Zusammenfassung
Im praktischen psychiatrischen Berufe handelt es sich immer um einzelne ganze Menschen; sei es, daß diese dem Psychiater zur Obhut, zur Pflege oder zur Heilung anvertraut werden, sei es, daß er vor Gericht, vor anderen Behörden, vor der Geschichtswissenschaft über eine Persönlichkeit ein Gutachten abgibt, sei es, daß ihn Kranke in der Sprechstunde um Rat fragen. Während seine Arbeit es hier ganz mit einem individuellen Fall zu tun hat, sucht der Psychiater, um den in solchen Einzelfällen an ihn herantretenden Forderungen gewachsen zu sein, als Psychopathologe nach allgemeinen Begriffen und Regeln. Ist der Psychiater im praktischen Berufe eine lebendige, erfassende und wirkende Persönlichkeit, der die Wissenschaft nur eines ihrer Hilfsmittel ist, so ist dagegen dem Psychopathologen diese Wissenschaft selbst Zweck. Er will nur kennen und erkennen, charakterisieren und analysieren, aber nicht einzelne Menschen, sondern das Allgemeine, seien es Qualitäten, wie Empfindung, Wahrnehmung, Vorstellung, Gefühl, seien es Zusammenhänge, wie Wahnvorgänge, Reaktionen, Erlebnisse, seien es typische Ganzheiten, wie Persönlichkeitsarten.
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Literatur
Wir sind allerdings nicht in der Lage, etwa ein Buch über Psychologie zu nennen, das gleichsam als eine Ergänzung zum Studium der Psychopathologie dienen könnte. Die Psychologie ist ebenso wie die Psychopathologie in viele Lager geteilt. Man muß die Parteien und Gegenstände nacheinander kennen lernen, um von Psychologie etwas zu erfahren. Für die mit der Sinnesphysiologie und den körperlichen Erscheinungen zusammenhängenden seelischen Probleme ist Wundts Physiologische Psychologie (kürzer ist der Grundriß von Wundt) das Hauptwerk. Hieran reihen sich die Bücher von Ebbinghaus, Titchener, Lipps, die — besonders Lipps — die „höheren“ psychischen Vorgänge mit zu behandeln suchen. — Nicht im Prinzip, aber in methodischer Reinheit neu ist die phänomenologische Grundlegung psychologischer Untersuchungen, die von Husserl gefordert und in einzelnen Teilen durch grundlegende Analysen verwirklicht wurde (Log. Untersuchungen, Bd. II). In derselben Richtung liegen viele Arbeiten der Külpeschen Schule. Eine kurze populäre Darstellung dieser Forschungsrichtung gibt Messer, Empfindung und Denken. Wer sich möglichst schnell in kurzen Büchern orientieren will, lese Wundts Grundriß, Ebbinghaus’ Abriß, Witasek und Messer. Die in diesen Büchern zitierte Literatur wird ihm leicht weiterhelfen.
Von methodologischen Arbeiten aus der Feder von Psychiatern sind lesenswert: Gaupp: Über die Grenzen psychiatrischer Erkenntnis. C. f. N. 1903. Wege und Ziele psychiatrischer Forschung. Tübingen 1907; — Schroeder, Julius: Über die Systematik der funktionellen Psychosen. C. f. N. 1909. — Das Studium der Fachphilosophen, die im Allgemeinsten bleiben, lohnt sich oft weniger als das Studium methodologischer Arbeiten empirischer Forscher, die gleichzeitig die Fülle der konkreten Anschauung besitzen. In diesem Sinne ist bei der teilweise nahen Berührung der Probleme für Psychopathologen wertvoll: Max Weber: Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. Archiv f. Sozialwiss., 19, 1904. — Roscher und Knies usw., Schmollers Jahrb., 27, 29, 30, 1903–1906.
Hervorragende Beispiele für richtige eigentliche Meinungen bei schiefen oder falschen Formulierungen findet man unter den Psychologen bei Dilthey, unter den Psychiatern bei Bleuler.
Man hat durchaus irrtümlich angenommen, daß man mit der Entdeckung der Aphasien und Apraxien in dem Reiche des Seelischen selbst Fuß gefaßt habe.
Hagen, F. W., Statistische Untersuchungen über Geisteskrankheiten, Erlangen 1876, und viele spätere Arbeiten z. B Römer, A. Z. 70, 804. Vgl. unten S. 367ff.
Vgl. Allgemeines über das Experiment, Kap. II, S. 95f.
Möbius, P. J., Die Hoffnungslosigkeitaller Psychologie, 2. Aufsl., Halle 1907
C Külpe, Medizin und Psychologie. Zeitschr. f. Pathopsychol. Bd. I, 1912.
Anthropologie §51.
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Jaspers, K. (1920). Einführung. In: Allgemeine Psychopathologie für Studierende, Ärzte und Psychologen. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-26726-4_1
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