Zusammenfassung
In der Einführung wurden die Aufgaben der Wissenschaft von der Sozialpolitik bereits dargestellt. In diesem Kapitel sollen aus diesem Aufgabenkomplex zwei Fragestellungen herausgegriffen und mit Hilfe der theoretischen Analyse zu beantworten versucht werden:2
-
1.
wodurch wurde und wird Sozialpolitik notwendig (Theorie der Entstehungsbedingungen staatlicher Sozialpolitik);
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2.
wodurch wird die Entwicklung der Sozialpolitik in einer Gesellschaft bestimmt (Theorie der Entwicklungsbedingungen).
Eine ausführliche Darstellung dieser Theorie findet sich bei Lampert 1990b, S. 9 ff.
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Literatur
Eine ausführliche Darstellung dieser Theorie fmdet sich bei Lampert 1990b, S. 9 ff.
Zwei weitere zentrale Fragestellungen, nämlich die Frage nach den Wirkungen der Sozialpolitik und nach den Grenzen der Sozialpolitik werden an anderen Stellen aufgegriffen (S. 290 fi: und S. 435 ff. bzw. S. 449 ff.).
Vgl. dazu und zur Widerlegung der Auffassung von der Theoriearmut der wissenschaftlichen Sozialpolitik die ausführlichere Darstellung bei Lampert/Bossert 1987 und Lampert 1990b, S. 14 ff. Zu den Leistungen und Grenzen einer “ökonomischen Theorie der Sozialpolitik” vgl. Lampert 1992d.
Vgl. dazu den Nachweis bei Lampert/Bossert 1987, S. 117 ff. und Lampert 1990b, S. 43 fï:
Vgl. dazu vor allem Bundesministerium fir Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.), 2001.
Vgl. dazu Flora/Alber 1984, S. 37 ff., insbes. S. 38, die in ihrer Theorie wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung auf Durkheim zurückgreifen. In Europa lag nach Wolfram Fischer eine wirtschaftliche Grundbedingung für die Entstehung der neuzeitlichen Sozialpolitik in der Ablösung der agrarischkleingewerblich-hausindustriellen Produktionsweise durch die industriell-großbetrieblich bestimmte Wirtschaft W. Fischer 1979, S. 91 ff., insbes. S. 101.
Ein Ausbau erscheint erforderlich, weil sowohl bei Otto v. Zwiedineck-Südenhorst als auch bei Peter Flora und Jens Alber,deren Analyse sich nur auf das System sozialer Sicherheit bezieht, die durch den entwicklungsbedingten gesellschaftlichen Strukturwandel verursachten sozialpolitischen Bedarfe nicht systematisch erfaßt und beide Ansätze nur auf “kapitalistische” Gesellschaften bezogen sind.
Daß Widmaier den Terminus “Bedürfnis”, nicht den Begriff “Bedarf’ verwendet, sollte als im Grunde unerheblich betrachtet werden. Ich ziehe den Ausdruck “Bedarf’ vor, weil er in höherem Maße die Notwendigkeit einer Deckung anzeigt als ein Bedürfnis.
Vgl. dazu auch Bethusy-Huc 1976, S. 287 f., die darauf verweist, daß die Funktionäre des sozialen Sicherungsapparates aus Gründen der Machtausweitung an zunehmender Befriedigung des Bedürfnisses der Primärgruppen nach Sicherheit und steigender Abhängigkeit ihrer Mitglieder von den Bindungen an diesen Apparat interessiert sind.
Die skizzierte Theorie gilt nicht nur für Nationalstaaten mit einem Träger der Sozialpolitik, sondern auch für nationalstaatliche Teilgebilde (z. B. Under und Gemeinden) und für Staatengemeinschaften, wie etwa die Europäische Gemeinschaft. In diesen FAllen existieren mehrere Träger sozialpolitischer Verantwortung. Für jeden dieser Träger ist eines der in Abschnitt C.3 dargestellten Determinantensysteme mit einer spezifischen Ausprägung wirksam.
Vgl. dazu Lampert/Bossert 1987, S. 117 ff. Vgl. auch den Überblick Ober ökonomische Begründungen für staatliche Sozialpolitik in Rolf/Spahn/Wagner 1988, S. 21 ff. sowie weitere Beiträge in diesem Sammelband.
Eine Auflistung sozialpolitischer Bedarfe unter dem Aspekt sozialer Sicherheit für verschiedene Generationen (ältere, mittlere, junge, ungeborene) findet sich bei Hauser 1988, S. 147 ff.
Vgl. dazu Winterstein 1977, S. 300 sowie Kapp 1958, S. 41 ff. und S. 141 ff.
Vgl. dazu Weisser 1956, S. 396 ff. sowie Schbnbäck 1988, S. 45 ff.
Vgl. dazu Briefs 1926, S. 200 ff. und Kapp 1958, S. 141 ff.; Heimann 1980, S. 127 ff.; Kleinhenz 1979a, S. 8 ff.
Vgl. dazu Briefs 1926, S. 145 f.; v. Nell-Breuning 19686; Schreiber 1961, S. 601.
Vgl. etwa Mackenroth 1952, S. 56 ff. sowie Wingen 1986.
Vgl. dazu auch den systematischen Überblick über ökonomische Begründungen der Sozialpolitik, in: Rolf/Spahn/Wagner 1988, S. 21 bis 30. Dort werden als Gründe ßk sozialpolitische Eingriffe näher erläutert: 1. die Bereitstellung öffentlicher Güter; 2. die Existenz von Extemalitäten; 3. die Existenz von Risiken und Ungewißheit bei unvollständiger Information; 4. die Offenheit des Arrow-DebreuModells in bezug auf das Verteilungsproblem; 5. das Fehlen von Märkten und dysfunktionale Märkte; 6. Ineffizienzen durch die Erhebung öffentlicher Abgaben.
Vgl. zur (nicht rein marktmäßigen) Versicherbarkeit von Risiken Schmähl 1985; Eisen 1988, S. 117 ff.; Berthold 1988, S. 339 ff.
So auch Watrin 1977, S. 963 ff., insbes. S. 973: “Aus vertragstheoretischer Sicht kann der Staat mithin als eine Einrichtung aufgefaßt werden, deren sich die Beteiligten bedienen, um jene Güter zu erstellen, die sie zwar wünschen, deren Erzeugung über die spontanen Kräfte des Marktes jedoch aus ökonomischen oder politischen Gründen nicht stattfindet oder unmöglich ist”. Allerdings ist mit diesem vertragstheoretischen Aspekt nur die Notwendigkeit der Deckung eines Mindestbedarfs an sozialer Sicherheit zur Sicherung der Existenz der Gesellschaft erklärbar.
Die Formulierung “Deckung mit Hufe staatlicher Aktivitäten” soll der Tatsache Rechnung tragen, daß die sozialpolitischen Gitter und Dienstleistungen nicht in allen Fällen vom Staat produziert und verteilt werden müssen. Je nach der Wirtschaftsordnung, den Zielen der Sozialpolitik, den in einem System verfolgten Prinzipien der Sozialpolitik und der Funktionsfähigkeit marktwirtschaftlicher Systeme kann es auch genügen und sozialpolitisch effizient sein, wenn der Staat Aufgaben an halbstaatliche oder/und nicht staatliche Träger delegiert und sich - z. B. im Bereich der sozialen Sicherung - mit der Schaffung von Rahmenbedingungen, z. B. mit der Festlegung einer Versicherungspflicht und der Definition von Mindestnormen der Sicherung (far Versicherte und Versicherer), begnügt.
In der Abbildung sind die durch Rechtecke gekennzeichneten sekundären Determinanten aus Gründen der Übersichtlichkeit nicht vollständig wiedergegeben.
Dieses Wertesystem ist seinerseits wieder durch (tertiäre) Determinanten beeinflußt, wie z. B. Einzelpersönlichkeiten - man denke an den Einfluß von Robert Owen, Ernst Abbé, Bischof Ketteler, Johann Hinrich von Wichern und Karl Marx auf das sozialpolitisch relevante Wertesystem -, die Ideologie sozialer Gruppen und Verbände und - nicht zuletzt - normative Wissenschaft. Der Regreß soll hier aber nicht weitergeftthrt werden.
Vgl. dazu die Arbeit von Higgins 1981, Kap. 5-7. Zum ethischen Gehalt der Sozialen Marktwirtschaft vgl. Gutmann 1989.
Für die Entstehung der neuzeitlichen Sozialpolitik in Europa spielte - wie empirische Untersuchungen vielfdltig belegen - die soziale Bewegung, vor allem die Arbeiterbewegung, eine herausragende Rolle. Vgl. dazu S. 51 ff. und die dort angegebene Lit.
Vgl. dazu Flora/Alber 1984, S. 43 f. sowie Hockerts 1983, S. 141 ff., insbes. S. 153 und Hockerts (Hg.) 1998.
Vgl. dazu Wilensky 1981, S. 185 ff., insbes. S. 189 ff., der die Wohlfahrtsstaaten nach korporatistischen Demokratien (z. B. Niederlande, Schweden, Bundesrepublik), Korporatismus ohne volle Partizipation der Arbeitnehmer (Japan, Frankreich) und Ländern mit schwach ausgeprägtem Korporatismus (USA, Canada) einteilt und mit abnehmender korporatistischer Ausprägung abnehmenden sozialpolitischen Konsens konstatiert.
Z. B. stellten Flora/Alber 1984, S. 43 fest, daß Länder mit starken protestantischen Staatskirchen sich früher fir die öffentliche Wohlfahrt verantwortlich fthlten als religiös gemischte und katholische Linder, nder, in denen private Wohltätigkeit und das Subsidiaritätsprinzip Tradition haben.
Paradebeispiel fir eine außerordentlich hohe sozialpolitische Problemlösungsfâhigkeit aufgrund natürlicher Ressourcen sind die erdölfbrdemden arabischen Staaten in den 70er und 80er Jahren.
Vgl. dazu den Überblick über zahlreiche einschlägige empirische Untersuchungen bei Alber 1979, S. 123 ff., der zeigt, daß ein positiver Zusammenhang zwischen Sozialprodukt und Sozialleistungsquote besteht, wenngleich bei geringen Unterschieden im Entwicklungsniveau der Länder keine deutliche Tendenz besteht, daß reichere Länder einen größeren Teil des Sozialproduktes für soziale Zwecke aufwenden als weniger reiche. Aber angesichts der Vielzahl der die Sozialpolitik beeinflussenden Determinanten ist dies nicht überraschend, sondern zu erwarten.
Vgl. dazu den Überblick über Wirkungen des Systems sozialer Sicherung S. 288 ff.
Vgl. dazu Thiemeyer 1975b, S. 540 ff.; Hayek 1971, S. 46 f und Lampert 1984c, S. 52 ff.
Vgl. dazu die empirische Überprüfung der einschlägigen Theorie von Stein Rokkan bei Flora/Alber 1984, S. 37 ff. sowie Widmaier 1976, S. 66 ff.
Vgl. dazu Flora/Alber 1984, S. 47 und Hockerts 1983, S. 153 f.
Vgl. dazu die Bürokratietypologie bei Downs 1968 sowie Jackson 1982; Leuenberg/Ruffmann 1977; Roppel 1979.
Vgl. zu den Wirkungen der zuletzt genannten Bürokratieeigenschaften y. Bethusy-Huc 1976, S. 256 ff.
Es gibt zahlreiche Beispiele aus der deutschen Sozialpolitikgeschichte, die belegen, daß die Ministerialbürokratie innovative Anstöße gab. Vgl. dazu S. 49 f. und die dort zitierte Literatur.
Ein Beispiel flir die Wirksamkeit dieser Determinante ist der Einfluß der wohlfahrtsstaatlich-patriarchalischen Tradition des Absolutismus in Deutschland schon vor Einffihrung des sozialstaatlich ori-entierten Verfassungsstaates. Vgl. dazu Grimm 1983, S. 41 ff, insbes. S. 53.
Vgl. dazu Bellah u. a. 1987 sowie Döring/Hauser 1989.
In den Fällen 1 und 2 handelt es sich aufgrund jeweils geringer Problemlösungsfähigkeit und niedriger Problemlösungsdringlichkeit um Gesellschaften ohne größere strukturell-funktionelle Differenzierung, also um vorindustrielle Gesellschaften mit nur geringem Bedarf an staatlicher Sozialpolitik. Die Kombination hoher Problemlösungsfähigkeit, also industrieller Effizienz, mit geringer Problemlösungsbereitschaft bei gleichzeitiger niedriger Problemlösungsdringlichkeit (Fall 5) erscheint widersprüchlich, weil bei großer wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit geringer sozialpolitischer Bedarf relativ problemlos zu decken, also eine niedrige Problemlösungsbereitschaft nicht begründbar ist. Ähnlich inkonsistent ist die Kombination des Falles 8, weil bei hoher sozialpolitischer Handlungsbereitschaft und hoher Problemlösungsfähigkeit die Problemlösungsdringlichkeit nicht hoch sein kann.
Diese Fälle decken theoretisch auch Agrargesellschaften mit hohem sozialpolitischem Bedarf ab. Da es aber in dieser Arbeit in erster Linie um die neuzeitliche staatliche Sozialpolitik geht, bleiben diese Fälle außer Betracht.
Vgl. dazu auch die von Flora/Alber 1984, S. 47 formulierten Hypothesen 1 und 2 über den Einfluß politischer Systeme auf die Sozialpolitik. Hypothese 1 lautet: Konstitutionelle Monarchien mit begrenztem Stimmrecht und ständestaatlicher Struktur neigen dazu, relativ undifferenzierte und lokalisierte Systeme der Armenfürsorge in paternalistischer Tradition zu entwickeln. Die sozialen Hilfen beruhen auf Wohltätigkeit, nicht auf Rechtsansprüchen und werden gewöhnlich in nicht monetärer Form und beschränkt auf Arbeitsunfähige gewährt. Hypothese 2 besagt: Bürgerliche Demokratien mit einem nach Besitz, Steuerleistung oder sozialem Status begrenzten Stimmrecht neigen dazu, Interventionen allgemein und öffentliche Hilfen im besonderen zu beschränken. Sie können Sozialausgaben trotz steigender sozialer Nöte reduzieren. Sie weisen eher undifferenzierte und lokalisierte Hilfssysteme auf, die auf Arbeitsunfähige beschränkt werden. Sie lehnen Zwangsversicherungen ab, unterstützen jedoch freiwillige Sicherungssysteme. Die Empfänger sozialer Leistungen werden als Bürger zweiter Klasse betrachtet.
Diesem Fall entspricht die Hypothese 3 von Flora/Alber 1984, S. 47, die besagt: Massendemokratien entwickeln umfassende, differenzierte und zentralisierte Wohlfahrtssysteme, die auf sozialen Grundrechten und Zwangsmitgliedschaften beruhen. Ursachen daftr sind die im Vergleich zu Monarchien und bürgerlichen Demokratien entwickelteren Arbeitnehmerorganisationen sowie der Wettbewerb der Parteien um Stimmen. Innerhalb der Massendemokratien können sich aufgrund unterschiedlicher Parteiensysteme und aufgrund von Unterschieden in den Bürokratien beachtliche Unterschiede der Sozialpolitik ergeben.
Diesem Fall entspricht die Hypothese 4 von Flora/Alber 1984, S. 47: Konstitutionelle Monarchien mit umfassendem Wahlrecht neigen eher zur Entwicklung umfassender, differenzierter und zentralisierter Wohlfahrtssysteme, die auf sozialen Grundrechten und Zwangsversicherung beruhen. Diese Systeme sind eine Folge stark paternalistischer und bürokratischer Traditionen. In ihnen gibt es einen relativ starken politischen Druck von seiten der Arbeiterschaft, der zu Wohlfahrtseinrichtungen führt. Ziel der Sozialpolitik ist vorrangig die Abwehr weitergehender Partizipationsrechte und eine Erhöhung der Loyalität der Arbeiterklasse gegenüber dem autoritären Staat.
Vgl. dazu D. Zöllner 1963, Cutright 1965, S. 537 ff., Pryor 1968, Rimlinger 1971, Kaim-Caudle 1973, Wilensky 1975, Alber 1979, Flora/Alber 1984, J. Higgins 1981, Köhler/Zacher 1981 und Barr 1992, S. 758 ff.
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Lampert, H., Althammer, J. (2001). Grundzüge einer Theorie staatlicher Sozialpolitik. In: Lehrbuch der Sozialpolitik. Springer-Lehrbuch. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-08337-6_6
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