Zusammenfassung
Es erweist sich als unmöglich, die Viel f alt der krankha f tenseelischen Erscheinungen in einheitliche Krankheitsbilder aufzulösen. Entgegen anderen Erwartungen entsprechen im allgemeinen einer krankmachenden Ursache vielerlei psychopathologische Erscheinungsbilder und ein und dasselbe psychopathologische Erscheinungsbild kann verschiedene Ursachen haben. (Beispiele: Ein depressives Zustandsbild kann verursacht sein durch senile Demenz, Hirnarteriosklerose, progressive Paralyse und andere Hirnkrankheiten, durch Vergiftungen, Erschöpfung, Avitaminosen, viele andere allgemeine körperliche Krankheiten, durch manisch-depressives Irresein, Schizophrenie, als direkte psychische Reaktion auf einen Schmerz oder als neurotische Verarbeitung eines verdrängten Triebwunsches. Der der progressiven Paralyse zugrunde liegende syphilitische Hirnprozeß kann zu manischen, depressiven, verwirrten, katatoniformen und einfach-dementen Zustandsbildern führen). Die Gründe, weshalb die gleiche Noxe verschiedenartige psychopathologische Erscheinungen macht, liegen vor allem darin, daß eine Noxe auf ganz verschieden prädisponierte Persönlichkeiten wirkt: nur schon die Verschiedenheit der menschlichen Charaktere und Temperamente liegt ja darin, daß in verschiedener Art psychisch reagiert wird. (Ein und dasselbe schreckhafte Ereignis z. B. wird bei der einen Person einen depressiven Zustand auslösen, bei der andern einen Stupor oder einen Dämmerzustand, bei wieder einem andern eine maniforme Erregung und wird vielleicht bei der Mehrzahl der Betroffenen überhaupt keine das Gewöhnliche übersteigende Reaktion setzen). Aber auch auf körperliche Noxen reagieren Hirn und Psyche individuell verschieden, zum Teil im Zusammenhang mit der rein charakterlichen Konstitution, zum Teil auf Grund von mannigfachen Über- und Unterempfindlichkeiten, die mit dem Charakter im gewöhnlichen Sinne nichts zu tun haben. Von diesen sind die Überempfindlichkeiten Giften gegenüber besonders gut bekannt. (Z. B. gegenüber Alkohol, Athernarkose, Schlafmittel, Opiate, Weckamine, Meskalin usw.). Eine bedeutungsvolle Rolle in der Gestaltung des psychopathologischen Folgezustandes bestimmter Noxen schafft auch das Lebensalter. (In der frühen Entwicklung bewirkt eine diffuse Hirnschädigung Schwachsinn, im erwachsenen Alter aber das psychoorganische Syndrom; ein und dasselbe sexuelle Erlebnis, z. B. der Anblick eines Exhibitionisten, kann eine ganz verschiedenartige schädigende Bedeutung haben, je nach dem Alter, in dem jemand davon betroffen wird usw.). Die psychischen Folgezustände hängen weiter sehr davon ab, ob eine Noxe rascher oder langsamer einwirkt. Gleichzeitige Einwirkung von verschiedenen Schädigungen auf die Psyche schaffen mannigfache gegenseitige Über-und Unterempfindlichkeiten. (Ein manischer Zustand erhöht die Reaktionsfähigkeit auf zornanregende Erlebnisse, vermindert aber diejenige auf betrübende Erlebnisse. Ein psychoorganisches Syndrom pflegt die Empfindlichkeit auf Nervengifte zu erhöhen usw.).
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Bleuler, E. (1949). Die Einteilung der Geisteskrankheiten. In: Lehrbuch der Psychiatrie. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-12243-3_4
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