Zusammenfassung
Jede Rechtsordnung enthält Regeln, die beanspruchen, daß sich diejenigen, an die sie sich richten, ihnen gemäß verhalten. Soweit diese Regeln zugleich Entscheidungsnormen darstellen, sollen diejenigen, die über die rechtliche Austragung von Konflikten zu entscheiden haben, ihnen gemäß urteilen. Die meisten Rechtsregeln sind sowohl Verhaltensnormen für den Bürger, wie Entscheidungsnormen für die Gerichte und die Behörden. Kennzeichnend für eine „Regel“ in dem hier gemeinten Sinn ist erstens ihr Geltungsanspruch, der ihr zukommende Sinn einer verbindlichen Verhaltensanforderung oder eines verbindlichen Beurteilungsmaßstabes — ihr normativer Charakter , zweitens ihr Anspruch, nicht nur gerade für einen bestimmten Fall, sondern innerhalb ihres räumlichen und zeitlichen Geltungsbereiches für alle Fälle „solcher Art“ zu gelten — ihr genereller Charakter. Eine Rechtsregel kann ausgesprochen sein in einem Gesetz, sie kann sich ergeben aus sogenanntem Gewohnheitsrecht oder aus zutreffenden Folgerungen aus dem geltenden Recht oder aus Konkretisierungen von Rechtsprinzipien, wie sie immer wieder von den Gerichten vorgenommen werden. Damit sich aus der zunächst fallbezogenen Konkretisierung eines Rechtsprinzips oder eines ausfüllungs-bedürftigen Maßstabes eine neue Rechtsregel ergibt, muß sie allerdings in dem Sinne verallgemeinerungsfähig sein, daß sie auf gleichliegende oder „ähnliche“ Fälle anwendbar ist. Das ist der Fall, wenn und soweit sie an die „typischen“ Züge des jeweils entschiedenen Falles anknüpft.
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Literatur
Der Ausdruck „Rechtssatz“ wird hier also gleichbedeutend mit dem Ausdruck „Rechtsnorm“ gebraucht. Dies rechtfertigt sich eben daraus, daß die Rechtsnorm sprachlich nur als ein Satz (oder als ein Gefüge von Sätzen) ausgedrückt werden kann. Kelsen (Reine Rechtslehre, 2. Aufl., S. 73 ff.) behält den Ausdruck „Rechtssatz“ den Sätzen der Rechtswissenschaft vor. Diese enthalten Aussagen über den Inhalt oder die Geltung von Rechtsnormen; sie sind Aussagesätze, die sich inhaltlich auf Normen beziehen, aber selbst keine Normen.
Zwar sagt auch der Rechtssatz etwas aus, indem er angibt, was der Adressat tun oder lassen, wie er urteilen soll. Diese Aussagefunktion steht aber im Dienste der normativen Funktion. Der Rechtssatz behauptet nicht, daß etwas sei oder so sei, sondern schreibt etwas vor, gewährt oder versagt. Vgl. zu der ähnlichen Problematik der Imperative Hare, Die Sprache der Moral, S. 35, 37 ff. Über Normsätze und Aussagesätze Weinberger, Rechtslogik, 2. Aufl., S. 53 ff, 225 ff.
Recht und Moral, wie immer ihr Verhältnis sonst sein mag, stimmen jedenfalls darin überein, daß beide sich einer „vorschreibenden“ Sprache bedienen, die von der Sprache, in der Tatsachenbehauptungen geäußert werden, charakteristisch verschieden ist. Vgl. dazu Hare, a.a.O., S. 19 ff.
Richtig sagt Weinberger, a.a.O., S. 259, die Funktion des Geltungsbegriffs in bezug auf die Rechtsnorm sei weitgehend analog der Rolle des Wahrheitsbegriffs in bezug auf Aussagesätze.
Richtig sagt Weinberger, Norm und Institution, 1988, S. 61; „Sollsätze drücken Pflichten aus. Statt ,Es ist geboten, daß Du Deine Schuld bezahlst’ (= ,Du sollst deine Schuld bezahlen’), kann man sagen ,Du hast die Pflicht, Deine Schuld zu bezahlen“‘.
Die Sprache der Moral, dtsch. Ausg. 1972 (engl. Ausg. 1952).
Sie geht zurück auf Thon, Rechtsnorm und subjektives Recht, 1878, S. 3; Jhering, Der Zweck im Recht, 3. Aufl., Bd. 1, S. 330; Bierling, Juristische Prinzipienlehre, Bd. 1, S. 30. Weitere Vertreter sind Binder, Philosophie des Rechts S. 702 ff., Nawiasky, Allgemeine Rechtslehre, S. 8; Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 22 ff., 200 f. (Anm. 6 b). Zu ihren Gegnern gehörte Zitelmann, Irrtum und Rechtsgeschäft, S. 204, 222. Nach ihm enthält der Rechtssatz eine Aussage über die vom Gesetzgeber getroffene Anordnung. Ähnlich Werner Goldschmidt, Der Aufbau der juristischen Welt, 1963, S. 6, 21, 284 ff. Kritisch Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, 2. Aufl. S. 43 ff., Klug, Logik und Logikkalkül, 1962, S. 115 f.; Esser, Vorverständnis und Methodenwahl, S. 34; Hart, The Concept of Law, S. 27 ff.; Bydlinski, Jur. Methodenlehre u. Rechtsbegriff, S. 197 ff.
Vgl. oben S. 30.
In einem Beitrag zur formalen Struktur der subjektiven Rechte in RTh 1979, S. 71, meint Jürgen Schmidt, ob man das subjektive Recht definiere lediglich durch eine Verbotsnorm so die Imperativentheorie — oder durch die Kombination einer Verbots- und einer Erlaubnisnorm, sei sachlich gleichbedeutend und nur eine Verschiedenheit der sprachlichen Formulierung. Das mag zutreffen, aber die Rechtsordnung enthält nicht nur Verbots- und (etwa noch) Erlaubnissätze, sondern Geltungsanordnungen verschiedenster Art, und deshalb ist die Imperativentheorie unzureichend, um die Eigenart der Rechtssätze („Rechtsnormen“) gegenüber anderen Sätzen (insbesondere Aussagesätzen) zu kennzeichnen.
Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechts, Neuausg. 1953, S. 170 ff. Zu ihm vgl. oben im 1. Teil, Kap. 4 unter 4.
Vgl. dazu Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, 2. Aufl., S. 186 ff., 550 f.; auch Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 4. Aufl., S. 298.
Vgl. hierzu auch meinen Beitrag in der Festschrift für Engisch, 1969, S. 150.
Vgl. Bierling, Juristische Prinzipienlehre, Bd. 4, S. 222; Solmó, Juristische Grundlehre, S. 186.
Das hat Leenen, Typus und Rechtsfindung, S. 162 ff, deutlich gemacht. Im näheren dazu unten Kap. 3, 4c (S. 301 ff.).
Dieses Merkmal kann auch ein negatives Merkmal sein; Beispiele §§ 285 u. 400 BGB.
Hierzu Jutta Minas-v. Savigny, Negative Tatbestandsmerkmale, ein Beitrag zur Rechtssatz- und Konkurrenzlehre, 1972.
Vgl. mein Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. II, 1, 13. Aufl., § 46.
Aus dem fast unübersehbaren Schrifttum zur gesetzlichen Fiktion sind hervorzuheben; Bernhöft, Beiträge zur Erläuterung des Bürgerlichen Gesetzbuchs, Heft 6, 1905; ders.: Festschrift für Ernst Imanuel Bekker, 1907, S. 241 ff.; Bierling, Juristische Prinzipienlehre, Bd. 1, S. 101 ff.; Demelius, Die Rechtsfiktion in ihrer geschichtlichen und dogmatischen Bedeutung, 1858; Esser, Wert und Bedeutung der Rechtsfiktionen, 1940; Hans Albrecht Fischer, Fiktionen und Bilder in der Rechtswissenschaft, AcP 117, S. 143 ff.; Somlö, Juristische Grundlehre, S. 524 ff., Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft, 2. Aufl., S. 199 ff.; v. Tuhr, Der Allgemeine Teil des Deutschen Bürgerlichen Rechts, Bd. 1, S. 24; Bd. 2, Teil 1, S. 13, 422 ff.
Vgl. Demelius, a.a.O., S. 39, 76; Fischer, a.a.O., S. 144.
Insoweit richtig Bierling, a.a.O., S. 101.
Vgl. Esser, a.a.O., S. 26 ff.
Vgl. Esser, a.a.O., S. 3 1 ff.
a.a.O., Bd. 2, Teil 1, S. 13.
Esser, a.a.O., S. 98 ff. spricht in diesen Fällen von „definitorischen Fiktionen“.
Dazu v. Tuhr, a.a.O., S. 25 ff.
Man beachte wohl, daß hier von der Urteilsbegründung die Rede ist. Der Urteilsspruch als solcher ist Geltungsanordnung, soweit er in Rechtskraft erwachsen kann; er unterliegt daher auch noch anderen Beurteilungskriterien.
Ungeklärt ist bereits die Terminologie. Manche, so besonders Dietz, bezeichnen nur den Fall als „Gesetzeskonkurrenz“, in dem die eine Norm die andere verdrängt. Dem entspricht der Sprachgebrauch in der Strafrechtslehre. In der Zivilrechtslehre wird der Ausdruck „Gesetzeskonkurrenz“ auch zur Bezeichnung aller Fälle gebraucht, in denen die Tatbestände mehrerer Rechtssätze auf denselben Sachverhalt zutreffen. Man unterscheidet dann wohl zwischen kumulativer, alternativer und verdrängender Gesetzeskonkurrenz (Enneccerus-Nipperdey). Im Fall, daß mehrere anspruchsbegründende Normen auf denselben Sachverhalt anwendbar sind, spricht man von „Anspruchskonkurrenz“ oder auch von „Anspruchsnormen-Konkurrenz“. Als zusammenfassender Ausdruck für alle Fälle des Zusammentreffens mehrerer Rechtssätze empfiehlt sich der Ausdruck „Normen-Konkurrenz“. Aus dem überreichen Schrifttum seien hervorgehoben; Dietz, Anspruchskonkurrenz bei Vertragsverletzung und Delikt, 1934
Enneccerus-Nipperdey, Allgemeiner Teil, § 60; Georgiades, Die Anspruchskonkurrenz im Zivilrecht und Zivilprozeßrecht, 1968
Hruschka, Pflichtenkollisionen und Pflichtenkonkurrenzen, Festschr. f. Larenz, 1983, S. 257
Lent, Die Gesetzeskonkurrenz im bürgerlichen Recht und Zivilprozeßrecht, 2 Bde, 1912/16
Maurach, Deutsches Strafrecht, §§ 54 ff.; Mezger, Strafrecht (Lehrbuch), § 69; Schlechtriem, Vertragsordnung und außervertragliche Haftung; Eine rechtsvergleichende Untersuchung zur Konkurrenz von Ansprüchen aus Vertrag und Delikt, 1972
Rud. Schmidt, Die Gesetzeskonkurrenz im bürgerlichen Recht, 1915. Vgl. auch Engisch, Einführung in das juristische Denken, 7. Aufl., S. 162 f.
Minas - v. Savigny, Negative Tatbestandsmerkmale, rechnet daher alle einschränkenden Rechtssätze zu den konkurrierenden (wenn auch nur zu den „scheinbar konkurrierenden“). Üblicherweise spricht man da nicht von einem Konkurrenzproblem, wo die Funktion eines Rechtssatzes als Einschränkung eines anderen klar zutage liegt (etwa schon nach seiner Wortfassung oder seiner Stellung im Gesetz), sondern nur da, wo dies zweifelhaft ist.
Vgl. Enneccerus-Nipperdey, a.a.O., § 60, II.
So auch Dietz, a.a.O., S. 62. Er spricht hier zutreffend nicht von Spezialität, sondern von „Subsidiarität infolge erschöpfender Regelung“. Als Beispiel kann hier das Verhältnis der Vorschriften über die Mängelgewähr beim Kauf (§§ 549 ff. BGB) zur Irrtumsanfechtung wegen Eigenschaftsirrtums (§ 119 Abs. 2) dienen. Da es Fälle geben kann, in denen ein Sachmangel im Sinne des § 459 nicht auf dem Fehlen einer verkehrswesentlichen Eigenschaft der Sache beruht, so liegt das Verhältnis der „Spezialität“ im logischen Sinne nicht vor. Die gleichzeitige Anwendung des § 119 Abs. 2 BGB neben den Vorschriften über die Mängelhaftung würde aber den Zweck einiger dieser Vorschriften durchkreuzen. Daher nimmt die herrschende Lehre hier — im Wege einer teleologischen Gesetzesauslegung — die Verdrängung des § 119 Abs. 2 an. Hierzu mein Lehrb. des Schuldrechts, Bd. II, 1, 13. Aufl., S. 73 f..
Es geht bei dieser Unterscheidung um die Frage, ob im Falle gleichzeitiger Anwendbarkeit mehrerer anspruchsbegründender Normen mehrere Ansprüche entstehen, die auf das gleiche Ziel gerichtet sind, aber z. B. selbständig abgetreten oder eingeklagt werden können oder ob nur ein einziger Anspruch entsteht, der im Gesetz mehrfach begründet ist. Hierzu vgl. die angegebenen Schriften von Georgiades und Schlechtriem sowie mein Lehrbuch des Allgemeinen Teils, 7. Aufl., § 14, IV.
Vgl. Dietz, a.a.O., S. 69 ff.; Georgiades, a.a.O., S. 84 ff.; Schlechtriem, a.a.O., S. 27 ff.; Esser, Schuldrecht, 4. Aufl., § 112, V; mein Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. II, 12. Aufl., § 75, VI.
Esser, a.a.O., § 112, V, 3; Schlechtriem, a.a.O., S. 333, 346 ff.; 388 ff.; 418 ff.
Im Sinne von Enneccerus-Nipperdey, a.a.O., § 60, 1.
Vgl. Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, S. 8 ff.
Das Gleichheitszeichen trifft, wie ich Koch/Rüssmann, a.a.O., S. 64, zugeben muß, das Gemeinte nur schlecht. S und T sind insofern niemals gleich, als der Abstand zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen bleibt. Sie gleichen einander nur in bezug darauf, daß S. neben anderen, spezifischen — alle die Merkmale aufweist, durch die T charakterisiert ist. Mir fehlt aber ein passenderes Zeichen für das hier Gemeinte.
Genauer: Ein Aussagesatz des Inhalts, daß dieser Rechtssatz gilt.
Darauf weist auch Engisch, a.a.O., S. 13 hin.
Vgl. Engisch, a.a.O., S. 13, 18.
Hoffmeister, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, 2. Aufl. 1955.
Hierzu Engisch, Logische Studien, S. 22 ff.
Zu den verschiedenen „Sprachebenen“ vgl. A. Kaufmann, Die Parallelwirkung in der Laiensphäre, 1982, S. 27 ff.
So auch in dem Beispiel von Koch/Rüssmann, a.a.O., S. 15.
Engisch, Einführung in das juristische Denken, 7. Aufl. 1977, S. 56, und, ausführlich, S.213.
Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 1982, S. 397.
Jan Schapp, Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, 1983, S. 31 ff.
Dies leugnen zu wollen, wäre m. E. ebenso verkehrt, wie die These, die Zuordnung geschehe immer im Wege einer Subsumtion.
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Larenz, K. (1991). Die Lehre vom Rechtssatz. In: Methodenlehre der Rechtswissenschaft. Enzyklopädie der Rechts- und Staatswissenschaft. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-08711-4_8
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