Zusammenfassung
Mit der Physiologie des Geschmacks- und des Geruchssinns beginnen wir die Darstellung der sogenannten niederen Sinne,zu welchen außer den genannten auch die Hautsinne und die Lage- und Bewegungssinne gerechnet werden. Der Grund für die herabsetzende Bezeichnung „niedere Sinne“ ist nicht die Armut an Empfindungsqualitäten, welche sie vermitteln, — denn das Geruchsorgan beispielsweise steht darin kaum hinter den höheren Sinnesorganen zurück —, ebensowenig ist es eine geringere Empfindlichkeit. Sondern die Ursache ist die größere Entbehrlichkeit, wenigstens für den kultivierten Menschen. Denn alle namhaften Errungenschaften der Kultur, Künste und Wissenschaften, werden uns fast ausschließlich durch Auge und Ohr vermittelt. Die Wissenschaft, welche aus den Sondererscheinungen allgemeine Sätze herleitet und deshalb die Bildung von Begriffen zur Voraussetzung hat, bedarf der Sprache und noch mehr der Schrift zu dauerhafter Fixierung dieser Begriffe. Eine Vermittlung von Begriffen durch Geruchs- und Geschmacksorgan ist kaum denkbar, und die taktile Übertragung nach Art der Blindenschrift ist der optischen Übertragung der Begriffe zweifellos unterlegen. Auch die Künste, Malerei und Skulptur, Musik und Dichtkunst, sind von Auge und Ohr abhängig. In allgemeinster Auffassung beruhen sie auf der Wahrnehmung räumlich und zeitlich geordneter Komplexe von Empfindungen. Den Raum erfassen wir vornehmlich mit Auge und Haut; aber die Eindrücke räumlicher Kunstwerke, welche die Haut etwa dem Blinden übermittelt, sind ästhetisch doch nur minderwertig, die Freude daran nicht echt, viel mehr anempfunden. In der Musik und Dichtkunst aber kommt es auf die Reproduktion von Empfindungskomplexen in der Zeit an, und dem Ohr, das uns die Gehörsempfindungen nur mangelhaft in räumlicher Ordnung, vielmehr zeitlich gegliedert vermittelt, können die anderen „Zeitsinne“, wie Geschmacks-und Geruchssinn, nach ihrer ganzen Organisations- und Funktionsweise in der Fähigkeit, bestimmte Empfindungskomplexe zu reproduzieren, uns etwa sozusagen eine Geschmacks- und Geruchssymphonie vorzuführen, kaum an die Seite gestellt werden. So hat denn also allein vom Standpunkt des Kulturmenschen die Bezeichnung als niedere und höhere Sinne ihre Bedeutung.
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Höber, R. (1928). Geschmacks- und Geruchssinn. In: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-36482-6_34
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