10.1 Falldarstellung

Was geschah…?

Zwei Monate war es jetzt her, dass Frau Dr. Clara erfolgreich die Facharztprüfung Anästhesiologie abgelegt hatte. Bereits kurz vor der Prüfung war sie in den Bereich Kinderanästhesie rotiert. Diese Rotation fand meist kurz vor oder nach Erreichen der Facharztreife statt. Kindernarkosen wurden zwar auch in anderen Bereichen durchgeführt, aber nirgendwo waren so viele Säuglinge und Neugeborene zu betreuen wie in der Kinderchirurgie. Insofern war diese Rotation auch für eine neue Fachärztin etwas Besonderes.

Heute war Hernientag, und insgesamt waren fünf Säuglinge zu betreuen, die alle jünger als 3 Monate waren. Die Arbeit in der kinderanästhesiologischen Abteilung machte Frau Dr. Clara großen Spaß. Das gesamte Team war – bis auf sie natürlich – gut eingearbeitet. Alle Handgriffe waren so weit wie möglich standardisiert, sodass über die meisten Handlungen keine großen Worte mehr verloren werden mussten. Gerade wurde der dritte Säugling von der Anästhesiefachkrankenschwester Jolanda in die Einleitung gebracht. Er hieß Ludwig, war jetzt 5 Wochen alt und ein ehemaliges Frühgeborenes.

10.1.1 Wie ist „frühgeboren“ definiert? Auf welche Besonderheiten müssen Sie im postoperativen Verlauf vorbereitet sein?

Man spricht von frühgeboren , wenn der Säugling vor der 37. Gestationswoche zur Welt kommt. Eine Leistenhernie ist eine typische Erkrankung ehemaliger Frühgeborener und muss häufig wegen Einklemmungsgefahr bereits in den ersten Lebenswochen operiert werden.

Das Atemzentrum ehemaliger Frühgeborener zeichnet sich durch eine erhöhte Ansprechbarkeit auf hemmende Einflüsse aus. Dies ist ein Grund dafür, warum bei ihnen respiratorische Komplikationen nach einer Allgemeinanästhesie häufiger beobachtet werden als bei reifen Säuglingen [13]. Eine entsprechende postoperative Überwachung über mindestens 24 h ist daher zwingend. Aus anästhesiologischer Perspektive ist es wünschenswert, die Operation so lange wie möglich aufzuschieben. Mit zunehmendem Alter wird das Atemzentrum durch Analgetika und Hypnotika weniger beeinflusst.

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Hernienoperationen wurden in der Regel in einer Kombination aus einer Allgemeinanästhesie und einer Single-shot-Kaudalanästhesie durchgeführt. Dr. Clara hatte mittlerweile ca. 20 Säuglinge mit diesen Verfahren betreut und begann, sich langsam sicher zu fühlen.

10.1.2 Was halten Sie von dem Kombinationsverfahren bei dieser Indikation?

Aufgrund der Unreife des Atemzentrums ehemaliger Frühgeborener ist es theoretisch sinnvoll, Substanzen, die auf das Zentrum eine hemmende Wirkung ausüben, entweder möglichst sparsam zu verwenden oder ganz zu vermeiden [9]. Der endgültige wissenschaftliche Nachweis für ein solches Vorgehen steht allerdings noch aus [4]. Regionalanästhesieverfahren können bei Leistenhernienoperationen entweder als alleiniges Anästhesieverfahren – z. B. als Spinal - oder Kaudalanästhesie – oder als Kombination von Kaudal- oder Epiduralanästhesie mit einer „leichten“ Allgemeinanästhesie zum Einsatz kommen.

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Der kleine Ludwig war in der 35. Schwangerschaftswoche auf die Welt gekommen und hatte sich bis auf einen passageren Neugeborenenikterus unauffällig entwickelt. Zwei Wochen nach der Geburt war er mit seiner glücklichen Mutter nach Hause entlassen worden und wog jetzt ziemlich genau 4.000 g.

Frau Dr. Clara kannte Ludwig bereits, denn alle zu operierenden Kinder wurden am Operationsmorgen durch den Anästhesisten besucht, um zu überprüfen, ob sie auch gesund waren. Zur Sicherheit sah sie trotzdem nochmals den Aufklärungsbogen durch, aber auch die Familienanamnese war unauffällig. „Bei den vielen Kindern mit gleichen Diagnosen kann man nicht genau genug kontrollieren“, dachte sie. Dann wandte sie sich dem Kind zu.

Ludwig hatte bereits einen venösen Zugang von den Kollegen der Kinderchirurgie bekommen. Über einen Perfusor liefen 40 ml/h Vollelektrolytlösung. Schwester Jolanda wickelte einen Sättigungssensor um Ludwigs Daumenballen und schloss das EKG an. Der Monitor zeigte einen Sinusrhythmus mit einer Herzfrequenz von 160/min und eine pulsoxymetrisch gemessenen Sauerstoffsättigung (SpO2) von 100%. Oberarzt Dr. Volkrad sah durch die Glasscheibe aus dem OP in die Einleitung. Er gab Frau Dr. Clara ein Zeichen, dass die Voroperation gleich beendet sei und sie mit der Einleitung beginnen konnte. Sie setzte sich ans Kopfende des OP-Tisches und hielt Ludwig die Maske zur Präoxygenierung dicht über Mund und Nase. „Gib bitte 20 mg Propofol“, sagte sie zu Schwester Jolanda. „Das sind 2 ml“, antwortete diese und begann mit der Injektion. Ludwigs Herzfrequenz fiel auf 140/min (Abb. 10.1). Der Blutdruck betrug 60/30 mmHg.

Abb. 10.1
figure 1

EKG und Pulsoxymetriekurve nach Induktion der Allgemeinanästhesie

10.1.3 Ist das nicht ein bisschen viel Propofol?

Die übliche Induktionsdosis von Propofol bei Erwachsenen beträgt 1,5–2,5 mg/kgKG. Kleinkinder und Säuglinge haben allerdings ein deutlich größeres Verteilungsvolumen , und daher muss die Induktionsdosis deutlich erhöht werden. Diese Regel ist nicht nur bei der Verwendung von Propofol, sondern auch bei der Verwendung von Altenativsubstanzen – wie dem Barbiturat Thiopental – gültig.

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Bisher war Ludwig ruhig gewesen, aber mit Beginn der Propofolinjektion fing er an zu weinen und zu hicksen. „Echt schade, dass man bei den Kleinen kein Lidocain vorgeben soll“, sagte Frau Dr. Clara zu Jolanda. Das Hicksen blieb auch, als Ludwig eingeschlafen war. Frau Dr. Clara versuchte, ihn vorsichtig zu beatmen, aber ohne richtigen Erfolg. Der SpO2-Wert war 99% und die Herzfrequenz 170/min. Die Schiebetür zum OP ging auf. Oberarzt Dr. Volkrad warf einen kurzen Blick auf Ludwig und Frau Dr. Claras Bemühungen und meinte dann: „Die häufigste Ursache für eine schwierige Maskenbeatmung ist die zu flache Narkose.“ Auf Frau Dr. Claras Anweisungen hin gab Schwester Jolanda weitere 20 mg Propofol, gefolgt von 10 µg Fentanyl. Das Hicksen verschwand, aber die Maskenbeatmung klappte immer noch nicht richtig.

10.1.4 Was kann der Grund für die schwierige Maskenbeatmung bei ausreichend tiefer Anästhesie sein?

Die Maskenbeatmung von Neugeborenen und Säuglingen ist für den Ungeübten oft schwierig. Die häufigsten Fehler sind eine Verlegung der Atemwege

  • durch zu starke Reklination – Maskenbeatmung ist nur in Neutralposition gut möglich –,

  • durch zu starken Druck mit der Maske auf das Nasengerüst und folgender Obstruktion der Nasengänge

  • oder durch Druck auf den Mundboden mit konsekutiver Verlegung der Choanen durch die Zunge.

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Dr. Clara hörte, wie der Sättigungston allmählich tiefer wurde und wurde nervös. „Das kriegen wir schon hin“, meinte Jolanda beruhigend. „Sie dürfen den Kopf nicht so überstrecken und außerdem nicht so auf den Mundboden drücken.“ Dr. Clara nahm sich die Ratschläge zu Herzen, und Ludwig ließ sich problemlos mit der Maske beatmen. Die Sättigung stieg rasch wieder auf 99%. „Dann können wir jetzt intubieren“, sagte sie zu Jolanda.

10.1.5 Wurde hier nicht irgendetwas vergessen?

Die Durchführung einer Intubation ohne die Anwendung von Muskelrelaxanzien erschwert nicht nur häufig die Intubation, sondern ist auch mit einer erhöhten Inzidenz an Heiserkeit, Halsschmerzen und Kehlkopfläsionen verbunden [3]. Trotzdem wird insbesondere in der Kinderanästhesie zunehmend auf die Anwendung von Muskelrelaxanzien verzichtet [12]. Die Hauptgründe hierfür sind das Vorhandensein von Kontraindikationen für Muskelrelaxanzien oder eine kurze antizipierte Operationszeit. Bei Säuglingen und insbesondere ehemaligen Frühgeborenen kommt noch ein weiterer Aspekt hinzu: Ihr erhöhtes Verteilungsvolumen bewirkt, dass im Vergleich zu Erwachsenen relativ große Mengen an Muskelrelaxanzien benötigt werden. Die hepatische bzw. renale Elimination erfolgt langsamer, und die Wirkdauer von Muskelrelaxanzien ist nicht sicher vorhersehbar. Eine evtl. vorhandene Restrelaxierung erhöht die Gefahr postoperativer Hypoxien.

Säuglinge haben einen geringeren Muskeltonus als größere Kinder und Erwachsene. Die Intubation ist daher auch ohne Muskelrelaxanzien leichter möglich. Es besteht allerdings die Gefahr, dass die Narkosetiefe dabei fälschlicherweise als tief genug eingeschätzt wird.

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Frau Dr. Clara legte die Maske zur Seite, und Schwester Jolanda reichte ihr einen Tubus mit einem Innendurchmesser von 3,5 mm. Sie führte den Tubus in das rechte und anschließend in das linke Nasenloch ein, aber jedes Mal spürte sie einen deutlichen Widerstand. Das war ihr bisher noch nicht passiert. Der Sättigungston vom Monitor wurde schon wieder tiefer. Dr. Clara brach den Intubationsversuch ab und beatmete Ludwig erneut mit der Maske. „Gib mir bitte einen kleineren Tubus“, sagte sie zu Jolanda. „Der wird aber bestimmt undicht sein“, war ihre Antwort. „Vielleicht sollten Sie lieber oral intubieren.“ Dankbar nahm Frau Dr. Clara den Hinweis auf, und es gelang ihr prompt, die Trachea von Ludwig zu intubieren. Der Tubus wurde fixiert und Ludwig anschließend auf die Seite gelegt. Zur Narkoseaufrechterhaltung öffnete Dr. Clara den Sevofluranverdampfer.

Dann desinfizierte sie die Sakralgegend und bereitete alles für die Kaudalanästhesie vor. Schwester Jolanda hatte bereits Ropivacain 0,2% als Lokalanästhetikum vorbereitet.

10.1.6 Wie viel Lokalanästhetikum würden Sie Ludwig zur Kaudalanästhesie geben?

Die Dosierung richtet sich nach dem Gewicht (und der Größe) des Kindes sowie nach dem geplanten Eingriff. Meist wird das Dosierungsschema nach Armitage (Tab. 10.1) zur Berechnung zu Hilfe genommen. Interessanterweise beruht dieses Dosierungsschema auf keiner wissenschaftlichen Untersuchung, sondern auf einem Leserbrief von Armitage, der 1979 veröffentlicht wurde [1]. Seitdem wird dieses eminenzbasierte Wissen zitiert.

Tab. 10.1 Dosierungsschema nach Armitage [1] zur kaudalen Applikation eines Lokalanästhetikums

Bei einem Körpergewicht von 4 kg und einer geplanten Leistenhernienoperation müssen daher 4 ml Lokalanästhetikum injiziert werden. Zur Verlängerung der Wirkungsdauer kann 1–2 µg/ml Clonidin hinzugefügt werden [10]. Bei Neugeborenen darf Clonidin allerdings wegen möglicher später Atemdepression nicht verwendet werden [2].

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Das Einführen der Kaudalkanüle gelang Frau Dr. Clara problemlos. Als weder Liquor noch Blut zurückliefen, injizierte sie 4 ml Ropivacain 0,2%, zog die Nadel heraus und klebte ein Pflaster auf die Einstichstelle. Plötzlich gab das Beatmungsgerät Alarm: „Endexspiratorisches CO2 zu niedrig“ blinkte auf dem Monitor. „Hoffentlich ist der Tubus nicht `rausgerutscht“, sagte sie zu Schwester Jolanda. Gemeinsam drehten sie Ludwig schnell auf den Rücken zurück. Dr. Clara stellte auf manuelle Beatmung um, erhöhte die inspiratorische Sauerstoffkonzentration auf 100% und überprüfte die Tubuslage. „Der liegt richtig“, sagte sie, als der nächste Alarm losging: Bradykardie. Die Herzfrequenz betrug nur noch 110/min.

10.1.7 Was würden Sie jetzt tun?

Der Abfall der Herzfrequenz bei Neugeborenen und Säuglingen ist eine lebensbedrohliche Situation, da bei einer Herzfrequenz unter 100/min ein insuffizienter Kreislauf und funktionell ein Kreislaufstillstand vorliegt.

Die häufigste Ursache ist eine primäre Hypoxie, die in dem geschilderten Fall durch Dr. Clara bereits ausgeschlossen wurde. Ziel muss es jetzt sein, möglichst schnell die Herzfrequenz zu steigern.

…so geht es weiter…

Dr. Clara war jetzt sehr nervös und drückte hektisch auf dem Beatmungsbeutel herum. „Gib bitte 0,1 mg Atropin“, sagte sie zu Jolanda; „und ruf den Oberarzt.“ Oberarzt Dr. Volkrad übergab gerade das von ihm betreute Kind dem Aufwachraumarzt. Er ließ alles stehen und liegen, als ihn der Hilferuf erreichte. „Was ist das Problem?“ fragte er Dr. Clara. Sie schilderte kurz den Ablauf. Oberarzt Dr. Volkrad sah auf den Monitor (Abb. 10.2).

Abb. 10.2
figure 2

EKG und Pulsoxymetriekurve (▶ Abschn. 10.1.8)

10.1.8 Wie interpretieren Sie Abb. 10.2, und welche Maßnahmen würden Sie jetzt durchführen?

Im Vergleich zu Abb. 10.1 fallen breite Kammerkomplexe mit einer Frequenz von ca. 100/min auf. Die Pulsoxymetriekurve ist flach. Unter Berücksichtigung des geringen endexspiratorischen CO2 muss von einem Kreislaufstillstand ausgegangen werden, und die Reanimation gemäß den Richtlinien des European Resuscitation Council begonnen werden [5].

…so geht es weiter…

Oberarzt Dr. Volkrad überprüfte nochmals die Tubuslage. Ludwig sah mittlerweile zyanotisch aus. Dann begann der Oberarzt mit der externen Herzdruckmassage. Hierzu legte er beide Hände um den Brustkorb des Kindes und komprimierte das Sternum um ca. 4 cm. Rasch wurde das Kind wieder rosig. Auf dem Monitor zeigte sich das in Abb. 10.3 dargestellte Bild.

Abb. 10.3
figure 3

EKG und Pulsoxymetriekurve (▶ Abschn. 10.1.9)

10.1.9 Was sehen Sie auf dem Monitor, und was machen Sie jetzt?

Auf dem Monitor sieht man jetzt wieder eine Pulsoxymetriekurve als Zeichen einer effizienten externen Herzdruckmassage. Das EKG hat sich weiter verändert (Abb. 10.3): Neben den Artefakten durch die externe Herzdruckmassage erkennt man noch stärker deformierte Kammerkomplexe mit einer Frequenz von ca. 50/min. Gemäß den Richtlinien des European Resuscitation Council [5] muss jetzt Adrenalin verabreicht werden. Die Dosierungsempfehlung bei Säuglingen beträgt 10 µg/kgKG.

…so geht es weiter…

Während er weiter Ludwigs Brustkorb komprimierte, gab Dr. Volkrad Schwester Jolanda die Anweisung, 40 µg Adrenalin zu injizieren. Anschließend verabreichte sie noch 30 ml kristalloider Infusionslösung als Bolus mit einer großen Spritze. Eine Minute später unterbrach Dr. Volkrad die Herzdruckmassage und blickte auf den Monitor (Abb. 10.4). Die Kammerkomplexe waren wieder enger. Er suchte nach der A. carotis und tastete dort einen kräftigen Puls. Der anschließend gemessene Blutdruck betrug 70/30 mmHg.

Abb. 10.4
figure 4

EKG und Pulsoxymetriekurve. Im Vergleich zu den vorherigen Abbildungen sind die Kammerkomplexe enger. Die T-Wellen sind deutlich höher als in Abb. 10.1. Die Pulsoxymetriekurve deutet auf suffiziente Kreislaufverhältnisse hin

Alle Umstehenden waren erleichtert, dass es dem Kind zunächst einmal wieder gut ging. Oberarzt Dr. Volkrad sprach mit den Chirurgen, dass die Operation jetzt nicht stattfinden konnte und rief dann auf der Intensivstation an, um Ludwig dort anzumelden. Eine unmittelbar nach erfolgreicher Reanimation durchgeführte Blutgasanalyse zeigte normale Elektrolytwerte und keinen Anhalt dafür, dass das Kind einen Sauerstoffmangel erfahren hatte.

10.1.10 Was könnten die Ursachen der Kreislaufveränderungen gewesen sein?

10.1.10.1 Hypoxie

Wie in ▶ Abschn. 10.1.7 bereits erwähnt ist die häufigste Ursache einer Kreislaufdepression bei Säuglingen und Kleinkindern eine Hypoxie. In dem dargestellten Fall traf dies nicht zu. Trotzdem ist es essenziell, zunächst eine Hypoxie auszuschließen und ggf. entsprechend zu behandeln.

10.1.10.2 Kardiale Ursachen

Auffallend war, dass das Erstsymptom ein zu niedriges endexspiratorisches CO2 war. Dies muss als Hinweis gewertet werden, dass es primär zu einem Kreislaufversagen kam. Obwohl die Wahrscheinlichkeit einer kardialen Ursache sehr gering ist, müssen auch kardiale Ursachen in die Erwägungen mit einbezogen werden.

10.1.10.3 Versehentliche Spinalanästhesie

Unmittelbar nach Injektion des Lokalanästhetikums kam es zu dem Kreislaufzusammenbruch. Eine mögliche Ursache ist eine versehentliche intrathekale Injektion des Lokalanästhetikums mit folgender – evtl. hoher – Spinalanästhesie. Die gesehenen EKG-Veränderungen (Abb. 10.2) sprechen allerdings dagegen.

10.1.10.4 Intoxikation mit Lokalanästhetikum

Der zeitliche Zusammenhang mit der Injektion des Lokalanästhetikums und die registrierten EKG-Veränderungen sprechen für eine Intoxikation – die Geschwindigkeit mit der die Symptome auftraten zusätzlich für eine intravasale Injektion.

…das Ende des Falls

„Was ist hier eigentlich passiert?“ fragte Oberarzt Dr. Volkrad in den Raum. Dr. Clara schilderte ausführlich den Ablauf der Geschehnisse. „Jolanda, zeigen Sie mir bitte noch mal die Spritze mit dem Ropivacain“, wandte sich Dr. Volkrad dann an die Anästhesieschwester. Schwester Jolanda zeigte ihm die Spritzen und die dazugehörigen Ampullen. „Verdammt“, murmelte Dr. Volkrad, nachdem er alles genau betrachtet hatte. „Das Kind hat Ropivacain 1% anstelle von Ropivacain 0,2% erhalten. Ich mache Ihnen da keinen Vorwurf, Jolanda, die Ampullen sehen wirklich verdammt ähnlich aus. Wir müssen aber unbedingt verhindern, dass so etwas noch einmal vorkommt.“

Anschließend brachte Dr. Volkrad den kleinen Ludwig selber analgosediert, intubiert und beatmet auf die Intensivstation. Dort wartete bereits die Mutter auf ihn. Er schilderte ihr den Ablauf der Ereignisse und ließ auch nicht die Verwechslung der Konzentrationen aus. Die Mutter war sehr ängstlich und wütend zugleich. Oberarzt Dr. Volkrad konnte nichts weiter tun als sich immer wieder zu entschuldigen.

10.2 Fallnachbetrachtung/Fallanalyse

10.2.1 Welche medizinischen Fehler sehen Sie in dem geschilderten Fall?

10.2.1.1 Kreislaufüberwachung

Auch wenn der absolute Blutdruckwert bei Säuglingen häufig nur eine sehr eingeschränkte Aussagekraft hat, können Veränderung wertvolle Hinweise auf den Volumenstatus und die kardiozirkulatorische Depression durch Anästhetika liefern. In dem geschilderten Fall erfolgte keine Messung des Blutdrucks vor Einleitung der Allgemeinanästhesie.

10.2.1.2 Wahl der Medikamente zur Intubation ohne Muskelrelaxanzien

Wie in ▶ Abschn. 10.1.5 bereits dargestellt, kann die Durchführung einer Intubation ohne Hilfe von Muskelrelaxanzien in bestimmten Situationen sinnvoll sein. Es gibt sogar zahlreiche Kliniker, die grundsätzlich auf Muskelrelaxanzien verzichten und diese nur in ausgewählten Fällen anwenden. Verschiedene Techniken zur Intubation ohne Muskelrelaxanzien wurden in klinischen Studien untersucht. Eine verbindliche Empfehlung zur Wahl der Anästhetika kann nicht gegeben werden, aber Einigkeit herrscht darüber, dass die Intubation in tiefer Narkose durchgeführt werden muss. Zur Vermeidung hoher Propofolmengen wird daher die Kombination mit einem hochpotenten Opioid wie Remifentanil empfohlen [14]. Die Gabe von 10 mg/kgKG Propofol bei einem Neugeborenen ist kritisch zu sehen.

10.2.1.3 Propofol

Hier handelt es sich nicht um einen medizinischen Fehler, sondern eher um eine nicht optimale Behandlung. Frau Dr. Clara hatte sich zu Recht geärgert, dass Lidocain bei Kindern nicht gegeben werden darf. Es gibt aber eine Alternative: Die Einleitung der Allgemeinanästhesie erfolgte mit Propofol  1%, das fast regelhaft zu Injektionsschmerz führt. Dieser Schmerz wird hingegen kaum beobachtet, wenn Propofol 0,5% intravenös verabreicht wird.

10.2.1.4 Durchführung der Kaudalanästhesie

Dieser Punkt wird seit vielen Jahren (Jahrzehnten) kontrovers in der Fachliteratur diskutiert. Die kaudale Gabe einer Testdosis von Adrenalin kann eine intravasale Lage der Nadel detektieren helfen. Allerdings ist dieser Test nicht zu 100% zuverlässig, und ein fehlender Herzfrequenzanstieg schließt eine intravasale Lage nicht aus [11]. Es gibt Hinweise dafür, dass EKG-Veränderungen – insbesondere ST- und T-Wellen-Erhöhungen – sensiblere Parameter sind [8].

10.2.2 Welche organisatorischen Schwachstellen/Fehler finden sich in dem geschilderten Fall?

10.2.2.1 Medikamentenverwechslung

Vor Medikamentenverwechslungen ist niemand gefeit. Ein wichtiger Kofaktor bei dem gemeldeten Fall, war die Ähnlichkeit der Präparate (sog. „look-alike “). Leider gibt es in Deutschland keine gesetzlichen Richtlinien, wie einzelne Medikamentengruppen gekennzeichnet sein müssen, um die Verwechslungsgefahr zu minimieren. Die Kommission für Arzneimittelsicherheit in der Intensiv- und Notfallmedizin der DIVI hat unter Mitarbeit verschiedener Fachkommissionen und -gesellschaften eine Empfehlung zur Kennzeichnung von Spritzen herausgegeben (ISO 26825; [6]). In dieser Norm werden einzelnen Substanzgruppen Farben zugeordnet. Die zugrunde liegende Idee ist, dass eine Verwechslung innerhalb einer Substanzgruppte (z. B. Fentanyl mit Sufentanil) weniger gravierende Folgen hat als eine Verwechslung zwischen Substanzgruppen (z. B. Opioid mit Muskelralaxans).

Allerdings können auch Verwechslungen innerhalb einer Substanzgruppe unter Umständen gefährlich sein. Die verbreitete Einführung der o. g. Kennzeichnung von Spritzen führt u. U. sogar zu einer Zunahme von „Look-alike“-Fehlern. Um auch diesem Fehler gegenzuwirken, wurde die Norm überarbeitet und das von der FDA empfohlene „Tall-Man-Lettering “-Prinzip übernommen [7]. Hierbei werden ausgewählte Buchstaben eines Medikamentes groß geschrieben, um die Lesbarkeit und die Vigilanz zu erhöhen. Hier ein Beispiel: SUFentanil an Stelle von Sufentanil oder FentaNYL an Stelle von Fentanyl.

In dem geschilderten Fall geschah allerdings eine Verwechslung von Konzentrationen desselben Wirkstoffs. Hier hätte auch eine Markierung von Medikamentengruppen nicht geholfen. Empfehlenswert ist es, zusätzlich durch organisatorische Maßnahmen vorzubeugen, dass ähnlich aussehende Medikamente an räumlich getrennten Orten aufbewahrt werden. Weiterhin müssen feste Regeln bezüglich der Medikamentenapplikation festgelegt sein. Hier bietet sich ein sog. Readback an – ein Verfahren, bei dem das angesagte Medikament und die Dosierung durch die applizierende Person wiederholt werden. Dr. Clara und Schwester Jolanda hatten sich bis zum Zeitpunkt der Kaudalanästhesie vorbildlich daran gehalten.

10.2.3 Mal unter uns: Wie oft haben Sie schon erlebt, dass Medikamente verwechselt wurden?

Medikamentenverwechslungen sind unser täglich Brot. Obwohl durch Medien und Fachpresse das Bewusstsein dafür geschaffen wurde, persistieren sie dennoch im klinischen Alltag. Warum?

Zahlreiche Faktoren begünstigen Medikamentenverwechslungen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit gehören hierzu Ampullenform/-beschriftung, Medikamentenlagerung und die individuelle Sehschärfe der beteiligten Personen. Aber selbst ein obligatorischer Sehtest für Ärzte und Pflegekräfte kann das Problem nicht ganz beheben, denn die menschliche Informationsverarbeitung geht ressourcenschonend vor. Oder kontrollieren Sie jedes Mal alle Spritzen, die von jemand Anderem aufgezogen wurden?

Wenn unser Aktierungsniveau entweder zu niedrig (Unterforderung – Monotonie) oder zu hoch ist (Überforderung – Stressbelastung), wird das menschliche Informationssuchraster gröber, und weniger Hinweisreize („cues“) werden für die Informationsüberprüfung hinzugezogen. Auch wenn widersprüchliche Daten – falsche Medikamentenbezeichnung bzw. in diesem Fall richtiges Medikament mit anderer Konzentration – vorliegen, wird das hypothesenkonforme Bild auf die abweichende Realität projiziert.

In dem geschilderten Fall haben wir eine Situation ohne Stressbelastung gewählt, um für die Problematik in Routinesituationen zu sensibilisieren. Gibt es Lösungsansätze? Natürlich! Diese sind aber unbequem und haben es schwer, sich im Alltag zu etablieren:

  • Abarbeiten von Checklisten ,

  • Readback,

  • gegenseitiges Überprüfen und

  • immer das Wahrgenommene in Frage stellen.

Zum Schluss noch eine Anregung für Sie: Beobachten Sie morgen einmal bei sich selbst, wie bei Ihnen das Prinzip der Ressourcenschonung funktioniert!