Zusammenfassung
Wenn wir im folgenden von den methodischen Bestrebungen der Gegenwart, d. h. etwa des Zeitraums von 1945 bis 1960 sprechen, so wollen wir nicht eine vollständige Übersicht geben, die schon deshalb kaum möglich ist, weil es an abschließenden Formulierungen größten Teils noch fehlt. Es sollen lediglich einige Gedankenrichtungen aufgezeigt werden, die im Rechtsschrifttum dieses Zeitraums hervorgetreten sind. Dabei wirkt die geschilderte Entwicklung der Rechtstheorie und Methodenlehre der letzten 150 Jahre auch heute noch in mannigfacher Weise nach. Zwar ist die Abkehr vom Positivismus in der Rechtspraxis weniger durch die der Mehrzahl der deutschen Juristen kaum noch bekannte rechtsphilosophische Bewegung der ersten Jahrhunderthälfte als durch die abschreckenden Erfahrungen veranlaßt worden, die man in Deutschland und anderwärts mit dem praktischen „Positivismus“ einer sich an nichts gebunden haltenden Diktatur gemacht hat. Aber sie wäre in der Theorie auf größere Schwierigkeiten gestoßen, wenn ihr nicht die Abkehr vom Positivismus in der Rechtsphilosophie längst vorangegangen wäre. Der Satz, daß das Recht nur ein Machtgebot des Staates ist, die Meinung, daß es nur einen Mittelwert besitze, indem es lediglich dem Nutzen, sei es des Volkes, der Gesellschaft oder einer Klasse zu dienen habe — kurz, die These von der „Beliebigkeit“ des Inhalts des positiven Rechts —, ist allenthalben aufgegeben.
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Literatur
Die auch den Gesetzgeber bindenden Grundrechte und materialen Rechtsprinzipien des Grundgesetzes gelten vielen als „positiviertes Naturrecht“ (vgl. Nippebdey, Die Grundrechte, Bd. 2, S. 2 ff. und Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, § 33, V); sie wollen jedenfalls einen überpositiven, ethisch gültigen Gehalt zum Ausdruck bringen.
Hierzu sind zu vergleichen: Fecuner, Rechtsphilosophie S. 184 ff.; Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 178 ff. und Festschrift für Nieder-Meyer 1953, S. 279 ff.; Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 354 ff.; E. Wolf, Das Problem der Naturrechtslehre, 2. Aufl. 1959; WÜRtenbercer, Die geistige Situation der deutschen Strafrechtswissenschaft, 1957, S. 19 ff.; Arthur Kaufmann, Naturrecht und Geschichtlichkeit, 1957.
Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts.
Wesen und Grenzen der richterlichen Streitentscheidung im Zivilrecht, 1955, S. 14 ff.; Interessenkollisionen und ihre richterliche Wertung bei den Sicherungsrechten an Fahrhis und Forderungen, 1954, S. 4 ff.
Wesen und Grenzen S. 17.
Interessenkollisionen S. 4.
Vgl. „Person und Persönlichkeit als Wert im Zivilrecht“, 1957, S. 52.
Wesen und Grenzen S. 17.
Reinhardt-König, Richter und Rechtsfindung 1957, S. 17 ff.
Eine Reihe solcher Gesichtspunkte, die er als „Bewertungsprinzipien“ oder als „Grundsätze der Interessenabwägung” bezeichnet, hat Hubmann (in ArchZivPr. 155, S. 85 ff.) zusammengestellt.
Von einem solchen immanenten Zusammenhang der Ordnungsmaßstäbe weiß Heck nichts. Das von ihm postulierte „innere System“ gründet sich auf den fak-tischen Zusammenhang der Lebensverhältnisse.
Einführung in die Grundbegriffe des Rechtes und des Staates, 1949, S. 14.
Vgl. N. Hartmann, Ethik, S 133 ff.
Die obersten Grundsätze des Rechts, 1947; Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1950, S. 151 ff.
Am deutlichsten seine Diskussionsäußerung (Person und Persönlichkeit als Wert im Zivilrecht, S. 52): „Ich glaube, daß es Naturrechtssätze gibt, die wirksam und gültig sind für gewisse Zeitepochen, in anderen Zeitepochen aber nicht gelten.“ Ahnlich auch Enneccerus-Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts Bd. I, § 33, IV, und Darm, Deutsches Recht S. 39 ff.
Vorrede zur Rechtsphilosophie.
Kritisch hierzu Fec$Ner, Rechtsphilosophie, S. 156 ff., und besonders Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 180 f.
Ebenso Engisch, Einführung S. 188f. Vgl. auch WÜRtenberger, Die geistige Situation der deutschen Strafrechtswissenschaft, S. 17: Die am Wertgedanken orientierte teleologische Methode reiche nicht dazu aus, „die letzte Verbindlichkeit rechtlicher und sittlicher Werte, wie Gerechtigkeit, Rechtssicherheit und Humanität“, zu begründen. An Stelle der Teleologie müsse daher die Rechtsphilosophie zu Worte kommen.
Grundzüge der Rechtsphilosophie S. 251.
Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, S. 5.
Zur „Natur der Sache“ vgl. die unten genannte Literatur.
Grundsatz und Norm S. 53 f.
Vgl. dazu den Vortrag von DÖLle über „Juristische Entdeckungen“ auf dem Deutschen Juristentag.
Esser, Grundsatz und Norm S. 97.
Gesetz und Richterkunst, 1958. Bezeichnend ist der Untertitel der Schrift: Zum Problem der außergesetzlichen Rechtsordnung. Vgl. auch Wieackers Schrift, Zur rechtstheoretischen Präzisierung des § 242 Bgb.
Radbruch, Festschrift für Laun, 1948, S. 157; Fechner, Rechtsphilosophie, 1956, S. 146ff.; Stratenwerth, Das rechtstheoretische Problem der Natur der Sache, 1957; E. Wolf, Das Problem der Naturrechtslehre, 2. Aufl. 1959, S. 79 ff. Vgl. ferner die Abhandlungen von BoBbio, Arsp 58, S. 305; Maihofer, Arsp 58, S. 145, sowie meine Abhandlung über „Wegweiser zu richterlicher Rechtsschöpfung“, Festschrift für A. Nigisch, 1958, S. 275 (besonders zur „Natur der Sache” S. 281 ff.).
Auf der einen Seite betont Esser (S. 267), daß Prinzipien „keine deduktiv aus-wertbare Eigenbedeutung“ hätten und nicht aus sich heraus anwendbar seien. Auf der anderen Seite aber sagt er (S. 226 f.): „Eben, weil Recht gleich recta ratio ist, ist Recht auch stets System” und „kein corpus juris ist nur Masse, es ist in erster Linie ein durch die Angaben dieser Masse fixiertes System von Prinzipien, die dem Richter die Auslese, Anwendung und Neubildung positiver Normen erlauben“. Die einmal „entdeckten” Prinzipien tendieren nach Esser zur Systembildung, und „so wiederholt sich in allen Rechtskulturen ein Kreislauf zwischen Problementdeckung, Prinzipienbildung und Systemverfestigung“ (S. 7). Verstehen wir ihn recht, so sieht Esser die Prinzipien — wenn wir es einmal in der Sprache des Neukantianismus ausdrücken dürfen — als im positiven Recht oder im Rechtsbewußtsein der Zeit „gegeben”, das System der Prinzipien, ihren inneren Sinnzusammenhang, als der Rechtswissenschaft „aufgegeben“, und den Gegensatz von Problemdenken („topischem” Denken) und Systemdenken als ein notwendiges Spannungsverhältnis an, das in jeder Rechtskultur wiederkehrt, ob nun — wie im römischen und im angelsächsischen Recht — die eine, oder — wie im kontinentaleuropäischen Rechtsdenken — die andere Art zu denken überwiegt. Essers Ziel ist, wie seine jüngste Abhandlung zur Methodenlehre des Zivilrechts (in „Studium Generale” 1959, S. 97) klar erkennen ist, eine Synthese des Problemdenkens und des Systemdenkens. Er deutet sie mit den Worten an: „Keine Rechtsordnung kann auf Systemeinheitwverzichten. Diese besteht allerdings nicht darin, daß die einzelnen Normen auseinander ableitbar sind, sondern daß sie miteinander vereinbar sind“.
In einer Abhandlung über „Sinn und Tragweite juristischer Systematik“ in Studium Generale, Bd. 10 (1957), S. 173 ff.
Die Einheit der Rechtsordnung, S. 83.
Grundzüge der Rechtsphilosophie S. 276.
Einen interessanten Vorschlag für ein primär am Sinn der Lebensverhältnisse orientiertes System des Vermögensrechts hat Wieacker 1941 in seiner Schrift „Zum System des deutschen Vermögensrechts“ gemacht.
Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 6. Aufl. S. 148 ff. Vgl. auch Ballerstedt, JZ 1951, S. 486 ff. (insbesondere in u. zu der Anm 33 auf S. 491); Reimer Scuaunr, Die Obliegenheiten, 1953, S. 26; Danx, Deutsches Recht, 1951, S. 81 f.
In seiner Schrift über „Die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens“, 1936. Diese Schrift hat zwar einen zeitgeschichtlichen Bezug, von dem hier, wo es allein um den methodologischen Gehalt geht, abgesehen werden muß. Sie hat aber darüber hinaus einen nicht zeitgebundenen rechtstheoretischen Aussagegehalt. ScnaIrrr unterscheidet drei verschiedene Arten oder Typen des Rechtsdenkens: das „normativistische”, das im Recht vornehmlich die unpersönliche, abstrakt-allgemeine Regel oder Norm, das „dezisionistische“, das in ihm vornehmlich den Willensakt oder Befehl des Gesetzgebers, und das „konkrete Ordnungsdenken”, das in ihm die im Sein verwirklichte, sich im lebendigen Vollzug immer erneuernde Lebensordnung erblickt. Es ist leicht zu sehen, daß es sich hier um drei jeweils einseitig gesehene Aspekte, um logische „Idealtypen“ also im Sinne Max Webers, handelt, die sich in jeder wirklichen Rechtsordnung mehr oder weniger durchdringen und ergänzen. Was den Ausdruck „konkrete Ordnung” betrifft, so ist er bei Schmitt allerdings zweideutig. Er kann nämlich bei ihm lediglich im Sinne des jeweils faktisch Geübten, rein Tatsächlichen, also soziologisch, er kann aber auch im Sinne der im Sein stets (mehr oder weniger) realisierten, weil wesensmäßig in ihm angelegten Ordnung gedeutet werden, die einen ethischen oder metaphysischen Sinngehalt in sich schließt — also ontologisch-naturrechtlich. Nur in diesem zweiten Sinne kann Scmmrrrs Hinweis auf das aristotelisch-thomistische Naturrecht, auf Hegels Lehre von der „objektiven Sittlichkeit“ der rechtlichen und staatlichen Institutionen und — in dem 1944 in Madrid gehaltenen Vortrag über „Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft” (gedr. 1950 und in „Verfassungsrechtliche Aufsätze“ 1958, S. 411) — auf das institutionelle Denken Savignys als Hauptbeispiele eines „konkreten Ordnungsdenkens” verstanden werden.
Rechtsphilosophie §§ 75 u. 163.
Daß das nicht berechtigt ist, zeigt mit besonderer Deutlichkeit die abweichende Regelung der Nichtigkeitsfolgen und der Folgen sonstiger Eingehungsmängel bei der Ehe. Wenn eine Ehe als personale Lebensgemeinschaft eine gewisse Zeit bestanden hat, verdient sie, mindestens für diese Zeit auch dann von der Rechtsordnung als „Ehe“ anerkannt zu werden, wenn ihre Eingehung fehlerhaft war. Mängel, die einer dem Wesen der Ehe entsprechenden Gemeinschaft nicht dauernd entgegenstehen, sind heilbar. Das gilt sogar, wie Gustav Boehmer (Njw 59, 2185) dargelegt hat, unter Umständen von einer Ehe, die als Doppelehe begonnen wurde. Wenn später die erste Ehe aufgelöst ist, die zweite aber als eheliche Lebensgemeinschaft faktisch Bestand erlangt hat, dann ist es nicht gerechtfertigt
Grundzüge der Rechtsphilosophie S. 271 if.
Studium Generale, Bd. V., S. 195.
Die Idee der Konkretisierung S. 237 ff.
Vgl. vorerst meinen Aufsatz „Zur Logik des konkreten Begriffs“ in Drwiss. 5, S. 279. Eingehend dazu EngisCH, Die Idee der Konkretisierung in Recht undRechtswissenschaft unserer Zeit, S. 30 ff., 1721E, 256.
Die Verdinglichung obligatorischer Rechte, 1951.
In der Festschr. f. Schmidt-Rimpler, S 369 ff. Vgl. besonders S. 383.
Das Unternehmen als Rechtsgegenstand, 1953, besonders S. 11 ff.; Festschr. f. Schmidt-Rm4PI.ER, besonders S. 201 ff. Einschränkend dagegen, unter Hinweis auf den „Symbolwert“ des Begriffs, in der Festschr. f. Nmiscu, S. 229, 243 ff.
Die geistige Situation der deutschen Strafrechtswissenschaft, S. 13.
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Larenz, K. (1960). Methodische Bestrebungen der Gegenwart. In: Methodenlehre der Rechtswissenschaft. Enzyklopädie der Rechts- und Staatswissenschaft, vol 35. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-28410-0_7
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