Zusammenfassung
Nirgends wird die Frage: krank oder nichtkrank? so oft, in so unerbittlicher Form und mit so schweren Konsequenzen gestellt wie bei der Beurteilung der Geisteszustände. Es ist aber eine falsch gestellte Frage. Es gibt ja keine Grenzen des Irreseins, so wenig als einer anderen Krankheit. Bei jedem Menschen setzt sich gelegentlich ein Tuberkelbazillus fest; der eine oder andere der Mikroben wird sich sogar ein- oder zweimal teilen. Wie viele Bakterien müssen nun da sein, wie viel Lungengewebe muß zugrunde gegangen sein, bis man den Menschen tuberkelkrank nennen soll ? Oder von welchem Grad der Empfänglichkeit an ist die „Anlage zur Tuberkulose“ krankhaft? Es wird niemand eine solche Frage beantworten wollen. Noch widersinniger ist aber die Frage nach gesund und krank da, wo es sich nicht um etwas Hinzugekommenes, sondern um eine einfache Abweichung vom Normalen handelt. Wo ist die Grenze zwischen gesunder Dummheit und krankhaftem Schwachsinn? Wo die zwischen normaler und übernormaler Körpergröße? Fehlt hier die Grenze, so gibt es große Gebiete, auf die überhaupt die Begriffe „krank“ und „gesund“ nicht anwendbar sind, so wenig wie man die Helligkeiten einer Photographie in schwarze und weiße einteilen kann; die meisten derselben sind eben grau.
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Dieses Kapitel ist Teil des Digitalisierungsprojekts Springer Book Archives mit Publikationen, die seit den Anfängen des Verlags von 1842 erschienen sind. Der Verlag stellt mit diesem Archiv Quellen für die historische wie auch die disziplingeschichtliche Forschung zur Verfügung, die jeweils im historischen Kontext betrachtet werden müssen. Dieses Kapitel ist aus einem Buch, das in der Zeit vor 1945 erschienen ist und wird daher in seiner zeittypischen politisch-ideologischen Ausrichtung vom Verlag nicht beworben.
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Bleuler, E. (1930). Die Grenzen des Irreseins. In: Lehrbuch der Psychiatrie. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-36477-2_6
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