Zusammenfassung
Rechtssätze sollen auf tatsächliche Vorgänge, auf einen geschehenen Sachverhalt „angewandt“ werden. Wie wir bereits gesehen haben, ist das nur möglich, indem der geschehene Sachverhalt ausgesagt wird. Was im Tatbestand eines Urteils als „Sachverhalt“ erscheint, ist der Sachverhalt als Aussage. Das Geschehene muß zu diesem Zweck benannt, und das Benannte in eine gewisse Ordnung gebracht werden. Aus der unübersehbaren Fülle, dem ständigen Fluß des tatsächlich Geschehenen nimmt der Sachverhalt als Aussage stets eine Auswahl vor; bereits diese Auswahl trifft der Beurteiler im Hinblick auf die mögliche rechtliche Bedeutsamkeit der einzelnen Fakten. Der Sachverhalt als Aussage ist also dem Beurteiler nicht von vorneherein „gegeben“, sondern er muß von ihm in Hinblick auf die ihm bekannt gewordenen Fakten einerseits, deren mögliche rechtliche Bedeutung anderseits erst gebildet werden. Die Tätigkeit des Juristen setzt gewöhnlich nicht erst bei der rechtlichen Beurteilung des ihm fertig vorliegenden, sondern schon bei der Bildung des seiner rechtlichen Beurteilung unterliegenden Sachverhaltes, des Sachverhaltes „als Aussage“, ein.
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Referenzen
Logische Studien zur Gesetzesanwendung, S. 19.
Zur Bedeutung der Frage für die Sachverhaltsbildung vgl. Hruschka, Die Konstitution des Rechtsfalles, 1965, S. 20 ff.
Vgl. Hruschka, a. a. O., S. 48.
Engisch, Logische Studien, S. 15. Vgl. oben, S. 207.
Scheuerle, Rechtsanwendung, S. 23.
Vgl. oben Kap. 2, 3 b.
Juristische Prinzipienlehre, Bd. 4, S. 47.
Vgl. hierzu Bierling, Juristische Prinzipienlehre, Bd. 4, S. 25 ff.; Enneccerus-Nipperdey, Allgemeiner Teil, §136 zu Anm. 4
Vgl. Westermann, Sachenrecht, § 53, II, 3.
So Engisch, Vom Weltbild des Juristen, 2. Aufl. 1965, S. 158.
In JuS 1970, S. 157.
Vgl.BGHZ 50, 315.
Nicht etwa auf ein „absolutes Sittengesetz“ oder eine bestimmte „Hochethik“; vergl. dazu meine Ausführungen im Juristen-Jahrbuch, Bd. 7, S. 98 ff.
Teubner, Standards und Direktion in Generalklauseln, 1971, S. 91 spricht zutreffend von einer „Richtigkeitskontrolle“, die darin besteht, daß der Richter die zuvor empirisch ermittelten sozialen Normen an Rechtsnormen, Rechtsprinzipien und Wertmaßstäben der Verfassung mißt.
In seinem Buch „Rechtsanwendung“, S. 111 f.; 162.
Analytische Ethik, S. 131.
Die Sprache der Moral, S. 208.
Vgl. hierzu meine Ausführungen in der Festschrift für Nikisch, 1958, S. 292 ff. und Leenen, Typus und Rechtsfindung, S. 66 ff.
Vgl. dazu Rother, Sittenwidriges Rechtsgeschäft und sexuelle Liberalisierung, AcP 172, 498.
Hart, The Concept of Law, S. 121 ff. spricht von „the open texture of Law“, womit er ebenfalls einen solchen Beurteilungsspielraum meint.
Podlech (ArchöffR 95, S. 190) hat hiergegen eingewandt, der Versuch, „tatsächliche Unterschiede in Sachverhalten, die so subtil sind, daß sie durch die Maschen sowohl der Umgangssprache wie der juristischen dogmatisch-systematischen Argumentation hindurchfallen, mit dem groben und nur grundsätzliche Entscheidungen zulassenden Kriterium der Gerechtigkeit fassen zu wollen“, sei untauglich. Dies habe ich auch nicht gemeint. Vielmehr ging es mir nur um die Frage, ob der Richter in Grenzfällen, in denen die eine wie die andere Beurteilung „vertretbar“ ist, die Wahl davon abhängig machen darf, welche ihm eine nach seiner persönlichen Überzeugung „gerechte“ Entscheidung ermöglicht. Eine Objektivierung des Urteils kann dadurch allerdings nur so weit erreicht werden, als es auf diese Weise möglich ist, evident ungerechte Entscheidungen zu vermeiden. Im übrigen bleibt es dabei, daß in solchen Fällen die Persönlichkeit des Richters den Ausschlag gibt, wie Podlech sagt, „die Recht anwendenden Organe als Zufälligkeitsgeneratoren fungieren“.
Vgl. dazu Brusiin, Über die Objektivität der Rechtsprechung, S. 47 f.
Einführung in das juristische Denken, 5. Aufl., S. 132.
Ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit seien genannt: Bachof, JZ 1955, S. 99 ff.; JZ 72, S. 641; Ehmke, Ermessen und unbestimmter Rechtsbegriff im Verwaltungsrecht, 1960. Engisch, Einführung, S. 118 ff.; Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 9. Aufl., S. 80 ff.; Jesch, ArchöffR 82, S. 163; Klein, ArchöffR 82, S. 75; Rupp, Grundlagen der heutigen Verwaltungslehre, 1965, S. 200 ff.; Schima, Der unbestimmte Rechtsbegriff, in: Österreichische Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse, Jg. 1967, S. 185; Ule in Festschrift für Walter Jellinek, 1955, S. 309 f.
Hierzu vgl. die Entscheidung des gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe in NJW 72, 1411 — mit Anm. von Kloepfer — und den Aufsatz von Bachof in JZ 72, S. 641.
Einführung, S. 132. Vgl. auch seinen Beitrag über den Ermessensbegriff in der Festschr. für Karl Peters, 1974, S. 15.
Rechtsphilosophie, § 214. Obgleich, wie Hegel betont, der Idee nach für jede Tat nur eine Strafe die „gerechte“ ist. Sie läßt sich aber nicht bis auf die Stunde (Freiheitsentzug) oder den Pfennig (Geldstrafe), wie Hegel sagt, „vernünftig bestimmen“.
Vgl. meine Schrift „Die Methode der Auslegung des Rechtsgeschäftes“, 1930 (Neudruck mit Nachwort 1966), S. 34 ff.; mein Lehrbuch des Allgemeinen Teils, 7. Aufl., § 19, 1.
Vgl. dazu mein Lehrbuch des Allgemeinen Teils des deutschen bürgerlichen Rechts, 7. Aufl., § 19, II und die Literaturangaben zu § 19.
Vgl. dazu mein Lehrbuch des Allgemeinen Teils, 7. Aufl., § 29, 1 u. II.
Emilio Betti, Allgemeine Auslegungslehre als Methodik der Geisteswissenschaften, 1967, S. 281.
Dazu Leenen, Typus und Rechtsfindung, S. 147.
Leenen, a. a. O., S. 143 ff.
H. P. Westermann, Vertragsfreiheit und Typengesetzlichkeit im Recht der Personengesellschaften, S. 105 f.
in der (ersten) Festschrift f. Nipperdey, 1955, S. 264, 280.
Westermann, a. a. O., S. 103 ff. Kritisch W. Ott, Die Problematik einer Typologie im Gesellschaftsrecht, dargestellt am Beispiel des schweizerischen Aktienrechts, 1972.
Das hat Leenen, a. a. O., S. 162 ff. eingehend begründet.
So auch A. Kaufmann, Rechtsphilosophie im Wandel, S. 312.
Die Rechtsprechung hat lange geschwankt, ob der typische Architektenvertrag als Dienst- oder als Werkvertrag einzuordnen sei. Da sie darin einen begrifflichen Gegensatz sieht, vermag sie nur ein entweder-oder zu sehen. Nachdem sich der BGH entschlossen hatte, den Architektenvertrag, auch soweit der Architekt die Bauaufsicht übernommen hat, einheitlich als „Werkvertrag“ anzusehen, kamen ihm Bedenken wegen der Konsequenz dieser Einordnung für die Verjährung des Honoraranspruchs des Architekten. Die dreißigjährige Verjährungsfrist erschien ihm hierfür mit Recht als nicht angebracht. Deshalb legt er nun entgegen der bisherigen Rechtsprechung, den § 196 Nr. 7 BGB dahin aus, daß unter der „Leistung von Diensten“ im Sinne dieser Vorschrift auch Dienstleistungen aufgrund eines Werkvertrages zu verstehen seien (BGHZ 59, 163). Damit gibt er der Sache nach zu, daß ein Werkvertrag auch Züge eines Dienstvertrages einschließen kann.
Als eine solche Tatsache gilt jedoch nicht die Aussage eines Zeugen, Sachverständigen oder Beteiligten, wenngleich der Richter auch aus ihr seine Schlüsse zieht. Anders Engisch, Logische Studien, S. 64 ff., der auch solche Aussagen zu den „Indizien im weiteren Sinne“ zählt.
Koch/Rüssmann a. a. O., S. 285 ff., sprechen im 1. Fall von deterministischen, im 2. Fall von statistischen Erfahrungssätzen.
Vgl. Koch/Rüssmann, a. a. O., S. 287 ff., zur Geltung statistischer Erfahrungssätze dort S. 332 ff.
Blomeyer, Zivilprozeßrecht, § 66, 1: Rosenberg/Schwab, Zivilprozeßrecht, 14. Aufl., §113, 1.
Nach Koch/Rüssmann (a. a. O., S. 308) ist das eine Frage „des Maßes, mit dem man insbesondere Risikozuteilungen vorzunehmen wünscht“. Es handelt sich hier um das Risiko eines Fehlurteils; dieses hat der Richter so klein wie irgend möglich zu halten. Das Risiko, daß die vorgebrachten Tatsachen nicht dazu ausreichen, dem Richter die Überzeugung von der Richtigkeit der zu beweisenden Behauptung zu verschaffen, trägt alle Male der, den die Beweislast trifft.
Vgl. Heinrich Henkel, Strafverfahrensrecht, 2. Aufl., S. 269; Karl Michaelis in Festschrift für Ernst Rudolf Huber, 1973, S. 326 f.
Zum Begriff der Tatsache Mitsopoulos, Studi in Onore di Tito Canacini, 1984, S. 441.
Vgl. hierzu: Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 2. Aufl. 1960, S. 82 ff.; Henke, Die Tatfrage, 1966; Rechtsfrage oder Tatfrage — eine Frage ohne Antwort, ZZP 81, 196; Kuchinke, Grenzen der Nachprüfbarkeit tatrichterlicher Würdigung und Feststellung in der Revisionsinstanz, 1964; Mitsopoulos, La distinction du fait et du droit, in: Revue Hellénique de Droit international, 20. Jg. 1968, S. 3; Scheuerle, Beiträge zum Problem der Trennung von Tat- und Rechtsfrage, AcP 157, 1; Schwinge, Grundlagen des Revisionsrechts, 2. Aufl. 1960; Nierwetberg, JZ 83, 237.
Vgl. hierzu Henke, a. a. O., S. 188 ff.
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Larenz, K. (1992). Die Bildung und rechtliche Beurteilung des Sachverhalts. In: Methodenlehre der Rechtswissenschaft. Springer-Lehrbuch. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-08710-7_6
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