Zusammenfassung
In keinem anderen westlichen Staat hat die geltende Verfassungsordnung ihre Wurzeln so tief in die Vergangenheit gesenkt wie in England. Das heutige Verfassungsrecht Frankreichs oder Deutschlands könnte ohne Schwierigkeit auf der Grundlage des letzten gültigen Verfassungsinstruments beschrieben werden. Selbst in den Vereinigten Staaten, deren Verfassung schon vor fast einunddreiviertel Jahrhunderten in Kraft getreten ist, ließe sich die heutige Verfassungspraxis ohne mehr als gelegentliche Hinweise auf historische Vorgänge darbieten. Anders aber in England. Bei schlechthin allen am gegenwärtigen politischen Prozeß beteiligten Staatsorganen — der Krone, den beiden Häusern des Parlaments mit ihren Privilegien und Gebräuchen, den Gerichten und dem von ihnen angewendeten Recht — haben sich bedeutsame Züge ihres mittelalterlichen Ursprungs bis in die Gegenwart erhalten. Nur beispielsweise sei hier an die königliche Prärogative als der Grundlage der monarchischen Kompetenz oder an die Revisionszuständigkeit des House of Lords und des Privy Council erinnert. Heute noch geltende Gesetze gehen bis in längst verflossene Jahrhunderte zurück. Die bürgerlichen Freiheitsrechte, erstmals anfangs des 13. Jahrhunderts in der Magna Charta begründet und seither als gemeines Recht — common law — weiterentwickelt, erhielten im 17. Jahrhundert ihre heutige positiv-rechtliche Einkleidung. Die parlamentarische Regierungsweise, im Kampf gegen den königlichen Absolutismus im 17. Jahrhundert errungen, begann im 18. Jahrhundert ihre heutige Gestalt als parlamentarische Kabinettsregierung anzunehmen. Selbst die Anfänge der politischen Parteien, in allen anderen Ländern erst das Ergebnis der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, reichen in England bis ins 17. und 18. zurück. Sicherlich haben sich auch die englischen Staatseinrichtungen gewandelt und den Bedingungen der technologischen Massengesellschaft unserer Zeit angepaßt. Aber nirgendwo anders wirkt die aus der Vergangenheit ererbte Tradition auf die Formen und das Verfahren des politischen Prozesses in solchem Maß ein wie im heutigen Großbritannien.
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Literatur
Es sei hier darauf hingewiesen, daß in unserer Darstellung die englischen Vor¬namen — Henry, Charles, Edward, Elizabeth — statt der üblichen Verdeutschungen beibehalten werden.
Auch die Zitierweise englischer bzw. britischer Gesetze bedarf hier einer Er¬läuterung. Noch bis vor kurzem war es üblich, Parlamentsgesetze nicht nach dem Jahrgang und der Seitenzahl der amtlichen Gesetzessammlung — Public General Acts and Church Assembly Measures — anzuführen, sondern nach den Regierungs¬jahren des Monarchen, in welche die Parlamentssession fiel und in welchen das betreffende Gesetz ergangen war, mit Hinzufügung der fortlaufenden Kapitel¬nummer, mit der die innerhalb der Session erlassenen Gesetze jeweils versehen sind. Da eine Parlamentssession sich in der überwiegenden Regel nicht mit dem Kalender¬jahr deckt und die Regierungsjahre des Monarchen gleichfalls sich nicht mit dem Kalenderjahr decken, wenn die Thronbesteigung etwa in seiner Mitte erfolgte, war die übliche Zitierweise etwa: 23 & 24 Victoria, was sich dann leicht als das Jahr 1860/61 feststellen läßt. In dieser jahrhundertealten Zitierweise trat erst jüngst durch den Acts of Parliament Numbering and Cititation Act von 1963 (Eliz. 2, c. 34) insofern eine Änderung ein, als von nun an ein Gesetz lediglich nach Kalenderjahr und Kapitelnummer zitiert wird, wobei üblicherweise auch der Name des regierenden Monarchen, aber ohne Angabe seines Regierungsjahres, hinzugefügt wird (z. B. Science and Technology Act 1965, Chapter 4). Jedes Gesetz gibt in der letzten Sektion (Artikel) seinen kurzen Titel an. Viele Gesetze sind mit Anhängen (schedules) ver¬sehen, welche Einzelerläuterungen enthalten und selbstverständlich Gesetzeskraft besitzen.
Karl Loewenstein, Der Britische Parlamentarismus, Entstehung und Gestalt, Rowohlts Deutsche Enzyklopädie, Reinbek 1964.
Die Liste der Inhaber des englischen Throns findet sich als Anhang A unten S. 547 ff.
Neuere Forscher glauben in den einwandfrei überlieferten Parlamenten der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts nicht die Anfänge, sondern die Vollendung des baronialen Gemeinschaftswesens erblicken zu sollen; siehe G. O. SAYLES, The Medie¬val Foundations of England, Philadelphia 1950, S. 448ff; H. G. RICHARDSON & G. O. SAYLES, The Governance of Medieval England from the Conquest to Magna Carta, Edinburgh 1963, S. 364ff.
In England wurde 1965 die siebenhundertjährige Wiederkehr der von Simon de Montfort, dem Schwager König Henrys III, einberufene Versammlung von 1265 als das erste Parlament — ein schickliches, wenn auch wahrscheinlich fiktives Jubiläum — festlich begangen.
Neueste Untersuchungen wollen seine chronische Unfähigkeit zur Regierungs¬führung auf eine seltene Stoffwechsel-Erkrankung zurückführen; siehe The Times vom 7. Januar 1966.
Für die Einzelheiten der Wahlgesetzgebung des 19. und beginnenden 20. Jahr¬hunderts siehe ausführlicher unten S. 97ff.
Siehe unten S. 126 ff.
Siehe unten S. 135.
Siehe ausführlicher unten S. 141 ff.
Siehe unten S. 207ff. 2 Siehe unten S. 408 ff.
Siehe unten S. 457 ff.
Siehe unten S. 854ff.
Siehe unten S. 256 ff.
Siehe Bd. II, S. 216 ff.
Siehe Bd. II, S. 309 ff; 327 ff.
Siehe unten Kapitel 20, S. 499ff.
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Loewenstein, K. (1967). Abriß der Verfassungsgeschichte. In: Staatsrecht und Staatspraxis von Grossbritannien. Abteilung Rechtswissenschaft, vol 1. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-13028-5_1
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