Zusammenfassung
In Indien kam, etwa zur Zeit des Sokrates, Buddha nach langer Meditation zu der Erkenntnis (Erleuchtung), daß das Leben jeder Kreatur nichts sei als »Durst (Lebensgier) und Mühsal«, und daß alles Streben und Tun zu schuldhaften Verstrickungen führt. Selbst gute Taten können nicht aus dieser Verstrickung befreien; bedeutet doch die Rettung eines Menschenlebens Mitschuld an dessen späteren bösen Taten. Konnte es einen gerechten Ausgleich in einer Welt voll Schuld, ein Entkommen aus der Verstrickung geben? Zeigte nicht der allem Leben eigene, leidvolle Zyklus von Leben und Tod die Herrschaft Shivas, des Erzeugers/Vernichters, über alles Lebendige und zugleich dessen enge Verwandtschaft? Konnte es irgendwo Gerechtigkeit geben? — Der ältere ägyptische Glaube, daß auf die Verstorbenen ein Richter warte, war wohl nicht nach Indien gelangt. Aber Gerechtigkeit — der Wunsch aller Menschen — war möglich, wenn Seelen, nach dem leiblichen Tod, nicht etwa nur in anderen Menschen, sondern auch anderen Tierformen wiedergeboren wurden. Dann konnte eine Seele, entsprechend ihrem Verhalten während des Lebens, in einer höheren oder niederen Lebensform wiedergeboren werden, etwa in einer Ameise, einem Tiger, oder einer niederen oder höheren Kaste, etwa einem unberührbaren Pariah oder einem Brahmanen. Die Zugehörigkeit zu einer Kaste war ja durch die Geburt bestimmt. Wenn eine Seele sich schließlich von allem irdischen Begehren und Streben befreit hat, dann konnte sie, von dem Zwang der Wiedergeburten erlöst, eingehen ins Nirwana, einen unbeschreibbaren Zustand seligen, außerirdischen Seins, in dem das Ich verloschen ist; wohl eine annehmbarere Vorstellung des Jenseits als die christliche, von ewig jubilierenden Engeln, deren Flügel der griechischen Siegesgöttin entlehnt waren, oder die des islamischen Himmelsharems für tapfere Männer.
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Martin, H. (1992). Polytheistische Weltbilder. In: Menschheit auf dem Prüfstand. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-08660-5_21
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