Anamnese

Der 14-jährige Sammy fährt im Sommer zu einem Schulferienlager an die nordspanische Atlantikküste. Bereits vor Abreise klagt er über Halsschmerzen, ansonsten geht es ihm gut. Seine Vorgeschichte war unauffällig, bisher ist er nie krank gewesen.

Nach einer Woche erfolgt ein Anruf zu Hause, dass es Sammy weiterhin nicht gut ginge. Er habe seit 6 Tagen im Ferienlager Fieber und klage über Halsschmerzen. Er möchte nichts mehr essen, weil er beim Schlucken erhebliche Schmerzen hat. Die Betreuer sind mit ihm zu einem Arzt vor Ort gegangen, der Roxithromycin unter der Diagnose einer Angina tonsillaris verordnet hat.

Am Tag vor dem Anruf hatte der Junge den Betreuern zunehmend Sorge bereitet, weil er sich schlecht fühlte, nur noch liegen wollte und nicht mehr an Ausflügen teilnehmen mochte. Daraufhin organisieren die Veranstalter des Zeltlagers einen Rückflug des Patienten in die Heimat. Dort stellen die Eltern Sammy gleich beim Hausarzt vor, der sie in eine ortsnahe Klinik einweist. Die Ärzte dort verlegen den Jungen sofort in eine größere Kinderklinik, weil sie den Verdacht auf eine Sepsis äußern.

Dort wird eine unauffällige Familienanamnese erhoben; der Junge selbst habe gelegentlich unter Belastungsasthma gelitten, ansonsten sei er immer gesund gewesen.

Untersuchungsbefund

  • 14-jähriger Junge in stark reduziertem Allgemeinzustand, deutlich schwitzend; Ruhedyspnoe mit Einziehungen.

  • Vitalparameter: AF 55/min, SpO2 96% bei 3 l/min O2 über Nasenbrille, Puls 140/min, RR 77/55 mmHg. Glasgow-Coma-Scale 15.

  • Beidseitig basal abgeschwächtes Atemgeräusch und feinblasige Rasselgeräusche; Extremitäten kühl; kein Meningismus; Tonsillen mäßig vergrößert, keine Beläge; Abdomen weich, Leber 6 cm unter dem Rippenbogen tastbar, Milz 5 cm unter dem linken Rippenbogen tastbar; zervikale Lymphknoten links stärker als rechts vergrößert, druckschmerzhaft, gut verschieblich.

Laborwerte und Bildgebung

Laborwerte (pathologische Wert in Fett):

Parameter (Einheit)

Vorliegender Wert

Altersnorm

Leukozyten (G/l)

10

4,5–10,5

Stabkernige (%)

42

≤4

Segmentierte (%)

5

40–70

Eosinophile (%)

1

2–4

Basophile (%)

1

0–2

Monozyten (%)

5

4–10

Lymphozyten (%)

5

25–40

Metamyelozyten (%)

4

 

Lymphozytäre Reizformen (%)

2

 

Hämoglobin (g/dl)

12,2

12–16

Thrombozyten (G/l)

23

150–400

C-reaktives Protein (mg/dl)

36,8

≤0,5

Kreatinin (mg/dl)

1,9

0,5–1,2

Harnstoff (mg/dl)

53

12–38

Glutamat-Oxalacetat-Transaminase (GOT) (U/l)

32

≤44

Glutamat-Pyruvat-Transaminase (GPT) (U/l)

28

≤48

Bilirubin gesamt (mg/dl)

2,5

≤1,0

Bilirubin direkt (mg/dl)

1,8

≤0,3

Quick (%)

63

70–120

Partielle Thromboplastinzeit (PTT) (s)

42

25–42

Antithrombin III (%)

46

75–130

D-Dimere (µg/ml)

2,9

≤0,7

Fibrinogen (mg/dl)

556

160–400

Röntgen Thorax (Abb. 5.1): multiple Rundherde beidseitig.

Abb. 5.1
figure 1

Multiple Rundherde in der Lunge. (Mit freundlicher Genehmigung des Klinikums der Universität München)

Fragen

  1. 1.

    Beschreiben Sie das klinische Bild.

  2. 2.

    Welches ist das vorrangige Problem?

  3. 3.

    Welche Differenzialdiagnosen sollten erwogen werden?

Differenzialdiagnostische Überlegungen

  • Virale Infektion

  • Pilzinfektion bei unklaren Lungenrundherden

  • Maligne Erkrankung

  • Immundefekt

  • Bakterielle Streuung aus dem Pharynxbereich

  • Vaskulitis

  • Embolisches Geschehen

Weiterer Verlauf

Die klinischen Zeichen zeigen zusammengefasst:

  • ein klinisch und laborchemisch septisches Krankheitsbild mit Pharyngitis und zervikaler Lymphadenopathie ,

  • eine respiratorische Insuffizienz bei multifokalen pulmonalen Infiltraten,

  • eine Hepatomegalie mit Cholestase und Splenomegalie,

  • eine beginnende Verbrauchskoagulopathie .

Es wird eine weitere ausgedehnte bakteriologische und virologische Diagnostik durchgeführt. Es wird eine Blutkultur angelegt sowie eine Chlamydien- und Mykoplasmen-Serologie abgenommen. Der Influenza-Schnelltest sowie ein Quantiferontest werden durchgeführt. Es wird ein HNO-ärztliches Konsil eingeholt, hierbei wird eine ödematös vorgewölbte linkslaterale Pharynxwand beschrieben. Die Tonsillen sind links entzündlich verändert.

Fragen

  1. 4.

    Welche weitere Diagnostik sollte als Nächstes durchgeführt werden?

Eine CT und eine Ultraschalluntersuchung des Halses werden durchgeführt (Abb. 5.2a und b, Abb. 5.3), mit dem Befund einer Weichteilvermehrung links peritonsillär sowie dem Verdacht auf Thrombosierung der linken V. jugularis.

Abb. 5.2
figure 2

a CT: Weichteilvermehrung pharyngeal links; b CT mit Kontrastmittel: Thrombus in der V. jugularis links. (Mit freundlicher Genehmigung des Klinikums der Universität München)

Abb. 5.3
figure 3

Dopplersonografie: Thrombus in der V. jugularis links. (Mit freundlicher Genehmigung des Klinikums der Universität München)

Wegen der Verdachtsdiagnose Lemierre-Syndrom wurde die antibakterielle Therapie um Clindamycin erweitert. Wegen zunehmender Kreislaufinsuffizienz erfolgte eine intensivmedizinische Therapie, einschließlich der Gabe von Katecholaminen. Es trat eine zunehmende respiratorische Erschöpfung auf, die Atemfrequenz stieg auf 50–60%/min, der Sauerstoffbedarf auf 6 l pro Minute., Die Lunge erschien im Röntgenbild zunehmend verschattet (Abb. 5.4a).

Abb. 5.4
figure 4

a, b Zunahme der Verschattung der Lunge. (Mit freundlicher Genehmigung des Klinikums der Universität München)

Fragen

  1. 5.

    Welches wäre der nächste indizierte Schritt?

Der respiratorische Verlauf gestaltete sich schwierig (Abb. 5.4b). Die Beatmungsspitzendrücke stiegen bis auf 36 cmH2O, der positive endexspiratorischer Druck (PEEP) auf 10 cmH2O, es wurden 85–100% Sauerstoff notwendig. In den arteriellen Blutgasanalysen fand sich bei permissiver Hyperkapniebeatmung zur Lungenschonung bei klinischem ARDS („acute respiratory distress syndrome“) ein pH von 7,1, ein arterieller Kohlendioxidpartialdruck (paCO2) von 107 mmHg, Sauerstoffpartialdruck (pO2) 90 mmHg.

Der infektiologische Verlauf war zunächst von einem Abfall der Entzündungsparameter gekennzeichnet, danach kam es aber zu einem sekundären, erneuten Anstieg des C-reaktiven Proteins (CRP).

Fragen

  1. 6.

    Was könnte am ehesten die Ursache für einen erneuten CRP-Anstieg bei noch ausbleibender klinischer Besserung sein?

In der Blutkultur war mittlerweile ein gramnegativer anaerober Keim nachgewiesen worden (Fusobacterium necrophorum ), in der Serologie zeigt sich eine Anti-EBNA-IgG-Positivität. In der Sonografie zeigte sich eine Hepatosplenomegalie ohne Abszess, in der Echokardiografie ein unauffälliger Befund.

Unter der Annahme einer möglichen nosokomialen Superinfektion wurde Vancomycin hinzugesetzt, danach kam es zu einem dauerhaften CRP-Abfall, sodass also eine nosokomiale Superinfektion mit einem multiresistenten grampositiven Erreger (Staphylococcus epidermidis , Methicillin-resistenter S. aureus [MRSA ] – z. B. als Venenkatheterinfektion – zumindest als mögliche Ursache des erneuten CRP-Anstiegs denkbar ist.

5 Tage nach der stationären Einweisung war der Entschluss zu einer Heparinisierung gefasst worden. Danach kam es sukzessiv zu einem Anstieg der Thrombozytenzahlen. Klinisch besserte sich die Beatmungssituation allmählich, sodass nach 9 Tagen eine Extubation möglich war (Abb. 5.5).

Abb. 5.5
figure 5

Normalisierung des Lungenbildes nach Antibiose trotz schwerstem Verlauf. (Mit freundlicher Genehmigung des Klinikums der Universität München)

Die Antibiotikatherapie wurde nach 3 Wochen beendet. Zu diesem Zeitpunkt konnte der Patient auch nach Hause entlassen werden. Eine Therapie mit Fragmin 5000 IE/Tag s.c. für 3 Monate wurde initiiert. 3 Wochen später stellte sich der Patient zu einer Kontrolluntersuchung in der Ambulanz vor. Zu diesem Zeitpunkt war der Zustand ausgezeichnet und es bestanden keinerlei Restbeschwerden.

Antworten

  1. 1.

    Septisches Krankheitsbild mit Pharyngitis , respiratorische Insuffizienz bei multifokalen pulmonalen Infiltraten; Hepatosplenomegalie ; beginnende disseminierte intravasale Gerinnung (DIC).

  2. 2.

    Das septische Geschehen und das respiratorische Versagen.

  3. 3.

    Virale Infektion, Pilzinfektion, maligne Erkrankung, Immundefekt, bakterielle Streuung aus dem Pharynxbereich, Vaskulitis, embolisches Geschehen.

  4. 4.

    Eine CT und eine Ultraschalluntersuchung des Halses werden durchgeführt.

  5. 5.

    Intubation und Beatmung.

  6. 6.

    Erneute Keimeinschwemmung oder auch eine nosokomiale Superinfektion sind denkbar.

Diagnose

Lemierre-Syndrom

Zusammenfassung

Ätiologie

Historisch wurde diese Krankheit vereinzelt seit etwa 1900 beschrieben. 1936 berichtete Lemierre erstmals über 20 Patienten mit einer anaeroben postanginösen Sepsis.

Bei den Erregern, die beim Lemierre-Syndrom involviert sind, handelt es sich um anaerobe gramnegative Bakterien, in 81% der Fälle Fusobacterium necrophorum, in 11% der Fälle Fusobacterium nucleatum oder Fusobacterium ganidiaformans, in 8% der Fälle sind andere Erreger wie Streptokokken, Bacteroides oder Peptostreptokokken involviert.

Diese Erkrankung ist uns auch unter den Synonyma Nekrobazillose und postanginöse Sepsis bekannt. Die Definition umfasst eine Pharyngitis oder Tonsillitis mit Thrombose der V. jug. interna und septischer Thromboembolisierung.

Nach einer oropharyngealen Infektion kommt es zu einer Beteiligung des Parapharyngealraums, die zu einer septischen Thrombose der V. jug. interna führt. Von diesem Herd aus kommt es zu einer hämatogenen septischen Streuung in die Lunge. Das Gesamtbild ist als Lemierre-Syndrom bekannt.

Epidemiologisch sind überwiegend bisher gesunde männliche Jugendliche (75%) betroffen. Ein Risikofaktor stellt eine vorausgegangene Epstein-Barr-Virus(EBV)-Infektion dar. Es gibt keine familiären Fälle und es gibt auch keine saisonale Häufung. Zur absoluten Häufigkeit ist kaum etwas bekannt, vermutet wird eine Inzidenz von ca. 1:1.000.000; es handelt sich also um eine seltene, allerdings dann lebensbedrohliche Erkrankung. Entscheidend ist, dass der Erreger normalerweise durch die leitliniengerechte antibakterielle Therapie einer Pharyngitis (Penicilline) erfasst wird, nicht jedoch durch die häufig fälschlicherweise primär gegebenen Makrolid-Antibiotika (in unserem Fall Roxithromycin).

Pathogenese/Klinik

Typisch ist der Beginn innerhalb von 10 Tagen nach der Primärinfektion mit hohem Fieber, Nackensteife und Halsschwellung sowie einer Pneumonie. Im weiteren Verlauf zeigt sich ein zunehmend septisches Krankheitsbild mit respiratorischer Erschöpfung, Verbrauchskoagulopathie, Thrombopenie und Kreislaufinsuffizienz. Charakteristisch sind auch die Laborbefunde: Hier zeigt sich eine Leukozytose mit Linksverschiebung, Thrombopenie, CRP-Erhöhung und leichte Hyperbilirubinämie. Im Röntgen-Thorax sind multiple bilaterale Infiltrate zu sehen und im Doppler-Ultraschall bzw. CT mit Kontrastmittel oder MRT lässt sich eine Thrombose der V. jug. interna, eventuell mit einer Mitbeteiligung der kleinen zuführenden Venen nachweisen.

Eine pulmonale Beteiligung wird in 85% der Fälle beschrieben. Komplikationen können hier ein Pleuraerguss (51%), ein Lungenabszess (41%), ein Pleuraempyem (10%) oder eine Schocklunge (ARDS) darstellen. Es kann in seltenen Fällen auch zu (arteriellen) septischen Streuungen kommen. Beschrieben sind eine Osteomyelitis, eine septische Arthritis und Meningitis sowie abdominale Mikroabszesse, eine Endokarditis oder Mediastinitis. An weiteren Organbeteiligungen ist die bereits genannte Hepatosplenomegalie sowie Milzabszesse bekannt.

Diagnostik

Die Diagnose erfolgt aus dem klinischen Bild und der Anamnese sowie dem Nachweis einer jugularen Venenthrombose und dem Wachstum von anaeroben Erregern (vor allem Fusobacterium necrophorum) in der Blutkultur.

Diagnostische Fallen bestehen darin, dass die Pharyngitis/Tonsillitis bereits abgeklungen sein kann, wenn es zu dem septischen Krankheitsbild kommt. Die Fusobakterien in der Blutkultur wachsen langsam, sodass hier die Diagnose verspätet sein kann. Nicht selten ist die Mykoplasmen-PCR falsch-positiv, was zu Fehldiagnosen Anlass geben kann.

Therapie

Es wird eine antibakterielle Therapie i.d.R. als Kombinationstherapie von Penicillin oder einem Cephalosporin kombiniert mit Metronidazol durchgeführt, alternativ eine Monotherapie mit Clindamycin. Die antibakterielle Therapie sollte für 3–6 Wochen durchgeführt werden. Cave: Es besteht keine Empfindlichkeit der Fusobakterien gegenüber Aminoglykosiden. Makrolide und Ciprofloxacin wirken nicht ausreichend. Ein kleiner Teil bildet β-Laktamasen.

Antikoagulatorische Therapie: Dieses Thema ist bisher nicht endgültig geklärt, es gibt aber Hinweise darauf, dass eine Therapie mit Heparin sinnvoll sein kann. Falls sie durchgeführt wird, soll diese Antikoagulation über 3 Monate beibehalten werden.

In der präantibiotischen Ära hatte das Lemierre-Syndrom eine Mortalität von 32–90%, seit der Einführung der Antibiotika ist diese auf 17% zurückgegangen. Es handelt sich also nach wie vor um eine sehr ernste Diagnose, Hauptrisiko ist eine Verkennung der Ursache einer fulminant septischen Erkrankung, sodass die ananerobier-wirksame Therapie zu spät einsetzt.

Prophylaxe

Eine Vakzine gegen Fusobakterien ist nicht verfügbar. Die einzige bekannte präventive Maßnahme besteht in der adäquaten Primärtherapie einer bakteriellen Tonsillopharyngitis.

1 Fazit

Bei einer akuten oder kurz zuvor stattgefundenen oropharyngealen Infektion mit Schwellung im Halsbereich und Pneumonie muss eine septische thromboembolische Streuung aus den Halsvenen mitbedacht werden. Die Diagnosestellung eines Lemierre-Syndroms erfolgt durch die Klinik, die Bildgebung (Ultraschall oder CT, Kernspintomografie) sowie die positive Blutkultur. Eine effektive antibakterielle Therapie muss sehr lange durchgeführt werden und auch bei suffizienter Therapie kann es noch verspätet zum Auftreten von Abszedierungen kommen. Eine intensivtherapeutische Unterstützung ermöglicht es, diese Erkrankung auch bei schwerem Verlauf zu überleben.