Skip to main content

„Rational-choice“: eine Zwischenbilanz

  • Chapter
  • First Online:
Neue Politische Ökonomie einfacher Gesellschaften
  • 1361 Accesses

Zusammenfassung

Die Kritik am Modell des Homo oeconomicus – dem Hauptbestandteil der neoklassischen Handlungstheorie – wird kritisch resümiert und gleichzeitig ein realistischeres Modell des strategischen Handelns von Akteuren in Wirtschaft, Politik und Kultur vorgestellt. Vor allem muss die Erklärung von Akteurhandeln auch die strukturelle Ungleichverteilung von Handlungsressourcen im sozialen Raum berücksichtigen, die nicht nur die Handlungsmittel, sondern auch die Handlungsoptionen und somit die Strategien der Akteure bestimmen.

This is a preview of subscription content, log in via an institution to check access.

Access this chapter

Chapter
USD 29.95
Price excludes VAT (USA)
  • Available as PDF
  • Read on any device
  • Instant download
  • Own it forever
eBook
USD 44.99
Price excludes VAT (USA)
  • Available as EPUB and PDF
  • Read on any device
  • Instant download
  • Own it forever
Softcover Book
USD 59.99
Price excludes VAT (USA)
  • Compact, lightweight edition
  • Dispatched in 3 to 5 business days
  • Free shipping worldwide - see info

Tax calculation will be finalised at checkout

Purchases are for personal use only

Institutional subscriptions

Notes

  1. 1.

    Zum „Rational-choice“-Ansatz vgl. u. a. Kunz (2004), Hill (2002), Simon (1993), Elster (1986, 1989, 2007), Hollis (1991, 1995), Kirchgässner (1997), Abell (2001), Diekmann/Voss (2004) und Gilboa (2010).

  2. 2.

    Die Theorie des subjektiv erwarteten Nutzens bildet den Kern der neoklassischen Mikroökonomik. Simon (1993: 21 f.) fasst sie folgenderweise zusammen: 1) Akteure haben alternative Strategien, die mit einer objektiven Wahrscheinlichkeit zu bestimmten Ereignissen und Zuständen führen; 2) eine kardinale Nutzenfunktion rangiert die möglichen Ereignisse und Zustände; 3) Akteure wählen jene Strategie, die mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit zum maximalen Nutzen führt.

  3. 3.

    Transaktionskosten entstehen bei der Informationsbeschaffung (über mögliche Tauschpartner und ihre Vertrauenswürdigkeit, die Verfügbarkeit und Qualität von Gütern), beim Aushandeln (von Austauschmodalitäten und Tauschäquivalenzen) sowie beim Überwachen und bei der Sanktionierung von Eigentumsrechten und Verträgen (Kaufvertrag, Kreditvergabe, Durchsetzung von Eigentumsrechten, vgl. ausführlich hierzu Abschn. 10.3.1).

  4. 4.

    Smith/Winterhalder (1992: 50) gehen von folgenden Annahmen aus: 1) ein Akteur, der sich zwischen verschiedenen Strategien entscheidet, 2) eine Auswahl möglicher Strategien, die einer bestimmten Anzahl von Optionen entspricht, 3) eine Maßeinheit zur Bestimmung der Vor- und Nachteile von alternativen Optionen, hier in Kalorien, die eine kardinale Präferenzhierarchie ermöglichen, 4) Beschränkungen, welche die möglichen Strategien und ihre jeweilige Auszahlung bestimmen.

  5. 5.

    Hierzu Kunz (2004: 12, 33 ff.), Hill (2002: 40–54), Kirchgässner (1997: 8), Frey (1990) und Elster (1987: 22–51). Esser (1993: 238) fasst die wesentlichen Punkte zusammen, wenn er schreibt, „dass der Akteur sich Handlungsmöglichkeiten, Opportunitäten bzw. Restriktionen ausgesetzt sieht; dass er aus Alternativen seine Selektionen vornehmen kann; dass er immer eine Wahl hat; dass diese Selektionen über Erwartungen einerseits und Bewertungen andererseits gesteuert sind; und dass die Selektion des Handelns aus den Alternativen der Regel der Maximierung folgt“.

  6. 6.

    Gemäß Bourdieu müssen Sozialwissenschaften immer voraussetzen, dass die Menschen „gute Gründe“ haben, so und nicht anders zu handeln (Satz vom zureichenden Grund). Das heißt nicht, dass sie „rational“ im Sinne des Homo oeconomicus sind, sondern vielmehr, dass es keine grundlosen Handlungen gibt und alle Akteure Interessen haben und Absichten verfolgen (Bourdieu 1998: 139 f.). Insofern entfällt auch Paretos Unterscheidung zwischen „logischem und nicht-logischem Handeln“ (1916, § 145 bis 159). Nach Pareto entspricht bei „logischem Handeln“, für das der Homo oeconomicus steht, die subjektive Absicht den objektiven Möglichkeiten. Beim „nicht-logischen Handeln“, was allerdings nicht „unlogisch“ bedeutet, ist entweder die subjektive Seite inadäquat oder abwesend, wie bei emotionalen Reflexhandlungen, die aber durchaus zu vorteilhaften Resultaten führen können, oder die subjektive Absicht ist vorhanden, aber die objektive Wirkung fehlt, wie bei magischen Handlungen, ein Beispiel, gegen das EthnographInnen allerdings zahlreiche Gegenargumente anführen könnten (vgl. zum Voodoo-Tod vgl. Cannon 1942, Lex 1974, Gomez 1982, Sternberg 2002).

  7. 7.

    Gemäß Kirchgässner (1997: 8) umfasst die „Rationalitätsannahme“ folgende Elemente: Individuen haben Zielvorstellungen (Intentionen bzw. Präferenzen); sie unterliegen Einschränkungen (Restriktionen), die den Handlungsspielraum definieren, sie sind über Zielvorstellungen oft nur unvollständig informiert, und sie entscheiden sich für jene Handlungsoption, die ihren Präferenzen am meisten entspricht. „Ohne eine solche […] Rationalitätsannahme lässt sich das Verhalten von Menschen nicht verstehen. Dies aber bedeutet, dass der ökonomische Ansatz derjenige einer verstehenden Sozialwissenschaft ist. Man versucht, menschliches Verhalten zu verstehen, indem man es mit Hilfe eines Modells rationalen Verhaltens erklärt. Damit wird im Rahmen dieser Theorie der Gegensatz zwischen Verstehen und Erklären aufgelöst“ (ebd.: 8). Es sollen aber nicht das Verhalten von einzelnen Individuen, sondern Regelmäßigkeiten im Verhalten einer größeren Anzahl von Mitgliedern einer Kategorie (z. B. Konsumenten, Produzenten oder Wähler) erklärt werden (ebd.: 9). Das Modell des zweckrationalen Handelns ermöglicht somit, individuelles Handeln zu verstehen und es – als Korrespondenz zwischen Verhaltensmustern und Anreizstrukturen – ursächlich zu erklären.

  8. 8.

    Ähnlich argumentiert Becker (1976: 6), demzufolge es nicht eine Veränderung der Präferenzen, sondern der Kosten bzw. der Einschränkungen ist, die man nicht berücksichtigt hat, wenn man ein bestimmtes Verhalten nicht erklären kann: Wenn ein Haushalt oder eine Firma eine „offensichtlich günstige Gelegenheit“ nicht ausnutze, sei das nicht irrational, denn laut dem Prinzip der Nutzenmaximierung gehe man stets von der „Rationalität“ der Akteure aus. Vielmehr müsse nach den Kosten, vor allem den Opportunitätskosten, gesucht werden, die die Akteure so und nicht anders handeln ließen.

  9. 9.

    In den Alltagskonzeptionen in unseren Breitengraden bestehen Menschen (mindestens) aus Körper, Geist (Verstand), Seele (Emotionen) und (allenfalls) Gewissen. In der Psychologie wird noch weiter differenziert, so etwa in Es, Ich und Über-Ich in der freudschen Psychoanalyse.

  10. 10.

    Malinowski (1926: 32) schreibt: „Wenn der Eingeborene irgendwie ohne Prestigeverlust oder ohne Verlust eines in Aussicht stehenden Gewinnes von seinen Pflichten loskommen kann, so tut er es, genau so, wie ein zivilisierter Geschäftsmann es zu tun pflegt.“ Leach (1954: 8) stellt fest: „Every individual of a society, each in his own interest, endeavours to exploit the situation as he perceives it and in so doing the collectivity of individuals alters the structure of society itself.“ Und Boissevain (1974: 6) meint: „… he [the individual actor, J.H.] is constantly trying to better or to maintain his position by choosing between alternative courses of action. But since he is dependent on others, it is impossible for him to achieve his own self-interest unless he takes others into account and can demonstrate that his action in some way benefits or does not harm others.“

  11. 11.

    Die strategische Rationalität ist die Fähigkeit von Akteuren in Konstellationen strategischer Interaktion, die Entscheidungen der anderen Akteure zu antizipieren, aber auch ihre Fähigkeit, von möglichen Handlungsergebnissen das Beste zu wählen (Scharpf 1991: 282 f.).

  12. 12.

    Vergleiche hierzu Kahneman/Tversky (1979, 2000) sowie Kahneman (2003, 2012), ferner Camerer/Loewenstein (2004), Englerth (2004), Wilkinson (2007), Akerlof/Shiller (2008), Frey/Eichenberger (1994), Thaler et al. (1997) und Thaler/Sunstein (2010).

  13. 13.

    Akerlof/Shiller (2008) nennen verschiedene solcher Faustregeln: „Man meint etwas mit Vorteil (nicht) tun zu können, weil es auch (nicht) andere tun.“ „Man kann sich leisten, etwas zu tun, was man eigentlich nicht tun sollte, was man aber tun kann, weil auch andere nicht dabei erwischt wurden, bzw. weil andere gutgläubig und zu vertrauensselig sind und man sie auf legale Weise hintergehen kann“ oder „dass einem etwas zusteht, weil es auch anderen zusteht.“

  14. 14.

    Cancian (1980: 173) hält fest, dass in der neoklassischen Ökonomik zwischen Akteuren lediglich eine „aggregative interdependence“ bestehe, d. h. Akteure interagierten nicht miteinander, sondern orientierten sich jeder für sich an Preisen. In einer alternativen Ökonomik hingegen interagieren die Akteure auch miteinander. Cancian spricht hier deshalb von „relational interdependence“. Faysse (2005: 250) schreibt: „Hence, according to this approach, agents are not able to estimate the efficiency of all possible strategies, but they can see the strategies used by others, assess their results and they can change their minds.“

  15. 15.

    Es ist durchaus „rational“, sich nicht nur an Preisen, sondern auch an anderen Akteuren zu orientieren, wie Keynes (1936: 135 ff.) zeigt. So ist es etwa für einen Anleger durchaus „rational“, Aktien zu kaufen, die er – aus guten Gründen: weil er besser informiert ist– zwar für suboptimal hält, die aber von den anderen Investoren in beträchtlichem Ausmaß gekauft werden. Weil dadurch die Nachfrage nach dieser „schlechteren“ Aktie steigt, steigt auch ihr Wert und damit der Gewinn. Diese „self-fulfilling prophecy“ ist die Pointe des „Herdentriebes“, der alles andere als ein irrationales Phänomen ist (Skidelsky 2010: 123, 138). Dies verweist auf spieltheoretische Zusammenhänge der strategischen Interdependenz (vgl. Kap. 6).

  16. 16.

    Das Modell der Verhaltensrationalität besagt, dass: 1) keine weitreichenden Entscheidungen, sondern nur solche zwischen wenigen, kurzfristigen Alternativen und 2) ohne Kenntnis um die Wahrscheinlichkeit des Eintretens möglicher Folgen getroffen werden. 3) Akteure orientieren sich an Bedürfnissen oder an Problemen, die vom sozialen Umfeld gestellt und befriedigt bzw. gelöst werden müssen, nicht an einer umfassenden Nutzenfunktion (Simon 1993: 27–33).

  17. 17.

    Die „intuitive Rationalität“ ist integraler Bestandteil des Verhaltensmodells. Es wird davon ausgegangen, dass Individuen durch Erfahrungen eine große Zahl von Entscheidungssituationen speichern. Dieses intuitive Wissen wird dann bei neu anstehenden Entscheidungen aktiviert, wobei in einer wiedererkannten Situation intuitiv die richtige Entscheidung getroffen wird. Begrenzte Information, Inkonsistenz der Präferenzen, kurzfristiger Entscheidungshorizont, geringe Anzahl Alternativen und habitualisierte Entscheidungskriterien sind die Bestandteile des Modells der intuitiven Rationalität (Simon 1993: 34–41, 44 f.).

  18. 18.

    Je ungewohnter die Situation ist und je wichtiger die Entscheidungen sind, desto eher werden Akteure sich genau überlegen, was sie tun sollten. Je vertrauter die Situation und je weniger wichtig Entscheidungen sind, desto eher kann man sich auf Routinen verlassen (Hill 2002: 53).

  19. 19.

    Williamson (2000: 600 f., 2002: 174) fasst die Verhaltensannahmen des rationalen Akteurs zusammen: eingeschränkte Information aufgrund von Unsicherheit und limitierte Kalkulationskapazität, auf Eigennutz bedachtes strategisches Handeln (opportunism with guile) sowie die Fähigkeit zu Planung und Voraussicht (anticipation). Zudem wollen Akteure – indem sie soziale Beziehung stärken und institutionelle Regeln einhalten – verlässliche Handlungserwartungen bilden können (Ostrom 1998: 14).

  20. 20.

    „Wie jedes Handeln kann auch das soziale Handeln bestimmt sein 1. zweckrational: durch Erwartungen des Verhaltens von Gegenständen der Außenwelt und von andren Menschen und unter Benutzung dieser Erwartungen als Bedingungen oder als Mittel für rational, als Erfolg, erstrebte und abgewogene eigne Zwecke, 2. wertrational: durch bewussten Glauben an den – ethischen, ästhetischen, religiösen oder wie immer sonst zu deutenden – unbedingten Eigenwert eines bestimmten Sichverhaltens rein als solchen und unabhängig vom Erfolg, 3. affektuell, insbesondere emotional: durch aktuelle Affekte und Gefühlslagen, 4. traditional: durch eingelebte Gewohnheit“ (Weber 1922: 12).

  21. 21.

    Anders ließen sich weder Faschismus noch andere, moralisch unakzeptable Aktivitäten wie Krieg, Kannibalismus oder Selbstmordattentate gar nicht erklären (Helbling 2011). Simon (1993: 15–20) macht den Unterschied zwischen „Rationalität“ der Zwecke und Zweckrationalität am Beispiel von Hitlers "Mein Kampf" deutlich. Hitler und das Naziregime gingen – bezogen auf ihre Werte und Handlungsziele – durchaus zweckrational vor. Worin sie sich jedoch von anderen, ebenso rationalen Akteuren unterschieden, war nicht die Kalkülrationalität, sondern es waren die Wert- und Zweckprämissen ihres Handelns (z. B. Werte wie Menschenrechte, Umgang mit politischen Gegnern und demokratische Spielregeln). Werthaltungen kommen zwar auch in der Wissenschaft vor (in den Fragestellungen und in der Argumentation sowie bei der Verwertung von Wissenschaft): Werturteile zählen jedoch nicht als wissenschaftliche Urteile, weil es sich um Soll- und nicht um Ist-Aussagen handelt (zur Werturteilsfreiheit, vgl. Weber 1904).

  22. 22.

    Das heißt allerdings nicht, die Position von Parsons/Smelser (1956) zu teilen, wonach die ökonomischen (und politischen) Präferenzen (Interessen) auf gemeinsamen Werten und Normen basieren (Demeulenaere 2015a: 392). Vielmehr hängen die ökonomischen und politischen Präferenzen (Interessen) von Akteuren von deren unterschiedlichen Handlungsressourcen bzw. ihrer unterschiedlichen Position im sozialen Raum ab (Bourdieu 1983, 1987).

  23. 23.

    Wie wir bereits gesehen haben, entscheiden sich Akteure meist, ohne zu kalkulieren, nach einer intuitiven Erfassung einer einschlägigen Situation und handeln dann automatisch. Nur wenn dieser Automatismus nicht mehr oder noch nicht erfolgreiches Handeln ermöglicht, müssen Optionen verglichen, abgewogen und kalkuliert werden (Hill 2002: 53).

  24. 24.

    Radikaler formuliert dies Hume (1739: 153), wenn er schreibt: „Die Vernunft ist nur ein Sklave der Affekte und soll es sein; sie darf niemals eine andere Funktion beanspruchen, als die, denselben zu dienen und zu gehorchen“.

  25. 25.

    Es geht ja beim Modell des rationalen Entscheidens nicht darum, die Bedingungen anzugeben, unter denen Handlungen als „rational“ bezeichnet werden können. Vielmehr geht es um eine positiv-empirische Untersuchung der strukturellen Anreize, auf die – unter Annahme zweckrationalen Handelns – real handelnde Akteure systematisch reagieren.

  26. 26.

    „Starke Reziprozität“ erkläre sich zudem mit dem Prinzip der Fairness und der Abneigung gegen Ungleichheit (2007: 49). Damit wird allerdings das Prinzip der „starken Reziprozität“ lediglich umschrieben und in zwei abstraktere Prinzipien gefasst, die angeblich das altruistische Verhalten bestimmen, wie es in der „starken Reziprozität“ zum Ausdruck kommt.

  27. 27.

    Vgl. hierzu Ensminger (2004: 358), Chibnik (2011: 114), Chamberlin (1948: 95), Levitt/List (2007); zu einmal gespielten Verhandlungsspielen vgl. Schelling (1960) in Abschn. 6.4.2.

  28. 28.

    Smith (1776: 17) schreibt: „Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, dass sie ihre eigenen Interessen [self interest] wahrnehmen.“ Bereits 1759 hat sich Smith zudem mit dem Problem des „Altruismus“ – einer Verhaltensweise, die ökonomisch mehr kostet als sie abwirft – am Beispiel von Geldspenden für „soziale Zwecke“ beschäftigt. Smith argumentiert, dass moralisch handelnde Akteure zwar ökonomische Einbussen (Spendengelder) in Kauf nehmen, diese jedoch mit dem symbolischen Gewinn verrechnen: Moralisches und grosszügiges Verhalten wird nur dann gewählt, wenn die daraus entstehenden ökonomischen Kosten (Einkommenseinbussen) kleiner sind als der Zugewinn an Reputation und sozialer Anerkennung. Weil ökonomische Kosten mit symbolischen Gewinnen verrechnet werden, gibt es gar keinen „Altruismus“. Somit findet sich bereits bei Adam Smith eine Theorie des sozialen Tausches, die von der prinzipiellen Vergleichbarkeit von politischen, symbolischen und wirtschaftlichen Werten und von der Kalkulierbarkeit der Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Kapitalsorten ausgeht.

  29. 29.

    Die folgende Geschichte von „Himmel und Hölle“ veranschaulicht sehr schön den Unterschied zwischen Egoismus und (klugem) Eigeninteresse, das Kooperation offensichtlich nicht ausschliesst. „Ich, Rabbi Mendel, wünschte mir, Himmel und Hölle kennen zu lernen. Da erschien der Prophet Elias und führte mich in die Hölle. Da war ein grosser langer Tisch, an dem die Menschen sassen. Ein grosses Feuer brannte im Raum, der sonst leer und kahl war. Auf dem Tisch standen dampfende Suppenschüsseln, aus denen die Menschen zu essen versuchten. Aber was ich jetzt sah, war entsetzlich: Die Menschen hatten meterlange Löffel und waren nicht in der Lage, diesen Löffel an den Mund zu führen. So verschütteten sie die Suppe, stiessen die Suppenschüsseln um, es herrschte ein entsetzliches Chaos. Nicht aber wurden sie satt und die Begierde verbrannte ihr Herz. „Genug, genug!“ rief ich da und bat den Propheten, mich schnell von diesem Ort wegzuführen und mir den Himmel zu zeigen. Der Prophet führte mich hin in Sekundenschnelle. Aber welch ein Erstaunen ergriff mich! Ich sah wieder einen grossen Raum! Ein Feuer brannte auch hier! Ein grosser langer Tisch stand da, an dem die Menschen sassen, auf dem Tisch dampfende Suppenschüsseln und meterlange Löffel – aber statt das Unmögliche zu versuchen, mit diesen Löffeln selbst zu essen, speisten sie sich gegenseitig. So wurden alle satt, sie verschütteten nichts und ihre Herzen schwangen in Harmonie und Frieden. Jetzt erkannte ich den Unterschied zwischen Himmel und Hölle. Ergriffen dankte ich dem Propheten, der die Verzauberung löste, und ich fand mich wieder im stillen Gedenken.“ (http://www.penzlin.info/lange-loeffel.de/loeffel/parabel.php)

  30. 30.

    Lediglich drei Bedingungen müssen gegeben sein: Präferenzen müssen transitiv sein (wenn a > b und b > c, dann auch a > c), Präferenzen müssen unabhängig von jenen der anderen Akteure sein, und Präferenzen müssen zeitlich relativ stabil sein (Schlaudt 2016: 54 f.).

  31. 31.

    Präferenzen sind nicht einfach zu eruieren und nicht einfach zu messen. Präferenzordnungen können auf verschiedene Weise ermittelt werden. Erstens kann, wie das die Theorie der offenbarten Präferenzen (Samuelson 1938) vertritt, von tatsächlichen Kaufentscheidungen auf entsprechende Präferenzen geschlossen werden. Aus den Kaufentscheidungen einer großen Zahl von Konsumenten ergeben sich dann bestimmte Präferenzmuster. Zweitens können Individuen direkt nach ihren Präferenzen bzw. nach ihrer unterschiedlichen Zahlungsbereitschaft für die einzelnen Optionen befragt werden (Gladwin 1980 in Abschn. 2.2.2.3). Drittens lassen sich Präferenzen auch anhand der Interessenprofile ermitteln, die die Akteure aufgrund ihrer Position in der Sozialstruktur bzw. im sozialen Raum einnehmen sowie aufgrund von Interessenindikatoren in einer konkreten Situation haben (Smith/Winterhalder 1992, Zürn 1992: 240–245). Jede dieser Vorgehensweisen hat Vor- und Nachteile, doch spricht nichts dagegen, dass man alle drei Methoden verwendet, um die Präferenzen der Akteure zu eruieren (vgl. Abschn. 1.3.3).

  32. 32.

    Schlaudt (2016: 54 f.) stellt sich die Frage, ob kontrapräferenzielle Entscheidungen möglich seien – also Präferenzen nicht tautologisch ermittelt werden können – oder ob Präferenzen nur im Handeln zum Ausdruck kommen (offenbarte Präferenzen). Die Neoklassik habe sich offensichtlich für offenbarte Präferenzen entschieden. Mit Präferenzen zweiter Ordnung können nun einerseits Akteure auch kontrapräferenziell handeln; sie riskieren dann aber von „den Umständen“ bestraft zu werden. Anderseits – falls „präferenzkonforme“ Entscheidungen berücksichtigt werden – können sich Akteure zwar gegen ihre ökonomischen Präferenzen entscheiden, aber nur, wenn sie stattdessen ihre prioritären politischen oder kulturell-symbolischen Präferenzen maximieren.

  33. 33.

    Stigler/Becker (1977: 89) bemerken am Schluss des Artikels einschränkend, dass sie weder Risikoaversion und -freudigkeit noch Präferenzunterschiede entlang „wealth and other classifications“ berücksichtigt hätten, doch halten sie diese beiden Faktoren – ohne Angabe von Gründen – für unwichtig und deshalb vernachlässigbar.

  34. 34.

    Zum Begriff und zur Geschichte des Konzeptes „Interesse“ vgl. Fuchs/Gerhard (1976), Orth/Fisch/Koselleck (1982), Hirschman (1987, 1993), Boudon/Bourricaud (1992), Schürmann (1990), Heilbronn (1998, 2015), Swedberg (2005) und Demeulenaere (2015a).

  35. 35.

    Dies zeigt sich auch nach der Aufkündigung der Arbeitsteilung zwischen Wirtschaftswissenschaften und den anderen Sozialwissenschaften. So etwa erhebt Becker (1976) den Anspruch, die „ökonomische Erklärung menschlichen Handelns“ auf alle sozialen Bereiche in allen Gesellschaften und Epochen auszudehnen, wodurch er sich den Vorwurf des „ökonomischen Imperialismus“ eingehandelt hat. Umgekehrt vertritt Callon (1998: 2) eine Art „kulturalistischen Imperialismus“, wenn er von einer „embeddedness of economies in economics“ ausgeht und schreibt: „Economics (…) performs, shapes and formats the economy, rather than observing how it functions“, dass also die Ökonomie (die Wirtschaft) letztlich von der Ökonomik (der Wirtschaftswissenschaft) geschaffen werde.

  36. 36.

    Gemäß Hobbes (1651: 56) streben Menschen nach Macht, Reichtum und Ehre, wodurch sie miteinander in Streit und Konflikte geraten (1651: 76). Bei Pareto (1916) findet sich gemäß Parsons (1937: 262 f.) ein Begriff des Interesses als Antrieb für zweckrationale Handlungen, deren Ziel in der Erlangung generalisierter Mittel: Macht und Reichtum für beliebige konkrete Zwecke besteht. „Wealth and power are potential means to any ultimate ends of an intrinsic means-ends system. … It is primarily these two generalized means to any ultimate ends, or generalized immediate ends of rational action, to which Pareto gives the name interests.“ Auch gemäß Weber (1922: 64) findet sich zweckrationales, interessegetriebenes Handeln in allen Handlungssphären: nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch in Politik, Religion sowie im intellektuellen und im erotischen Bereich.

  37. 37.

    Frey (1990: 2 f.) unterscheidet zwei Arten von Institutionen: nämlich Regeln und Verfahren, mit deren Hilfe Entscheidungen getroffen werden (Markt, Wahlen, Hierarchie, Verhandlungssysteme), sowie Normen und Traditionen: Normen, die durch Staat und andere Organisationen durchgesetzt werden (Gesetze), und informelle Normen, die in Interaktionen sanktioniert werden. Neben Institutionen kommen Organisationen wie Staat, Firmen, Bürokratien hinzu, die als Kollektivakteure auftreten können. Der Einbezug von Institutionen und Organisationen ist auch deshalb wichtig, weil sie den Möglichkeitsraum der Akteure – nebst Einkommen und Preisen – einschränken und auch Anreize darstellen (ebd.: 134 f.). Mit den Einschränkungen durch Institutionen und Organisationen, die erst mit dem Einfluss der Institutionenökonomik und der Neueren Wirtschaftssoziologie zunehmend an Beachtung gewonnen haben, werden wir uns in den Kap. 10 und 11 ausführlich beschäftigen.

  38. 38.

    Die Parameter der Entscheidungen sind sozial und kulturell bestimmt: Einschränkungen (constraints) umfassen „Kapitalien“ (assets) und Ressourcen, Macht und Status sowie Information, während Anreize (incentives) die unterschiedlich bewerteten (Vor- und Nachteile von) Optionen sind, zwischen denen sich die Akteure entscheiden (Barth 1966: 34 ff., 1981: 83 f., 97–102).

  39. 39.

    Bourdieu (1982) zeigt eine Korrelation zwischen Disposition (Habitus, Präferenzen) und Position im sozialen Raum, die durch eine bestimmte Struktur der Ungleichverteilung von Handlungsressourcen gekennzeichnet ist. Überdies weist er nach, dass die Positionierung der Akteure im sozialen Raum nicht nur ihre jeweiligen Handlungsoptionen (die Auswahl der Güter), sondern auch die Präferenzen/Interessen der einzelnen stratifizierten Kategorien von Akteuren – über den Mechanismus der sozialen Distinktion – bestimmt.

Author information

Authors and Affiliations

Authors

Corresponding author

Correspondence to Jürg Helbling .

Rights and permissions

Reprints and permissions

Copyright information

© 2021 Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature

About this chapter

Check for updates. Verify currency and authenticity via CrossMark

Cite this chapter

Helbling, J. (2021). „Rational-choice“: eine Zwischenbilanz. In: Neue Politische Ökonomie einfacher Gesellschaften. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-33935-7_8

Download citation

  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-33935-7_8

  • Published:

  • Publisher Name: Springer VS, Wiesbaden

  • Print ISBN: 978-3-658-33934-0

  • Online ISBN: 978-3-658-33935-7

  • eBook Packages: Social Science and Law (German Language)

Publish with us

Policies and ethics