Zusammenfassung
In den vergangenen 60 Jahren der weltweiten Armutsbekämpfung wurde viel erreicht. Insbesondere der Anteil der Ärmsten der Armen sank deutlich. Lebte in den 1980er Jahren noch einer von zwei Menschen (52 Prozent) in den Entwicklungsländern von weniger als 1,25 Dollar am Tag, war es 2010 nur noch jeder Fünfte (21 Prozent); konkret sind das knapp eine Milliarde Menschen, die heute von ihrem Einkommen kaum ihr Essen und Trinken bezahlen können. Der Anteil der Armen, die von weniger als 2 Dollar am Tag leben, stieg im gleichen Zeitraum von 649 Millionen auf 1,18 Milliarden und hat sich damit fast verdoppelt. Im Wesentlichen hat sich das Problem also nur verlagert. Nach wie vor leben zweieinhalb Milliarden Menschen in so großer Armut, dass für ausreichend Essen und Wohnraum, Medikamente, Arztbesuche, Schulmaterialien und Kleidung nichts übrig bleibt. Für die allermeisten Armen dieser Erde scheint es nach wie vor keinen Ausweg zu geben. Ein wesentlicher Grund dafür ist extreme Gewalt, die den Alltag der Ärmsten prägt. Sexuelle Gewalt, Zwangsarbeit und Sklaverei, Menschenhandel, Raub und Polizeigewalt bedrohen ihr Leben jeden Tag. Diese Tatsache wurde in der Entwicklungszusammenarbeit der vergangenen Jahre weitgehend vernachlässigt. Die Folge: Weil Gewalt und Unrecht gegen Arme in Entwicklungs- und Schwellenländern nicht bekämpft wird, können sämtliche, an sich sinnvolle Maßnahmen zur Armutsbekämpfung (Wasser-, Hunger-, Bildungs-, Agrar- und Wirtschaftsprojekte oder Mikrokredite) die Lebensbedingungen der Armen nicht nachhaltig verbessern. Denn so lange Leib und Seele (Vergewaltigung, Zwangsarbeit, Misshandlung, Erpressung, willkürliche Inhaftierung …) sowie mühsam erarbeiteter Besitz (Wohnraum, Äcker, Läden usw.) willkürlich und ungestraft zerstört werden können, weil Regierungen und Behörden arme Menschen in Entwicklungs- und Schwellenländern trotz entsprechender Gesetze nicht schützen, werden die etablierten Maßnahmen zur Armutsbekämpfung langfristig nichts verändern. Deshalb ist ein Umdenken in der Entwicklungszusammenarbeit nötig. Ihr stellt sich eine doppelte Herausforderung: einerseits die extreme, alltägliche Gewalt gegen Arme wahrzunehmen und andererseits die Straflosigkeit zu beenden, die diese Gewalt erst ermöglicht.
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Haugen, G.A., Boutros, V. (2016). Die verborgene Krise an einem historischen Wendepunkt. In: Gewalt – die Fessel der Armen. Springer Spektrum, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-47054-1_2
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