Zusammenfassung
Wer gewohnt ist, die von Savigny mitbegründete „Historische Rechtsschule“ vornehmlich aus ihrem Gegensatz zu den „philosophischen“ Schulen des späten Naturrechts zu sehen, wird erstaunt sein, am Beginn der Kollegschrift aus dem Winter 1802 zu lesenl: die „Gesetzgebungswissenschaft“ — als solche wird hier die Rechtswissenschaft bezeichnet — sei „erstens eine historische und zweitens auch eine philosophische Wissenschaft“; beides sei zu vereinen, die Rechtswissenschaft müsse „vollständig historisch und philosophisch zugleich sein“. Handelt es sich hier noch um einen naturrechtlichen „Rückstand“ im Denken Savignys, den er später überwunden hat, oder hat Savigny an dieser Verbindung dauernd festgehalten? Es fällt auf, daß er den Ausdruck „philosophisch“ in der Kollegschrift als gleichbedeutend mit „systematisch“ gebraucht; das „systematische“ Element spielt aber auch in der Methodenlehre des „Systems“ eine beträchtliche Rolle. In welchem Sinne Savigny in der Frühschrift die Ausdrücke „systematisch“ und „philosophisch“ einander gleichsetzt, lassen die Worte erkennen: „Alles System führt auf Philosophie hin. Die Darstellung eines bloß historischen Systems führt auf eine Einheit, ein Ideal, worauf sie sich gründet, hin. Und dies ist Philosophie“ (S. 48). Dabei unterscheidet Savigny die philosophische Rechtslehre als solche oder das Naturrecht von dem philosophischen oder systematischen Element der (positiven) Rechtswissenschaft: die letztere kann „ebensogut ohne Naturrecht als mit solchem studiert werden“ (S. 50). Philosophie ist dem Juristen „auch bloß als Vorkenntnis durchaus nicht notwendig“. Mit dem „philosophischen“ Element der Rechtswissenschaft kann also nicht die Übernahme irgendwelcher naturrechtlicher Lehrsätze, sondern nur eine der Rechtswissenschaft selbst eigentümliche Richtung auf eine von ibr vorausgesetzte immanente Einbeit gemeint sein, eine Richtung, die der Rechtswissenschaft mit der Philosophie nach Savignys Meinung gemeinsam ist. In diesem Sinne heißt es auch im „System“ (S. 46), daß die dem Stoff gegebene wissenschaftliche Form „seine innewohnende Einheit zu enthüllen und zu vollenden“ strebe, und in diesem Streben, d. h. Insofern sie systematisch verfährt, ist die Rechtswissenschaft der Philosophie verwandt.
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Literatur
Wir besitzen zwei Darstellungen der juristischen Methodenlehre von Savigny: das von Jakob Grimm nachgeschriebene, im Jahre 1951 Vor Wesenberg heraus¬gegebene Kolleg aus dem Winter 1802/03 — die „Frühschrift“ —, und die Aus¬arbeitung im 1. Bande des „Systems des heutigen Römischen Rechts“ vom Jahre 1840. Zwischen diesen beiden, zeitlich weit entfernten Darstellungen liegt die be¬rühmte Programmschrift „Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechts¬wissenschaft“ ( 1814 ). Die darin ebenfalls enthaltenen methodischen Ausführungen sind jedoch nicht zu einem geschlossenen Ganzen vereinigt. Sie lassen erkennen, wie weit sich Savigny durch die nun von ihm konzipierte historische und organologi¬sche Auffassung von seinem Ausgangspunkt in der Frühschrift entfernte, haben aber gegenüber dem späteren »System“ keine selbständige Bedeutung und brauchen hier daher auch nicht gesondert dargestellt zu werden. — Die im Text in Klam¬mern angegebenen Seitenzahlen beziehen sich zunächst auf die Ausgabe der Kol¬legschrift von WESENBERG, hernach auf die Ausgabe des „Systems“ vom Jahre 1840.
Zur Fortwirkung des (neuzeitlich-rationalistischen) Naturrechts in der hi-storischen Rechtsschule vgl. Beyerle, DRWiss. IV, S. 15 ff.;
Koschaker, Europa und das römische Recht, S. 279;
Thieme, Das Naturrecht und die europäische Pri¬vatrechtsgeschichte, S. 46;
Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 372 ff.
Mit Recht bemerkt W. Wilhelm, Zur juristischen Methodenlehre im 19. Jahrhundert (1958), S. 61 zu Savignys Theorie der juristischen Systematik: „Die konsequente Abkehr von aller naturrechtlichen Systematik, wie man sie in der Schultheorie verkündet hatte, wurde in der wissenschaftlichen Praxis nicht ver-wirklicht.“
Ich halte es trotzdem nicht für richtig, Savigny, wie dies meist geschieht, den Vertretern der „subjektiven“ Auslegungstheorie zuzurechnen, d. h. einer Auf¬fassung, die die Aufgabe der Auslegung in der Ermittlung eines empirischen Fak¬tums, des psychologisch verstandenen „Willens“ des historischen Gesetzgebers (oder, in der Abart von Heck, derjenigen „kausalen Interessen“, die ihn motiviert haben) erblickt. Indem Savigny verlangt, der Ausleger solle die Tätigkeit des Gesetz¬gebers, in der das Gesetz entstanden, in seinem Geiste wiederholen und das Gesetz so in seinem Denken neu entstehen lassen, verlangt er von ihm weit mehr als nur die Feststellung bestimmter Fakten, nämlich eine eigene geistige Tätigkeit, die ihn notwendig über das hinausführen muß, was der historische Gesetzgeber sich bei seinen Worten tatsächlich gedacht haben mag. Die in der Auslegung enthaltene »freie Geistestätigkeit“, so sagt er (System I, S.207), lasse sich dahin bestimmen, daß „wir das Gesetz in seiner Wahrheit erkennen“. Bei dieser geistigen Tätigkeit soll sich der Ausleger, gleich wie der Gesetzgeber selbst, von der »Anschauung des Rechtsinstituts“ leiten lassen, d. h. er soll hinter die Gedanken des Gesetzgebers zurückgehen auf den in dem Rechtsinstitut verwirklichten objektiven Rechts¬gedanken. Die später entwickelte, von Windscheid und Bierling vertretene „sub¬jektive Auslegungstheorie“ setzt einen psychologischen Willensbegriff voraus, der
Savigny noch eben so fern lag wie der der »objektiven Auslegungstheorie“ Bindings, Wachs und Kohlers zugrundeliegende rationalistische Gesetzesbegriff. Beide Theorien sind, jede in ihrer Einseitigkeit, Ausdruck des positivistischen Zeit¬alters, dem die von Savigny noch vorausgesetzte innere Einheit von Redit und rechtlich geordnetem Lebensverhältnis (Rechtsinstitut) sowie von sachlicher Vernunft und Willen des Gesetzgebers nicht mehr faßbar war. Savignys Auf¬fassung mit der einen oder der anderen dieser Theorien, die beide zeitbedingt sind, zu identifizieren, heißt notwendigerweise, sie gerade in dem, was ihre Eigentüm¬lichkeit und ihre Größe ausmacht, mißzuverstehen. Es ist mit Savigny ähnlich wie mit Hegel: sein Denken umfaßt weit mehr, als alle diejenigen wahrzunehmen im¬stande sind, die sich später nur des einen oder des anderen „Momentes“ bemächtigten und daraus eine infolge ihrer Einseitigkeit durch ihre Einfachheit und logische Widerspruchslosigkeit bestechende, in Wahrheit aber das Leben an irgendeinem Punkte vergewaltigende Doktrin zimmerten.
Zutreffend sagt Kriele (Theorie der Rechtsgewinnung, S. 71), auch wenn Savigny die „Sterilisierung der Rechtswissenschaft“ (durch die „Begriffsjurispru¬denz“) selbst mit herbeigeführt habe, so sei das eine unbeabsichtigte mittelbare Folge. „Sein Anliegen war die organische Rechtsfortbildung.“
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Larenz, K. (1975). Die Methodenlehre Savignys. In: Methodenlehre der Rechtswissenschaft. Enzyklopädie der Rechts- und Staatswissenschaft. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-08717-6_3
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