Zusammenfassung
Wir haben (§ 23 [2] e) anläßlich der Besprechung der Rolle, die das Gewohnheitsrecht in der Praxis spielt, gesehen, daß die Staaten oft einen Satz des Gewohnheitsrechtes selbst dann für gegeben erachten, wenn die Voraussetzungen hierfür nicht unbedingt gegeben sind, insbesondere auch, wenn das Erfordernis der mehrfachen Übung fehlt. Wenn man dieser Erscheinung nachgeht, so wird man sowohl im diplomatischen Verkehr als auch in der Rechtsprechung internationaler Gerichte Beweise dafür finden, daß eine konkrete Regel des Völkerrechtes manchmal bereits dann für gegeben angesehen wird, wenn ein entsprechendes Verhalten von Staaten nur in ganz wenigen Fällen, ja vielleicht sogar nur in einem einzigen Falle wirklich nachweisbar ist, so daß man richtigerweise nicht vom Vorliegen einer Gewohnheit, sondern nur von einem oder mehreren Präzedenzfällen sprechen sollte.
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Literatur
Siehe die von G o n s i o r o w s k i, A. J. 1933/488, zitierte Entscheidung in einem Grenzstreite. Internationale Gerichte, die nur für spezielle Fragen eingesetzt sind, müssen wohl immer mit Unzuständigkeitsurteilen vorgehen, wenn der Anspruch auf Grund des Schiedsgerichtsvertrages unzulässig ist, denn es ist theoretisch immer möglich, daß der Anspruch auf eine andere Regel des Völkerrechtes gestützt werden kann, für die das Gericht aber nicht zuständig ist. In diesem Sinne die Entscheidung des deutsch¬italienischen Gemischten Schiedsgerichtes vom 24. April 1926 (Recueil des décisions des TAM. VII. 184), mit welcher das Gericht einen Anspruch nach Art. 297 e des Vertrages von Versailles wegen Unzuständigkeit abgewiesen hat, „da es nicht a priori ausgeschlossen ist, daß der Ersatzanspruch, den Art. 297 e nicht gewährt, aus einer anderen Quelle entspringen könnte“.
Derart löst sich in der Praxis der Widerspruch, der darin besteht, daß die Staaten einerseits bestreiten, an Regeln des Gewohnheitsrechtes gebunden zu sein, wenn sie nicht an der Bildung dieser Gewohnheit mitbeteiligt waren, andererseits aber manchmal Präzedenzfälle gegen sich gelten lassen.
Cours 1929/V.
Über die Tatsache gewisser Rechtswirkungen von Verträgen auf andere Staaten als die vertragschließenden siehe auch: Vis s c h e r, Cours 1925/I.
Veröffentlichungen des St. I. G., Serie C, Nr. 53, S. 401. Man vergleiche auch diesen Ausspruch mit dem § 37 (2) zitierten Ausspruch des Prof. B as-devant.
Zu diesen einseitigen Erklärungen muß man auch die nationale Ge¬setzgebung über Angelegenheiten, die das Völkerrecht interessieren, be¬zeichnen. Ein Staat stellt z. B. in einem internen Gesetze die Ausdehnung der Küstengewässer einseitig fest. (V i s s c h e r, Cours 1925/I.)
Siehe hierüber außer den im Texte erwähnten Werken: Heller: Die Souveränität 1928. S p i r o p o u l os: Die allgemeinen Rechtsgrundsätze im Völkerrechte 1928. Harle: Die allgemeinen Rechtsgrundsätze im Völker¬rechte, Z. o. R. 1931/206. D e r s e 1 b e: Die allgemeinen Entscheidungs¬grundlagen des St. I. G. 1933. Wolff: Les principes généraux du droit applicables dans les rapports internationaux. Cours 1931/II.
M e u r e r: Der russisch-türkische Streitfall in S c h ü c k i n g, Das Werk von Haag. I/251.
Rundstein: L’arbitrage international en matière privée. Cours 1928/I1I. „Ohne das Gebiet der praktischen Erfahrung zu verlassen, müssen wir eine interessante Erscheinung feststellen: beim Durchblättern der Akten vieler internationaler Prozesse, die vor gemischten Kommissionen, Schiedshöfen oder internationalen Gerichten geführt wurden, bleiben wir unter der bedrückenden Erkenntnis, daß die juristischen Konstruktionen und das technische Vorgehen, das prozeßrechtliche Verfahren und die Ent¬scheidungsgründe von Begriffen, die dem Privatrechte angehören, durch¬tränkt sind.“ Bei der Oxforder Tagung (1932) der International Law Association hat der Berichterstatter des Komitees über die Kodifikation des Völkerrechtes (Prof. L a p r a d e l l e) vorgeschlagen, die Völkerrechtsregeln,derart festzustellen, „daß man aus allen internen Gesetzgebungen die all¬gemeinen Rechtsgrundsätze extrahiert” ( Report, S. 30 ).
Siehe auch oben § 4. Auf den Rechtsgrundsätzen des nationalen Staatsrechtes hat Richard sein Buch: „Le droit de pétition: Une In¬stitution transposée du Milieu National dans le Milieu International, Paris 1932, aufgebaut. Manchmal entnehmen Staaten Rechtsgrundsätze nicht einem bestimmten Rechtsgebiete, sondern gewissen Erfahrungstatsachen. So lehrt z. B. die Erfahrung, daß niemand, weder Volk noch Individuum, einem Dritten freiwillig ein Recht einräumt, das dieser Dritte nicht auch ihm selbst zugestehen will. Daraus hat man einen Rechtsgrundsatz der „Gegen¬seitigkeit“ im Völkerrechte konstruiert (siehe Kunz: Gegenseitigkeit im Völkerrecht, W. V. I./370). Aus den nationalen Prozeßrechten hat der St. I. G. im Gutachten Nr. 12, betreffend die Grenze zwischen der Türkei und Irak, den Satz entnommen, daß „niemand Richter in seiner eigenen. Sache sein kann”.
Zugunsten der Anwendung der allgemein anerkannten Rechtsgrund¬sätze spricht auch die bereits (§ 23 [2] b) besprochene Tatsache eine ge¬wisse Rolle,,,dall es sich hier um positive Rechtsgebote handelt, die eine objektive Grundlage der Urteilsfindung bilden, nicht — wie das immer wache Mißtrauen der Staaten zu fürchten stets geneigt ist — um sub¬jektive Wertung allgemeiner, unbestimmter Gerechtigkeitsprinzipien“. (H e y d t e: Glossen zu einer Theorie der allgemeinen Rechtsgrundsätze, „Friedenswarte” November bis Dezember 1933.)
P r e u ß: Crimes contre les Etats étrangers R. S. 1933/606 bemerkt zu der ähnlichen Neigung von Verfassern völkerrechtlicher Bücher: „Die ver¬schiedenen Autoren sind derart bestrebt, die innere Gesetzgebung ihrer betreffenden Länder als Regel des Völkerrechts aufzustellen.“
V e r d r o ß, S. 23: „Kaum ein anderer Ausdruck ist so mehrdeutig wie der des Naturrechtes. Gemeinsam ist allen Vertretern dieser Richtung bloß, daß es objektiv gültige, nicht durch menschliche Willkür entstandene Normen gibt, die ein bestimmtes gesellschaftliches Verhalten fordern.“ Knubben: Völkerrechtspositivismus und Völkernaturrecht. W. V.III/227.
Siehe auch P u c h t a: „Das Recht ist die gemeinsame tUberzeugung der in der,rechtlichen` Gemeinschaft Stehenden“; ferner G i e r c k e s „Volks¬geist”, K r a b b es „Rechtsbewußtsein“.
Der Satz: „Pasta sunt servanda“ gilt im Völkerrechte heute zwar auf Grund des Gewohnheitsrechtes (siehe § 12 [3] und [5] und § 21); er ist aber gleichzeitig auch ein allgemein anerkannter Rechtsgrundsatz (siehe auch §§ 4 und 12 [7]).
Schadenersatz für die Enteignung der Fabrik in Chorzów.
Die allgemeinen Rechtsgrundsätze als Völkerrechtsquelle (Fest¬schrift, gewidmet Hans Gelsen zum 50. Geburtstag, S.360).
Procès verbaux de la troisième commission, p.237.
Siehe die Spezialbestimmung des Art. 3 des Haager Abkommens, be¬treffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs, wonach die Kriegs¬partei, welche die Bestimmungen des diesem Abkommen angeschlossenen
Um nur ein Beispiel der Nichtanwendung dieses Rechtssatzes im innerstaatlichen Leben zu geben: das Alkoholverbot wurde in den Ver¬einigten Staaten eingeführt, ohne daß die hierdurch Geschädigten irgend¬eine Entschädigung erhalten hätten.
Interim Measures of Protection in International Controversies, Haag 1932.
Siehe procès verbaux, S. 314.
I principi generali di diritto riconosciuti dalle nazioni civili nella giurisprudenza della Corte permanente di giustizia internazionale, Padua 1932.
Siehe M y r b a c h: Österreichisches Finanzrecht, Leipzig 1906, S. 126 ff. 2 Wie wenig im allgemeinen selbst Juristen sich darüber klar sind, daß privatrechtliche Grundsätze nicht unmittelbar auf fremde Rechts gebiete angewendet werden dürfen, geht gerade aus einer Anmerkung von L a u t e r p a c h t, S. 22 hervor, der sich darüber wundert, daß sich in Deutsch land der Widerstand gegen die Anwendung privatrechtlicher Regeln auf fremde Rechtsgebiete wie das Völkerrecht auch auf dem Gebiete des Ver¬waltungsrechtes bemerkbar macht.
Als Muster einer derartigen Untersuchung kann man das zitierte Buch von D um b a u l d bezeichnen.
Nuß baum: Das Geld. 1925, S. 218.
J. 1932/I, 209.
Die allgemein anerkannten Rechtsgrundsätze haben eine gewisse Ähnlichkeit mit den Sprichwörtern, deren eines besagt: „Mit Sprichwörtern läßt sich alles beweisen.“ Auch bei den Rechtsgrundsätzen hängt viel von ihrer richtigen Wahl ab.
Siehe die bissige Definition eines ebenso populären, wie nicht be¬sonders gebildeten Wiener Politikers: „Wissenschaft ist das, was ein Pro¬fessor vom anderen abschreibt.“
Huber, S.12 spricht von einer „Reflexwirkung höher ausgebildeter Rechtsgebiete auf das Völkerrecht“.
Pallier i, S. 79 spricht im Zusammenhange mit Art. 38, Z. 4 der Statuten des St. I. G. von einer „gewissen Ähnlichkeit mit Objektivität“.
Vis scher, Cours 1925/I, behauptet z. B., daß das internationale Flußrecht auf Grund der Lehrmeinung entstanden ist.
Procès verbaux, S. 323.
Ober den Grund derartiger Widersprüche zwischen der Theorie der Staaten und ihrer Praxis siehe die Ausführungen zu § 22.
Serie A/B fasc. Nr. 53, S. 91.
Siehe auch §22 in fine.
L a u t e r p a c h t: The So-Called Continental and Anglo-American Schools of Thought in International Law, Br. 1931/31.
Groß:- Der Rechtsbegriff des Common Law und das Völkerrecht, Z. o. R. XI. 1931, S. 353.
Commentaries on the Laws of England (Bd. I, S. 54) zitiert bei Co¬lombos, La conception du droit international privé d’après la doctrine et la pratique britannique. Cours 1931/II.
Die Tatsache, daß ein Gericht an seine eigenen Vorentscheidungen moralisch gebunden ist, hat selbstverständlich den Nachteil, daß eine Partei in einem späteren Rechtsstreite seine eigenen Argumente über diese Frage kaum mehr mit Aussicht auf Erfolg vorbringen kann, da es sehr schwer ist, ein Gericht durch neue Argumente davon zu überzeugen, daß es sich in einem früheren Falle geirrt hat (B I ü h d o r n, VII D). Dieser Nachteil einer Partei ist aber verhältnismäßig klein gegenüber den großen Vorteilen, die alle Staaten aus dieser Tatsache ziehen.
I. a u t e r p a c h t: Décisions of municipal courts as a source of inter¬national law. Br. 1929/65.
Bekannt ist, daß angelsächsische Richter, wenn sie eine Vorentschei¬dung umstoßen wollen, dies nie unmittelbar zugeben, sondern ihre ab¬weichende Entscheidung mit einem veränderten Tatbestand begründen.
Siehe z. B. die Besprechung des Urteiles des Haager Ständigen Schiedshofes über die portugiesischen Religionsgüter von A n z i l o t t i Riv. 1921/22, S. 176.
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Blühdorn, R. (1934). Die Nebenquellen des Völkerrechtes. In: Einführung in das Angewandte Völkerrecht. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-28832-0_25
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