Zusammenfassung
Während sich das vorangegangene Kap. 10 mit den Störungen des visuellen Erkennens — also der Identifikation — von Objekten und Gesichtern befasst, geht es im Folgenden um das visuelle Erkennen der räumlichen Orientierung von Objekten. Unsere Fähigkeit, Objekte aus vielen verschiedenen Blickwinkeln zu erkennen, ist erstaunlich. Auch wenn es darum geht, Objekte wieder zuerkennen, die sich gegenüber früheren Begegnungen nun in anderen Orientierungen darbieten, können wir dies in der Regel ohne Schwierigkeiten. Wie unser Gehirn diese Aufgaben bewältigt, ist Gegenstand einer Diskussion, bei der sich im wesentlichen zwei Positionen gegenüberstehen: die sog. „standpunktabhängigen“ und die „standpunktunabhängigen” Theorien (s. hierzu ausführlicher Kap. 8).
Um Objekte unabhängig von ihrer Position, ihrer Größe oder des jeweiligen Blickwinkels zu erkennen, müssen wir sie mit gespeicherten mentalen Repräsentationen zuvor gesehener Objekte abgleichen. Standpunkt abhängige Theorien des Objekterken-nens gehen davon aus, dass diese Repräsentationen in Referenzsystemen abgelegt sind, die von der Position des Betrachters zum Objekt abhängen. Für das Erkennen eines Objektes ist es demnach erforderlich, das gesehene Bild in das gespeicherte Bild des Objektes zu überführen. Man stellt sich vor, dass dieser Abgleich durch Interpolieren zwischen dem aktuell gesehenen und dem gespeicherten Objekt (Bülthoff u. Edelman 1992) oder durch Transformation entweder des aktuell gesehenen Objektes und/ oder des gespeicherten Bildes, z.B. durch mentale Rotation, vorgenommen wird (Shepard u. Cooper 1982; Tarr 1995; Ullmann 1996). Demgegenüber gehen standpunktunabhängige Theorien des Objekt-erkennens davon aus, dass die mentalen Repräsentationen zuvor gesehener Objekte in objektzentrierten Referenzsystemen gespeichert sind. Solche objektzentrierten Systeme sind von der Position des Betrachters zum Objekt unabhängig und basieren auf der individuellen Geometrie der Objekte, z.B. ihrer Hauptachse (Marr u. Nishihara 1978) oder besonders typischer, orientierungsfreier Merkmale (Corballis 1988). Danach ist es zum Erkennen eines Objektes nicht erforderlich, das aktuell gesehene Bild mit dem gespeicherten Bild des Objektes durch Transformations- oder Interpolationsprozesse zur Deckung zu bringen.
Vor dem Hintergrund solcher standpunktunabhängigen Mechanismen des Objekterkennens könnte man vermuten, dass eine entsprechend lokalisierte Hirnschädigung vielleicht eine Erkrankung hervorrufen könnte, die zu einer selektiven Störung des Erkennens der Orientierung von Objekten führt. Solche Kranken sollten nicht mehr in der Lage sein, die Orientierung eines Objektes zu bestimmen, obwohl sie diese Objekte aufgrund der objektzentrierten Speicherung nach wie vor einwandfrei identifizieren können sollten.
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Karnath, HO. (2003). Agnosie von Objektorientierungen. In: Karnath, HO., Thier, P. (eds) Neuropsychologie. Springer-Lehrbuch. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-08957-6_12
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