Zusammenfassung
Sinnestäuschungen üben eine anhaltende Faszination auf den Menschen aus, selbst in der heutigen Zeit der visuellen Überreizung durch allgegenwärtige Werbung, „schnelle“ Computerspiele und Aktionsfilme voller Spezialeffekte. Wir betrachten die Täuschung und mögen unseren Augen nicht mehr trauen, von denen wir doch stets annahmen, dass sie uns die Wirklichkeit getreulich zeigen. Insofern vermitteln uns die Sinnestäuschungen eine tiefe philosophische Einsicht oder einen Merksatz: Wir sind nicht imstande, die Wirklichkeit als solche zu erfassen, sondern lediglich eine mehr oder weniger wirklichkeitstreue Abbildung, wie schon Plato in seinem Höhlengleichnis illustrierte. Sinnestäuschungen vermitteln uns einen schwachen Eindruck davon, was Patienten empfinden, die unter neuropsychologischen Erkrankungen, beispielsweise Halluzinationen, leiden.
Beginnt man, näher über das Verhältnis von Wahrnehmungsinhalten einerseits und den Objekten der äußeren Welt (so sie denn überhaupt existieren) nachzudenken, dann wird schnell klar, dass eine tiefe Kluft zwischen diesen beiden Bereichen besteht. Die Objekte bestehen aus mehr oder weniger schnell bewegten und unterschiedlich großen Körpern unterschiedlicher Form und chemischer Zusammensetzung. Ihre Repräsentationen im Gehirn dagegen bestehen aus Mustern der elektrischen Aktivität von Gruppen unterschiedlicher Nervenzellen. Zusätzlich ist das zentrale Nervensystem nur in der Lage, einen Bruchteil der pro Sekunde durch die Sinnesorgane angelieferten Information auszuwerten und muss daher diese Information massiv komprimieren. Die in der Regel so ausgezeichnete Übereinstimmung zwischen Wahrnehmung und äußerer Wirklichkeit, die uns ein geradezu absolutes Zutrauen in unsere Wahrnehmungen entwickeln lässt, muss vor diesem Hintergrund erstaunen. Nur der lange Prozess der Evolution konnte dafür sorgen, dass Sinnestäuschungen im engeren Sinne so selten sind, dass ihr Auftreten uns irritiert.
Bei der Kompression der Information scheint unser Gehirn eine große Menge an Tricks und Näherungslösungen zu verwenden, die zu einer deutlichen Beschleunigung der Musterverarbeitung führen. Nur so ist zu verstehen, dass Menschen auch heute noch den leistungsfähigsten Computern überlegen sind, wenn es um die Analyse komplexer visueller Szenen geht. Einige Sinnestäuschungen zeigen uns, welcher Preis für diese Näherungslösungen zu zahlen ist. Andere Täuschungen sind das Ergebnis von Rechenoperationen, die beispielsweise durch Kontrastverschärfung die Bildqualität verbessern sollen, was unter bestimmten ungewöhnlichen Bedingungen zu Fehlern wie der Wahrnehmung übertriebener Kontraste führt. Wieder andere beruhen auf sog. Konstanzleistungen, die zur unveränderten Wahrnehmung eines Objektes trotz sich ändernder äußerer Umstände führen, wie unterschiedlicher Beleuchtung. Und man muss leider eingestehen, dass wir die neurophysiologischen Grundlagen einer ganzen Reihe weiterer Täuschungen noch immer nicht verstehen, diese Täuschungen also noch nicht überzeugend erklärt werden können. Im Rahmen dieses Artikels soll der Begriff der Täuschung sehr weit gefasst werden: Als jede Nichtübereinstimmung zwischen den physikalisch messbaren Eigenschaften eines Objektes und seinen subjektiv wahrgenommenen Merkmalen.
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Fahle, M. (2003). Visuelle Täuschungen. In: Karnath, HO., Thier, P. (eds) Neuropsychologie. Springer-Lehrbuch. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-08957-6_5
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