Zusammenfassung
Es ist eine absurde Vereinfachung, wenn man die „Erfindung“ der Infinitesimalrechnung Newton und Leibniz allein zuschreibt. In Wirklichkeit ist die Infinitesimalrechnung das Ergebnis einer langen Entwicklung, die von Newton und Leibniz weder eingeleitet noch abgeschlossen wurde, in der aber beide eine entscheidende Rolle spielten. Im 17. Jahrhundert gab es, über ganz Europa verstreut und meist außerhalb der offiziellen Universitäten, eine Gruppe geistvoller Gelehrter, die sich bemühten, das mathematische Werk Galileis und Keelers fortzuführen. Zwischen diesen Gelehrten bestand ein enger Kontakt durch Korrespondenz und persönliche Besuche. Unter den Problemen, die auf diese Weise diskutiert wurden, erregten zwei besonderes Interesse. Erstens das Tangentenproblem: zu einer gegebenen Kurve die berührenden Geraden zu finden, das Fundamentalproblem der Differentialrechnung. Zweitens das Quadraturßroblem. den Flächeninhalt innerhalb einer gegebenen Kurve zu finden, das Fundamentalproblem der Integralrechnung. Newtons und Leibniz’ großes Verdienst ist es, den inneren Zusammenhang dieser beiden Probleme klar erkannt zu haben. In ihren Händen entwickelten sich die vielfach vorhandenen Ansätze zu neuen einheitlichen Methoden, und die Infinitesimalrechnung entstand als ein machtvolles neues Werkzeug für die Wissenschaft. Ein guter Teil des Erfolges beruht auf der genialen symbolischen Schreibweise, die Leibniz erfand. Seine Leistung wird in keiner Weise beeinträchtigt durch den Umstand, daß sie nicht frei von nebelhaften und unklaren Vorstellungen war, die lange ein genaues Verständnis erschwerten und einen leisen Mystizismus begünstigten. NEWTON, der bei weitem bedeutendere Wissenschaftler, scheint hauptsächlich durch Barrow (1630–1677), seinen Lehrer und Vorgänger in Cambridge, angeregt worden zu sein. Leibniz war eher ein Außenseiter; als glänzender Jurist, Diplomat und Philosoph, einer der aktivsten und vielseitigsten Köpfe seines Jahrhunderts, lernte er die neue Mathematik in unglaublich kurzer Zeit von dem Physiker Huygens, während er in diplomatischer Mission Paris besuchte. Kurz darauf veröffentlichte er Resultate, die den Kern der modernen Infinitesimalrechnung enthalten. Newton, dessen Entdeckungen viel weiter zurückgingen, scheute sich vor dem Publizieren. Obwohl er viele der Resultate seines Meisterwerks, der Principia, ursprünglich mit Hilfe der Methoden der Infinitesimalrechnung gefunden hatte, bevorzugte er eine Darstellung im Stil der klassischen Geometrie, und so tritt in den Principia explizit die Infinitesimalrechnung kaum hervor. Erst später wurden seine Arbeiten über die „Fluxionsmethode“ veröffentlicht. Bald begannen seine Verehrer eine bittere Prioritätsfehde mit den Freunden von Leibniz. Sie beschuldigten Leibniz des Plagiats; obwohl in einer Atmosphäre, die mit den Ideen einer neuen Theorie gesättigt ist, nichts natürlicher ist als gleichzeitige, voneinander unabhängige Entdeckungen. Der daraus entstandene Streit über die Priorität der „Erfindung“ der Infinitesimalrechnung schuf ein unseliges Vorbild für die Überbetonung von Prioritätsfragen und von Ansprüchen auf geistiges Eigentum, die den freien wissenschaftlichen Austausch gelegentlich schwer beeinträchtigen.
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Preview
Unable to display preview. Download preview PDF.
Author information
Authors and Affiliations
Rights and permissions
Copyright information
© 1962 Springer-Verlag Berlin Heidelberg
About this chapter
Cite this chapter
Courant, R., Robbins, H. (1962). Die Infinitesimalrechnung. In: Was ist Mathematik?. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-13407-8_8
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-662-13407-8_8
Publisher Name: Springer, Berlin, Heidelberg
Print ISBN: 978-3-662-13408-5
Online ISBN: 978-3-662-13407-8
eBook Packages: Springer Book Archive