, flexibilisierter und eigenverantwortlicher Arbeit diskutiert. Hierzu zählen etwa fehlende Regulation, neu entstehende unsichere Arbeitsformen sowie Prozesse der Arbeits- und Leistungsverdichtung (Boes et al. 2014). Ein zentrales Thema in diesem Kontext sind neue Kontrollpotenziale digitaler Technologien, die individuelle Leistungsüberwachungen ermöglichen.

13.3 Konzeptionelle Perspektive: Industrie 4.0 als sozio-technisches System

Der kurze Abriss des Forschungsstandes verdeutlicht, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt wenige verlässliche Trendbestimmungen zu den Perspektiven von Industriearbeit vorliegen. In der Bilanz der Themenfelder zeichnen sich sehr heterogene, teilweise widersprüchliche Entwicklungspfade ab. Der Grund für diese Heterogenität sind die derzeit noch unbeantworteten Fragen, welche neuen Technologien in der industriellen Produktion (in welchem Ausmaß) zum Einsatz kommen und in welcher Weise diese in laufende betriebliche (und überbetriebliche) Strukturen und Abläufe integriert werden. Denn hiermit sind die Potenziale und die Grenzen des Technologieeinsatzes und die weiteren Anforderungen des betrieblichen Gesamtsystems angesprochen, da „nicht alle technischen Lösungen, die machbar sind, zugleich auch wirtschaftlich und/oder wünschbar (Big Data versus Datenschutz) sein werden.“ (Ahrens 2015) In einer grundsätzlichen Perspektive sind demnach Lösungen gefragt, die gleichzeitig technologische, organisationsbezogene und qualifikatorische Erfordernisse berücksichtigen.

Diese Perspektive verweist auf Gestaltungsoptionen in der Nutzung und dem Einsatz neuer Technologien und relativiert die Sichtweise von einem mehr oder weniger deterministischen Verhältnis zwischen technologischer Entwicklung und ihren sozialen Konsequenzen (Pfeiffer 2013; Lutz 1987; BMAS 2015). „Wenn heute von einer vierten industriellen Revolution gesprochen wird, dann wirkt dies oft so, als würden die neuen technischen Möglichkeiten und Trends, quasi naturgegeben, unser Leben und unsere Arbeitswelt nach ihren Vorgaben umwälzen. Dies ist jedoch mitnichten so. Die Technik schafft nur neue Möglichkeiten.“ (BMAS 2015, S. 37) Zentrale Voraussetzung für die Realisierung der eingangs skizzierten Visionen zur zukünftigen (industriellen) Arbeitswelt ist eine humanorientierte Systemauslegung der Industrie 4.0, die von den maßgeblichen Akteuren der Wirtschaft, Wissenschaft und Politik befördert wird und den Menschen, seine Bedürfnisse und seine Arbeitsbezüge ins Zentrum der Produktionsabläufe rückt. Indes ist die Realisation von humanorientierten Formen der Arbeit kein Selbstläufer. Vielmehr erfordern sie einen ganzheitlichen und strategisch angelegten Forschungs- und Gestaltungsansatz und ein daran orientiertes Vorgehen (vgl. Thesen des wissenschaftlichen Beirats der Plattform Industrie 4.0 2014).

Ein solcher Ansatz soll im Folgenden unter dem Begriff „Social Manufacturing and Logistics“ entwickelt werden (ten Hompel und Hirsch-Kreinsen 2014; SoMaLI 2015). Zum einen werden mit dem Begriff die Social-Media- bzw. Social-Network-Funktionalitäten der Kommunikation und Vernetzung zwischen Objekten, Maschinen und Menschen angesprochen, die im privaten Bereich bereits verbreitet sind und nun zunehmend in Produktion und Logistik Einzug halten. Neben dem Einsatz von Social Media in der externen Unternehmenskommunikation (u. a. Marketing, Services und Vertrieb) wächst der Stellenwert der internen Nutzung in Unternehmen in Produktionsprozessen der bereichs- oder standortübergreifenden Zusammenarbeit. In diesem Kontext richtet sich das Augenmerk auf neue Formen von Social Networks, in denen Menschen und CPS zukünftig agieren. Zum anderen verweist der Begriff „Social Manufacturing and Logistics“ auf den Umstand, dass die Implementierung von Industrie-4.0-Systemen stets den sozial orientierten Gesamtzusammenhang eines industriellen Prozesses berücksichtigen muss. In der Implementierung von intelligenten Produktionssystemen werden Unternehmen mit neuen Anforderungen in der Vernetzung von Mensch, Technik und Organisation konfrontiert (Hirsch-Kreinsen 2014b; Botthof und Hartmann 2015b; Grote 2015). Dabei handelt es sich um einen komplexen und wechselseitigen Zusammenhang, der von einer Vielzahl von Einflussfaktoren geprägt wird, deren Einfluss darüber entscheidet, in welcher Weise die technologisch gegebenen neuen Nutzungspotenziale tatsächlich ausgeschöpft werden und welche Konsequenzen für Arbeit sich einspielen (Evangelista et al. 2014).

Einen analytischen Ansatzpunkt hierfür bietet der Rückgriff auf das Konzept des sozio-technischen Systems (Trist und Bamforth 1951; zusammenfassend Sydow 1985). Das Konzept der sozio-technischen Systeme findet auch in zahlreichen Veröffentlichungen der aktuellen Diskussion um Industrie 4.0 Berücksichtigung (Forschungsunion und acatech 2013; Botthof und Hartmann 2015a; Kurz 2014; Hirsch-Kreinsen 2014a; Grote 2015; Deuse et al. 2015). Diesem Konzept zufolge geht es nicht um die Frage eines entweder Technik oder Mensch, sondern um das Ziel einer aufeinander abgestimmten Gestaltung der Parameter des sozio-technischen Gesamtsystems. Es geht davon aus, dass eine Analyse und Gestaltung des Zusammenspiels der neuen Technologien mit den dadurch induzierten personellen und organisatorischen Veränderungen grundsätzlich den Blick auf das Gesamtsystem der Produktion und die hier wirksamen Interdependenzen erfordert (Rice 1963). Betrachtet man Industrie 4.0 aus der Perspektive des sozio-technischen Systems, so lassen sich zunächst die Teilsysteme Technologie, Mensch und Organisation charakterisieren (Abb. 13.1): Das technologische Teilsystem umfasst u. a. die neuen Technologien cyber-physischer Systeme (CPS), innovative Transporttechnologien und „Smart Objects“, die Bearbeitungsprozesse autonom steuern. Des Weiteren lassen sich neue Leichtbauroboter, Assistenzsysteme und neue Kommunikationsmedien in der Produktion dem technologischen Teilsystem zuordnen. Das Teilsystem Mensch umfasst mit Blick auf die Industrie 4.0 u. a. neue Personal- und Qualifikationsstrukturen, Berufsbilder und Beschäftigungsformen. Das Teilsystem Organisation bezieht sich u. a. auf den Wandel von Organisations- und Wertschöpfungsstrukturen sowie eine Neuorganisation von Managementfunktionen. Naturgemäß muss bei der Gestaltung des Gesamtsystems den strukturellen und ökonomischen Anforderungen des jeweiligen Einsatzfeldes und der verschiedenen Wissensdomänen von Industrie 4.0 Rechnung getragen werden. Darüber hinaus ist das betriebliche Gesamtsystem eingebettet in sozio-ökonomische Kontextbedingungen und Branchenstrukturen.

Abb. 13.1
figure 1

Industrie 4.0 als sozio-technisches System

Im Folgenden wird nicht allein nach der Funktionsweise und Veränderungen der Teilsysteme im Einzelnen gefragt, sondern es werden ihre Interdependenzen betont: Konkret geht es um die Auslegung der funktionalen Beziehungen bzw. der Schnittstellen (Interfaces) zwischen Technik, Mensch und Organisation. Nach allen vorliegenden empirischen Befunden muss die Auslegung der Schnittstellen zwischen den Teilsystemen eines sozio-technischen Systems als der entscheidende Ansatzpunkt angesehen werden, die Potenziale einer humanorientierten Gestaltung der Arbeit bestmöglich auszuschöpfen. Auf der Basis des gegenwärtigen Standes der Forschung lassen sich folgende zentrale Herausforderungen, Gestaltungsalternativen und arbeitsbezogenen Ziele der Gestaltung der Schnittstellen zwischen Mensch, Technik und Organisation benennen.

13.4 Schnittstellen zwischen Technologie, Mensch und Organisation in Industrie 4.0

13.4.1 Schnittstelle zwischen Technologie und Mensch

13.4.1 Herausforderungen

Die relevanten Herausforderungen an dieser Schnittstelle betreffen u. a. neue Konstellationen in der Mensch-Maschine-Interaktion (Stichwort „Social Machines“) sowie Anforderungen der handlungsorientierten Dialoggestaltung und der „verteilten Handlungsträgerschaft“ (Rammert und Schulz-Schaeffer 2002) zwischen dem technologischen System und dem menschlichem Arbeitshandeln. Vorliegende Studien verweisen auf eine zunehmende Verschränkung und Integration natürlicher und virtueller Realitäten, die über traditionelle Konzepte der Mensch-Technik-Interaktion hinausgehen und neue Lösungen u. a. durch den Einsatz intelligenter Assistenzsysteme erforderlich machen (Geisberger und Broy 2012; Botthof und Hartmann 2015b, S. 162). Zu diesen Lösungen zählen der Einsatz von Datenbrillen, Tablets, Devices etc. in Produktions- und Logistikprozessen und die damit verbundene kontextbasierte Informationsbereitstellung, die neue Möglichkeiten z. B. in der Fernwartung eröffnet. Zu den Innovationen in der Produktionstechnik zählen der Einsatz von Drohnen oder neue Robotik-Konzepte. So können z. B. Beschäftigte in der industriellen Montage durch Schwerlastroboter im Arbeitsprozess unterstützt werden. Die Verteilung von Funktionen und Zuschreibung von Kontrolle zwischen Maschine und Mensch wird als eine der zentralen Fragen bei der Auslegung von Industrie-4.0-Systemen angesehen. Sie betrifft letztlich auch den Grad der Automatisierung und den Stellenwert manueller Produktionsarbeiten sowie die Art der dezentralen und/oder zentralen Steuerung.

13.4.1 Alternativen

Die genannten Aspekte verweisen zugleich auf die (widersprüchlichen) Alternativen bei der Gestaltung der Mensch-Maschine-Schnittstelle. Zum einen geht es um die grundlegende Frage der Substitution von Aufgaben und Tätigkeiten in Folge von Automatisierungslösungen (vgl. Reiser et al., Kap. 10). Zum anderen treffen unterschiedliche Perspektiven hinsichtlich Aufgaben- und Kontrollverteilung zwischen Mensch- und Maschinen aufeinander. So können Assistenzsysteme abwechslungsreichere Arbeit ermöglichen und arbeitsplatznahe Lernprozesse unterstützen, aber auch durch strikte Prozessvorgaben den Handlungsspielraum von Mitarbeitern einschränken (vgl. Ullrich et al., Kap. 8). Eine Verbandsvertreterin fasst diese Divergenzen mit Blick auf die neuen Anforderungen des Mitarbeiters wie folgt zusammen: „Werde ich durch dieses Tablet kreativer und komme auf ein neues Niveau der Problemlösung, weil ich andere Werkzeuge, andere Informationen habe, die ich vorher nicht hatte? Oder bekomme ich dauernd irgendwie gesagt, was ich machen muss und De-Skilling passiert?“ (V1) Diese Perspektiven entsprechen der bereits skizzierten Differenzierung zwischen einem „Automatisierungsszenario“ und einem „Werkzeugszenario“ (Windelband et al. 2011; Windelband und Dworschak 2015; Dombrowski et al. 2014; Kurz 2014; Schlund und Gerlach 2013).

13.4.1 Ziel

In Hinblick auf die Gestaltungskriterien der Mensch-Maschine-Schnittstelle muss es daher vor allem um eine Schnittstellenauslegung gehen, bei der menschliche Arbeit die Kontrollmöglichkeiten über die Produktionsabläufe erhält bzw. behält und durch intelligente Assistenzsysteme unterstützt wird (Vgl. Vernim et al., Kap. 9). Mit Blick auf die erforderlichen Kontrollstrukturen vermutet ein Entwickler, „dass es auf Dauer nur funktioniert, wenn man den Nutzer die passenden Eingriffsmöglichkeiten gibt oder das Gefühl gibt, im Notfall die Kontrolle zu behalten“ (E1). Für eine Verbandsvertreterin ist aus Mitarbeitersicht entscheidend, dass „nicht die Technik entscheidet, wann ich arbeite, sondern ich entscheide. … Und ich glaube, das ist normal, das sollte so ein Leitbild sein.“ (V2) Die Mitarbeiter verbleiben „in ihrer Gesamtheit die Träger der planenden, steuernden, dispositiven, ausführenden usw. Tätigkeiten“ (Becker 2015, S. 25) und übernehmen wichtige Funktionen bei angereicherten Arbeitstätigkeiten.

Schnittstelle Technologie-Mensch: Industrie 4.0-Anwenderbetrieb im Bereich Logistik

Ein Unternehmen aus dem Segment der industriellen Dienstleistungen setzt im Wareneingang Transportroboter ein, welche die vereinnahmte Ware zum Lagerbereich befördern. Die Roboter bewegen sich autonom und sicher zwischen ihren menschlichen Arbeitskollegen. Die Mitarbeiter werden entlastet durch die Ausführung nicht wertschöpfender Prozesse durch die Transportroboter und haben mehr freie Kapazitäten für die Prüfung der eingehenden Ware. Ergonomie, nicht Rationalisierung, ist die Motivation des Unternehmens: Durch den intelligenten Technologieeinsatz sollen nicht Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter ersetzt, sondern einzelne Prozessschritte optimiert und vereinfacht werden. Die Substitution von körperlich belastenden Arbeiten soll insbesondere die Beschäftigungsfähigkeit älterer Mitarbeiter dauerhaft gewährleisten.

Im Ergebnis stehen hier ein erweitertes Aufgabenspektrum der Beschäftigten und neue Anforderungen an qualifizierte Arbeiten durch erweitere Mitgestaltungsmöglichkeiten. Die Arbeitssituation ist hier durch ein von Social-Media-Funktionen unterstütztes erweitertes Aufgabenspektrum und neue Anforderungen an qualifizierte Arbeiten gekennzeichnet. Individuelle Assistenzsysteme sollten an die jeweiligen Bedürfnisse und Leistungsdispositionen einzelner Mitarbeiter kontext- oder ortsbasiert angepasst werden können (vgl. Hengstebeck et al., Kap. 4). Dabei muss es vor allem auch möglich sein, dass die Beschäftigten hinreichende informationstechnische Möglichkeiten für die Sicherung und den Ausbau von Erfahrungswissen und Prozessen des „Learning on the Jobs“ erhalten (vgl. Senderek, Kap. 7).

13.4.2 Schnittstelle zwischen Technologie und Organisation

13.4.2 Herausforderungen

An dieser Schnittstelle stellen sich Herausforderungen für die Gestaltung in mehrfacher Hinsicht: Zum einen geht es um die Anforderungen der Integration neuer Technologien in existierende Arbeits- und Produktionsabläufe bzw. betriebliche Gesamtsysteme. Dies betrifft unter den Bedingungen vernetzter Systeme nicht allein die Ebene des Shopfloors, sondern auch die hierarchische Dimension der Organisation sowie die Dimension Logistik. Die Social-Media-Funktionalitäten und damit veränderte Formen der Kommunikation berühren sowohl die indirekten Bereiche wie Planung, Steuerung und Engineering als auch Leitungs- und Managementfunktionen nachhaltig. Damit verbunden ist eine Neuorganisation von Managementfunktionen, etwa von Produktions- und Betriebsleitungen, in Hinblick auf den Wandel ihrer Entscheidungskompetenzen und die Verantwortungsverlagerung auf nachgeordnete Ebenen. Außerdem beeinflusst der Automatisierungsgrad der Technik die für die Organisationsgestaltung (noch) verfügbaren Funktionen. Insbesondere sind hier die neuen Bedingungen einer individualisierten Produktion (Losgröße 1) auf der Basis autonomer, selbststeuernder Systeme in Rechnung zu stellen, die auch in organisatorischer Hinsicht eine dezentrale Steuerung und Intelligenz nahe legen. Letztlich bieten sich auf Grund einer zeitlichen und funktionalen Entkopplung bei Industrie-4.0-Systemen weite Spielräume für alternative Formen der Organisation. Mit Blick auf die betriebsübergreifenden Produktionsabläufe lässt sich auf den Wandel von Wertschöpfungsstrukturen und bisheriger Formen überbetrieblicher Arbeitsteilung verweisen. So zeigen Vorzeigeunternehmen der Industrie 4.0, dass „sie mit einer sehr stark digitalisierten Wertschöpfungskette einfach extrem erfolgreich sind.“ (E1) Bei einer weitergehenden Ausdifferenzierung und Öffnung von Produktionsprozessen werden unterschiedliche interne und unternehmensexterne Akteure (Crowdsourcing) in den Wertschöpfungsprozess einbezogen.

13.4.2 Alternativen

Bei der weitreichenden Implementierung von Industrie-4.0-Systemen werden die Widersprüche zwischen organisationalen und technologiezentrierten Perspektiven deutlich: Nicht zuletzt in KMU-Betrieben mit begrenzten finanziellen und personellen Ressourcen eröffnen sich Fragen, inwiefern und in welchem Ausmaß die potenziell verfügbaren CPS-Technologien wirtschaftlich rentabel und organisatorisch sinnvoll implementiert werden können. Strukturelle Hindernisse in der Verknüpfung technologischer und organisationsbezogener Erfordernisse können neben einer unklaren Rentabilitätserwartung in organisationsstrukturellen Barrieren, zu bewältigender Komplexität in der überbetrieblichen Arbeitsteilung sowie in datenschutzrechtlichen Problemlagen (Zugang betriebssensibler Daten für externe Akteure) liegen. So stehen einige Unternehmen der Entwicklung abwartend bis ablehnend gegenüber, während einige Unternehmen Vorreiterfunktionen übernehmen und der technologiezentrierten Perspektive folgen.

13.4.2 Ziel

Die „Smart Factory“ ist eine Unternehmung, bei der die industrielle Wertschöpfung nicht mehr durch traditionelle Grenzziehungen und Unternehmensstrukturen geprägt ist. Dieser Anspruch setzt in organisationsbezogener Hinsicht eine dezentrale Steuerung und Intelligenz voraus, die dennoch kontrollierbar bleibt: „Also weg von der zentralen Intelligenz. (…) Industrie 3.0 war Steuerung durch den PC und Industrie 4.0 ist dezentrale Steuerung, dezentrale Intelligenz und Schwarmintelligenz und trotzdem in einem kontrollierbaren System (…). Ich würde nicht sagen:,kontrolliert‘, ich würde sagen:,kontrollierbar‘.“ (A3)

Schnittstelle Technologie-Organisation: Sensorik-Entwicklung für autonome Systeme

In einem Elektronikunternehmen werden neue Sensortechnologien entwickelt, deren Einsatz die traditionellen Produktionsprozesse verändern sollen: Mit intelligenten Sensoren versehene Maschinen sollen dezentrale autonome Systeme bilden und das Potenzial von Industrie 4.0 ausschöpfen. Dies entspricht auch den Anforderungen der Kunden des Unternehmens, die immer seltener einzelne Sensoren, sondern vielmehr umfassende Lösungen fordern. Damit verändern sich nicht nur die Anwenderbetriebe, sondern auch das Elektronikunternehmen selbst wandelt sich vom Technologieanbieter zum Problemlöser seiner Kunden. In der Konsequenz werden die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zukünftig anders zusammenarbeiten – über klassische Abteilungs- und Betriebsgrenzen hinweg und in temporären (global vernetzten) Projektteams.

In Hinblick auf eine humanorientierte Organisationsgestaltung in ihrer Gesamtheit bedeuten diese Entwicklungen einen weitgehenden Dezentralisierungsschub und Hierarchieabbau innerhalb oft ohnehin schon relativ flach strukturierter Fabrikorganisationen. Die Bewältigung der Interdependenzen und der damit verbundenen Widersprüche, Hindernisse und Herausforderungen von Technologie und Organisation macht eine langfristig angelegte und partizipative Systemeinführung erforderlich (vgl. die Beiträge von Löhrer et al., Kap. 6 und Bächler et al., Kap. 3). Ullrich et al. (Kap. 8) entwickeln neue Leitfäden für die Systemimplementierung und Mitbestimmung sowie Handlungsorientierungen für Qualifizierung und Ergonomie.

13.4.3 Schnittstelle zwischen Mensch und Organisation

13.4.3 Herausforderungen

An der Schnittstelle zwischen den betrieblichen Teilsystemen Mensch und Organisation werden Fragen nach der Gestaltung von Arbeitsorganisation, Tätigkeitsstrukturen und Qualifizierungsanforderungen sowie Management- und Kommunikationsstrukturen aufgeworfen. Im Mittelpunkt steht die Frage, inwieweit durch organisatorische Gestaltung menschliche Arbeit eine möglichst vollständige Gesamtaufgabe, Handlungsspielräume und auch Lern- und Qualifizierungsmöglichkeiten erhält. Denn die Organisation entscheidet letztlich über den Aufgabenzuschnitt und die damit zusammenhängenden Qualifikationsanforderungen.

13.4.3 Alternativen

Die Gestaltungsalternativen an der Schnittstelle zwischen Mensch und Organisation äußern sich u. a. in unterschiedlichen Modellen der Arbeitsorganisation (betriebswirtschaftliche Effizienz- oder Humanorientierung), in kontroversen Ansichten anforderungsgerechter Qualifizierungsmaßnahmen oder in den hohen Komplexitätsanforderungen dezentraler Steuerungsformen. Ganz offensichtlich kann nicht von einem eindeutig festgelegten „one-best-way“ der Arbeits- und Organisationsgestaltung gesprochen werden. Wie oben schon angesprochen lassen sich zwei unterschiedliche Muster der Arbeitsorganisation erkennen. Die eine Gestaltungsalternative verweist auf ein arbeitsorganisatorisches Muster, das metaphorisch als ganzheitlich/integrativ oder Schwarm-Organisation bezeichnet werden kann (Hirsch-Kreinsen 2015). Es zeichnet sich durch ein hohes Maß an struktureller Offenheit, eine sehr begrenzte Arbeitsteilung, selbstorganisierte Tätigkeiten und hohe Flexibilität aus. Bächler et al. (Kap. 3) zeigen am Beispiel der Anlernassistenz, dass sich durch die weitgehende Selbstorganisation der Montagearbeiter deutlich weniger Interaktionsanlässe für Vorgesetzte ergeben. Die andere Gestaltungsalternative einer polarisierten Organisation verweist auf ein arbeitsorganisatorisches Muster, das durch eine ausgeprägte Differenzierung von einfachen und höher qualifizierten Arbeiten gekennzeichnet ist (Hirsch-Kreinsen 2015).

13.4.3 Ziel

Die gegebenen organisatorischen Gestaltungsspielräume können zu einer grundlegenden Aufwertung aller Tätigkeiten und Qualifikationen genutzt werden. Dies ermöglicht Arbeitssituationen mit besonderen Qualifikationsanforderungen und unter Umständen hohen Handlungsspielräumen, einen polyvalenten Einsatz der Beschäftigten sowie vielfältigen Möglichkeiten des „Learning on the job“. Einschlägige Kompetenzen werden im Prozess selbst erworben oder in Form arbeitsnaher und arbeitsintegrierter Ansätze (Senderek, Kap. 7): Damit angesprochen sind sowohl das individuelle Lernen u. a. durch Job-Rotation als auch das organisationale Lernen. Lernförderliche Arbeitsorganisationen und Qualifizierungsstrategien orientieren sich an dem heterogenen Erfahrungsstand und unterschiedlichen Kompetenzbündel der gering-, mittel- und hochqualifizierten Beschäftigten. Ein zentrales Merkmal ist, dass die Aufgaben selten an einzelne Beschäftigte adressiert werden, vielmehr handelt das Arbeitskollektiv selbst organisiert, hoch flexibel und situationsbestimmt je nach zu lösenden Problemen des technologischen Systems.

Schnittstelle Organisation-Mensch: Aufgabenwandel in der vernetzten Produktion

In einem Elektronikunternehmen haben digitale Produkttechnologien eine hohe Relevanz. Auf der Basis einer hochautomatisierten und vernetzten Produktionslogistik werden Anforderungen aus Kundenaufträgen ermittelt und mit der Produktion, dem Warenlagern und der Endmontage abgeglichen. Mit der digitalen Automatisierung ergeben sich personal- und organisationsbezogene Veränderungen. Zum einen werden bisher manuell ausgeführte Aufgaben automatisiert, wenngleich menschliche Problemlösekompetenzen weiterhin erforderlich sind. Zum anderen entstehen für die Mitarbeiter neue Anforderungen wie beispielsweise Funktionserhaltung und Entstörung, der kompetente Umgang mit digitalen Endgeräten sowie kommunikative Kompetenzen beim Einrichten von Maschinen. Gleichzeitig wird die Arbeit durch viele Wechsel zwischen den Stationen und Produkten abwechslungsreicher. An der Schnittstelle zwischen Organisation und Mensch ergibt sich damit die Möglichkeit, die Arbeitsorganisation völlig umzugestalten und die neu entstandenen Aufgaben zu neuen ganzheitlichen Tätigkeiten zu bündeln.

Nach Löhrer et al. (Kap. 6) müssen die zu entwickelnden Prozesse dem Mitarbeiter Verantwortungsfreiräume und Möglichkeiten zur selbstverantwortlichen Lösungsfindung eröffnen. Der Arbeitsauftrag wird durch einen vom Management vorgegebenen Handlungsrahmen (Stichwort: Kontextsteuerung) mit Regeln, Zielen und Leitvorstellungen definiert. Diese Entwicklungen sprechen insgesamt für die These der Höherqualifizierung bzw. ggf. sogar einer „Requalifizierung“ von Produktionsarbeit in der Industrie 4.0, die in einer gewerkschaftlichen Perspektive mit „wachsender Eigenverantwortung, vielfältigen Entfaltungsmöglichkeiten für kreatives Arbeitshandeln und einer Steigerung der Arbeits-, Kooperations- und Beteiligungsqualität“ (Kurz 2014, S. 108) der Beschäftigten verbunden sein kann.

13.5 Ausblick: Leitbild der digitalisierten Arbeit in der Industrie 4.0

In dem Zusammenspiel der Schnittstellen und ihrer arbeitsbezogenen Ziele werden in erster Näherung die Konturen eines Leitbilds von sozialer, d. h. human- und kommunikationsorientierter Produktion und Logistik erkennbar. Kriterien für eine solche Entwicklungsperspektive von Arbeit wären Tätigkeiten mit weitgehenden Gestaltungsmöglichkeiten und der Nutzung intelligenter Assistenzsysteme, vollständige Gesamtaufgaben, Lernförderlichkeit und neue Formen der Selbstorganisation bei dezentraler Steuerung. Folgt man den Ergebnissen der Arbeits- und Digitalisierungsforschung, so sind damit die sozialen und organisatorischen Voraussetzungen für eine hohe Systemtransparenz für die Beschäftigten, die Beherrschbarkeit komplexer Systemabläufe und damit eine hohe Funktionsfähigkeit des Gesamtsystems angesprochen. Der Prozess der Informatisierung von Arbeits- und Produktionsprozessen in der Industrie 4.0 bietet Perspektiven einer Aufwertung von Tätigkeiten in den unterschiedlichen Funktionsbereichen, die sich durch höhere Komplexitäts- und Flexibilitätsanforderungen auszeichnen. Ansatzpunkte für eine humanorientierte Systemgestaltung in der Industrie 4.0 sind in Abb. 13.2 beispielhaft zusammengefasst.

Abb. 13.2
figure 2

Leitbild “Social Manufacturing and Logistics” – beispielhafte Präzisierung

Es kann davon ausgegangen werden, dass ein solches Leitbild eine hinreichende Voraussetzung für eine optimale Ausschöpfung der technologischen und ökonomischen Potenziale des automatisierten und ggf. individualisierten Produktionssystems darstellt. Denn dieses überlässt nicht wie die technologiezentrierte Perspektive menschlichem Arbeitshandeln lediglich fragmentierte Restfunktionen. Vielmehr eröffnet die komplementäre Konzeption eines „Social Manufacturing and Logistics“ neue Gestaltungsmöglichkeiten der Arbeit, um die Awareness- und Feedback-Probleme des Handelns an komplexen Anlagen zu minimieren, informelles Arbeitshandeln und laufende Lernmöglichkeiten zu ermöglichen und die Komplexität des Systems kontrollierbar zu lassen. Mit Blick auf die einschlägige arbeits-und sozialwissenschaftliche Literatur (u. a. Lee und Seppelt 2009; Cummings und Bruni 2009; Grote 2005) lässt sich auch von einem „komplementären Automatisierungskonzept“ sprechen, das in einer ganzheitlichen Perspektive die spezifischen Stärken und Schwächen von menschlicher Arbeit und technischer Automatisierung identifiziert, um eine zufriedenstellende Funktionsfähigkeit des Gesamtsystems zu ermöglichen. Folgt man einer Formulierung von Grote, so werden bei einer solchen Vorgehensweise die spezifischen Stärken und Schwächen von Mensch und Technik „nicht im Sinne eines entweder Mensch oder Technik gegeneinander ausgespielt, sondern durch eine durchgängige Gestaltung der Mensch-Technik-Interaktion zu einer neuen Qualität des Gesamtsystems verschmolzen“ (Grote 2005, S. 67 – Hervorheb. im Orig.). Dazu werden gleichermaßen die drei Dimensionen des sozio-technischen Systemkonzepts in die Gestaltung einbezogen, um damit das System zu einer Bewältigung von Schwankungen und Störungen zu befähigen. Bedingung hierfür ist eine partizipative Systemauslegung, die sich auf die drei Dimensionen des sozio-technischen Systems, Technik, Organisation und Arbeit und ihre Interdependenzen richtet und Beteiligungsverfahren für Beschäftigte und ihre Interessenvertretungen systematisch in den Einführungs- und Gestaltungsprozess von Industrie 4.0 einbezieht.

Abschließend ist zu betonen, dass eine humanorientierte Gestaltungsperspektive von Industrie 4.0 die beste Voraussetzung dafür ist, um Industriearbeit zum einen alters- und alternsgerecht zu gestalten und um sie zum anderen als zumeist anspruchsvolle, belastungsarme und selbstorganisierte „High-Tech“-Arbeit für die junge Generation wieder attraktiv zu machen. Abzusehen ist, dass erhebliche Anstrengungen der Akteure in Wirtschaft, Politik und Wissenschaft erforderlich sein werden, um das skizzierte Leitbild einer künftigen industriellen Arbeits- und Produktionswelt Realität werden zu lassen (vgl. Kuhlmann und Schumann 2015; Howaldt et al. 2015). Hier müssen die Charakteristika und Chancen der skizzierten Entwicklungsperspektive weiter präzisiert werden, um die Vorstellungen und Visionen von neuer Industriearbeit dauerhaft zu implementieren.