Zusammenfassung
Wir sind am Ende unserer Darstellung von Rousseaus Lebenslauf und Krankheit angelangt. Stellen wir von hier aus noch einmal die Frage der klinischen Diagnose, so werden wir nicht umhin können an der Annahme der Paranoia festzuhalten. Um eine Schizophrenie im strengen Sinne, wie Demole will, kann es sich nicht handeln. Wir finden bei einem Überblick über den gesamten Krankheitsverlauf lediglich die langsame schleichende Entwicklung eines ausgedehnten systematisierten Beziehungswahns, dagegen treffen wir keinerlei schizophrene Symptome. Wir finden nichts von magisch-archaischen Erlebnisformen, keinen physikalischen Beeinflussungswahn, keine katatonen Symptome und keinen Zerfall der Persönlichkeit, auch für Sinnestäuschungen ergeben sich kaum Anhaltspunkte. Was Demole zur Begründung seiner Diagnose an Symptomen ins Feld führt: Autismus, Negativismus, Ambivalenz, Fugues, Vagabundage, Amoralität, sexuelle Perversionen, delirante Periode mit 37 Jahren (Umstimmung der Persönlichkeit, Größenideen, Wahn, Reizbarkeit, Befürchtungen, Mißtrauen, wahnhafte Ausdeutungen und Streitigkeiten), die nach einigen Jahren schliefilich zu einem systematisierten Verfolgungswahn führt; endlich seniler Verfall (Niedergang der intellektuellen Fähigkeiten, vor allem des Gedächtnisses, Verminderung der Aktivität, kindliche Anschauungen), all das sind zwar Zeichen einer stark schizoiden Veranlagung, die wohl auf einen schizophrenen Prozeß hinweisen können, die aber niemals imstande sind, die Diagnose Schizophrenie zu begründen. Die angeführten senilen Erscheinungen fallen gar noch in den Bereich des Physiologischen hinein,, ganz abgesehen davon, daß sie nur ein geringes Maß erreicht haben. Sehen wir uns daraufhin z. B. Rousseaus letztes Werk an, über dessen Abfassung. ihn der Tod ereilt hat, die Träumereien eines einsamen Spaziergängers, so finden wir lediglich eine gewisse Weitschweifigkeit und mangelnde Disposition; was er im einzelnen darin sagt, ist oft recht bemerkenswert und das Ganze hat bei allen Mängeln noch immer seine grollen Reize; Höffding findet in den Träumereien eine „höchst poetische Stimmung“. Auch mit der Feststellung von Größenideen wird man, nebenbei bemerkt, recht vorsichtig sein müssen; wir stimmen jedenfalls mit Möbius überein, der nichts Derartiges finden zu können glaubt und immer wieder darauf hingewiesen hat, dafi Rousseau sich selbst jederzeit sehr richtig eingeschätzt hat. Wenn Rousseau auf seine Leistungen gelegentlich stolz war, wenn er oft betont hat, daß er ganz anders geartet sei als alle übrigen Menschen, und manchmal auch meint, er sei wohl besser als diese, so sind das Behauptungen, gegen die sich im Grunde genommen nicht viel einwenden läßt und die man nicht als Äußerungen des Größenwahns deuten kann. Demnach muß man die Diagnose Schizophrenie ablehnen. In Frage käme, ob man die Krankheit Rousseaus als Paraphrenia systematica bezeichnen und sie so im Rahmen des klinischen Systems zwischen Schizophrenie und Paranoia einordnen will. Aber auch dazu wird man sich nicht entschliefien können, wenn man bedenkt, daß die Wahnbildung nie ein gewisses Maß überschritten hat, nie abstrus, nie unsinnig oder abenteuerlich geworden ist, sondern lediglich auf eine Mißdeutung alltäglicher Eindrücke beschränkt bleibt, an die sich dann erst sekundär die logische Verarbeitung zu einem System anschliefit. Halten wir uns so rein an das klinische Bild, so bleibt uns nichts anderes als die Diagnose Paranoia übrig. Damit stehen wir vor der Frage, ob wir Rousseaus Krankheit als Prozeß auffassen wollen, oder ob wir sie als psychologisch verständliche Entwicklung deuten können. In unserer Darstellung haben wir versucht den letzteren Weg einzuschlagen und uns bemüht zu zeigen, wie Rousseaus Paranoia aus dem Boden einer spezifischen Charakterveranlagung als Reaktion auf besondere äufiere Lebensumstände erwachsen ist.
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Heidenhain, A. (1924). Klinische Beurteilung. In: J. J. Rousseau. J.F. Bergmann-Verlag, Munich. https://doi.org/10.1007/978-3-662-29968-5_3
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