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1 Einleitung

Eine ehemalige Kulturdezernentin der Stadt Hannover bezeichnet die Entstehung der Freien Theaterszene in Hannover als zufällige Ereignisse, die keiner systematischen Kulturpolitik geschuldet seien.Footnote 1 Viele Theatergruppen, deren Mitglieder vor Gründung der Gruppe häufig in institutionalisierten, öffentlich getragenen Theatern gearbeitet hatten, suchten sich in den 1980er Jahren freistehende Häuser und finanzielle Mittel, die über den direkten Kontakt zu Politiker*innen beantragt wurden. Auch in anderen Städten ist die Freie Szene häufig ähnlich entstanden und wurde lange Jahre kulturpolitisch wenig reguliert oder konzeptionell gestaltet (Matzke 2013). Allerdings lassen sich diesbezüglich in den letzten Jahren aus unterschiedlichen Richtungen Veränderungen beobachten.Footnote 2

Das Theater in Deutschland wird nach Roselt (2013a, S. 215) durch zwei aus öffentlichen Geldern finanzierte Theatersysteme dominiert, das Stadttheater und das Freie Theater. Dabei werden „die [freien] Theatergruppen nicht von der Politik an ein Haus berufen“ (Matzke 2012b, S. 1), sondern schaffen sich eigenverantwortlich ihre Produktions- und Arbeitsbedingungen. Dazu gehört auch das Akquirieren öffentlicher Förderung, denn die Arbeitsbedingungen in der Freien Theaterszene sind nur äußerst gering marktwirtschaftlich ausgerichtet, z. B. im Hinblick auf Einnahmen aus dem Kartenverkauf. Die öffentliche Förderung des Freien Theaters will und muss daher auch öffentlich legitimiert sein. Ebenso steht das Freie Theater unter Druck, diese Förderung zu legitimieren, beispielsweise durch qualitativ hochwertige künstlerische Arbeit (Roselt 2013a). Im Spannungsfeld von Förderung, Produktions- und Arbeitsbedingungen sowie Ästhetik kristallisiert sich in der Freien Szene eine besondere Marktökonomie heraus, in der Künstler*innen, Häuser und Förderer*innen auf unterschiedliche Weise ihre Zielsetzungen legitimieren.

Zur Analyse der Marktökonomie sind Fragen nach den Förderstrukturen sowie dem Einfluss der Förderung auf Produktions- und Arbeitsbedingungen und Theaterästhetiken leitend. Im Rahmen des Teilprojektes „Markt als Krise“ der DFG-Forschungsgruppe „Krisengefüge der Künste“ wird dieser Zusammenhang exemplarisch für die Freie Theaterszene in Niedersachsen untersucht. Für das Vorhaben wurden 28 leitfadengestützte Interviews mit Förderer*innen, Politiker*innen, Ausbilder*innen, Juror*innen und freien Gruppen geführt und ausgewertet. Zusätzlich wurden Fallstudien in Form von Probenbeobachtungen im Theater an der Glocksee Hannover und bei Markus&Markus durchgeführt, die sich bezüglich ihrer Gruppenstruktur, Förderung und Produktionsbedingungen sowie ihrer künstlerischen Form voneinander unterscheiden.

Im Folgenden wird, ausgehend von einem kurzen Einstieg in die Historie der Freien Szene, die Förderstruktur in Niedersachsen analysiert. Auf dieser Grundlage werden anschließend bei Markus&Markus sowie dem Theater an der Glocksee die Produktions- und Arbeitsbedingungen mithilfe von Interviews und Probenbeobachtungen untersucht. Abschließend werden, auch unter Hinzunahme von Aufführungsanalysen, Verknüpfungen zwischen Förderung, Produktions- und Arbeitsbedingungen sowie der Ästhetik identifiziert und unter der Frage von Legitimierung der Freien Szene diskutiert.

2 Das Freie Theater

Eine einheitliche Definition des Begriffs ‚Freies Theater‘ gibt es nicht (Matzke 2013, S. 259 ff.). Häufig wird eine Definition in Abgrenzung zum institutionalisierten, öffentlich getragenen Theater vorgenommen. Matzke (2013, S. 262) verweist darauf, dass sich der Begriff des Freien Theaters weniger aus der Ästhetik oder aus politischen Zielen legitimiert, sondern aus einer anderen Produktionsweise in Abgrenzung bzw. Opposition zum institutionalisierten Theater. Aus dieser Opposition lässt sich mit Matzke (2013, S. 261) auch die Entstehung der Freien Theaterszene als Alternative zum institutionalisierten, öffentlich getragenen Theater seit den 1970er Jahren beschreiben. Selbstzuschreibungen wie autonomes Arbeiten oder ein emphatisches Verständnis von Kollektivarbeit wirkten für viele Gruppen in diesen Gründungsjahren identitätsstiftend (Matzke 2013; Brauneck et al. 2016). In den Interviews mit Vertreter*innen freier Theatergruppen sowie ergänzend in informellen Gesprächen ist deutlich geworden, dass neben dem Aufbau eigener Arbeitsstrukturen heute auch nationale und internationale Kooperationen zum erstrebenswerten und konstituierenden Merkmal geworden sind (siehe auch Irmer 2019). Kooperationen und auch Koproduktionen, die häufig mit einer höheren finanziellen Verpflichtung der Partner einhergehen, werden von freien Gruppen mit Spielstätten der Freien Szene oder mit institutionalisierten, öffentlich getragenen Theatern eingegangen. Diese Formen der Zusammenarbeit bedeuten für die jeweiligen Produktionen nicht nur ein deutlich höheres Finanzvolumen durch die Beiträge der beteiligten Partner, sondern zusätzlich Aufführungsmöglichkeiten an den kooperierenden Häusern. Dies kann Aufmerksamkeit und Öffentlichkeit generieren und darüber die künstlerische und kuratorische Arbeit der beteiligten Partner legitimieren. Ebenfalls stehen Begriffe wie Kooperation oder Vernetzung vielfach auf den Agenden der Förderer*innenFootnote 3, sodass sie auch kulturpolitisch als die relevante Form der Zusammenarbeit in den freien darstellenden Künsten gilt.

Trotz des einen Begriffs der Freien Theaterszene versammelt diese unterschiedliche (Förder-)Strukturen, Produktions- und Arbeitsbedingungen, (Markt-)Mechanismen, Ästhetiken und Theatersparten. Als übergreifendes Merkmal wird jedoch von Kußmann und Seybold (2018) herausgestellt, dass bei allen freien Gruppen die künstlerischen Bedarfe den Ausgangspunkt für den Aufbau von Strukturen bilden und nicht gegenteilig zunächst Strukturen bestehen, in denen künstlerisch gearbeitet wird.

Die Förderlogik der Freien Szene strukturiert sich größtenteils über zu beantragende Einzelprojekte und ermöglicht kaum längerfristige Perspektiven. Freies Theater zu machen bedeutet daher auch immer mit anderen Künstler*innen und Gruppen um Fördergelder zu konkurrieren. Auch wenn vermehrt differenzierte und auch längerfristige Förderinstrumente aufgebaut werden (Koß et al. 2018: S. 19), stehen freie Künstler*innen und Gruppen damit unter einem besonderen Legitimationsdruck. Mit jedem Antrag müssen sie die Förderungswürdigkeit ihrer Kunst erneut überzeugend darlegen. Hierbei setzt „[d]ie Grammatik der sogenannten Antragsprosa jedes Projekt unter permanenten Innovationszwang, denn Anträge werden von sachverständigen Kuratorien dahingehend geprüft, was an ihnen neu ist“ (Roselt 2013a, S. 215). Eine profilbildende und innovative Ästhetik steht, neben weiteren, häufig als Kriterium in den FörderbedingungenFootnote 4 und gilt für Förderer*innen als ein die Förderung legitimierender Faktor.

3 Förderstruktur der Freien Theaterszene in Niedersachsen

In Niedersachsen zeigt sich ein besonderes Bild der Förderstruktur und damit der Arbeitsbedingungen in der Freien Theaterszene. Trotz eines quantitativ hohen Fördervolumens fehlt eine Spielstätten- und Gastspielförderung, die dem Trend der Legitimierung der Freien Szene über Kooperationen und Koproduktionen entgegenkommt.

Das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur, im Folgenden MWK, und die Stiftung Niedersachsen sind die wichtigsten landesweiten Förderer.Footnote 5 Das MWK fördert die Freie Theaterszene im Haushaltsjahr 2019 mit knapp 1,5 Mio. EUR pro Jahr (LaFT Niedersachsen e. V. 2020)Footnote 6, die durch einen Theaterbeirat verwaltet werden. Diese Summe ist aufgeteilt auf die Förderinstrumente „Konzeptionsförderung“, „Projektförderung“ sowie „Sonderveranstaltungen und institutionelle Förderung des LaFT“, des Landesverbands Freier Theater. Kriterien wie „künstlerische Qualität“, „überregionale Bedeutung“, „Innovationsgrad“ oder „Ermöglichung kultureller Beteiligung aller Bevölkerungs- und Altersgruppen“ werden u. a. der Förderung durch das MWK zu Grunde gelegt (MWK 2020b). Die Stiftung Niedersachsen fördert die Freie Theater- und Tanzszene über das Förderinstrument „Projektförderung“ mit einer jährlichen Summe von circa 550.000 EUR und dem zweijährig stattfindenden Festival „BestOFF – Festival Freier Theater“. In Abgrenzung zum MWK versteht die Stiftung Niedersachsen ihre Förderung nicht als Grundversorgung, sondern als förderpolitisches i-Tüpfelchen „für innovative Formate, zeitgemäße Formen der Vermittlung, neue Perspektiven und die Ansprache eines neuen Publikums“ (Stiftung Niedersachsen 2020).

Darüber hinaus ergibt sich ein lokal und regional sehr unterschiedliches Bild der weiteren Kulturförderung durch Landschaftsverbände, Stiftungen von Banken und kommunale Mittel. Die Landeshauptstadt Hannover beispielsweise fördert die Freie Theaterszene mit 700.000 EUR jährlich (LaFT Niedersachsen e. V. 2020), die hauptsächlich als Projektförderung oder vierjährige Grundförderung zu beantragen sind und ebenfalls über einen Theaterbeirat zugesprochen werden. Auch das gemeinsame Marketingkonzept „Freie Theater Hannover“ wird von der städtischen Fördersumme finanziert.Footnote 7

Trotz der quantitativ gut ausgebauten Förderung zeigt sich die Struktur der Freien Theaterszene heterogen. Da es in Niedersachsen weder eine schriftlich zugesicherte Förderung von Spielstätten noch eine Gastspielförderung gibt, fehlen Spielstätten, die mit angemessenen Beträgen Projekte freier Gruppen koproduzieren und Gastspiele finanzieren können. So ist schon die Anzahl der Spielstätten, die (Spiel-)Räume für freie Projekte anbieten, knapp. Lediglich das LOT Braunschweig, das Theaterhaus Hildesheim sowie der Pavillon in Hannover können kontinuierliche Spielmöglichkeiten vorweisen. Hinzu kommen fünf weitere Häuser, die von einzelnen Theatergruppen gegründet wurden, weiterhin selbst produzieren und zusätzlich weiteren freien Gruppen eingeschränkt Spielmöglichkeiten ermöglichen: das Theater in der Eisfabrik und das KinderTheaterHaus Hannover, Theater wrede + Oldenburg, Theater Metronom Hütthof und das Jahrmarkttheater in Bostelwiebeck.

Es gibt zwar über die Stadt Hannover eine SpielstättenförderungFootnote 8, die allerdings für ausgewählte Spielorte gilt, welche von städtischer Seite gesichert werden sollen. Spielstätten in Hannover, die diese Förderung noch nicht bekommen, können sich dafür nicht aktiv bewerben. So bleibt diese Spielstättenförderung eine unregelmäßige politische Einzelfallentscheidung.Footnote 9 Den Spielstätten in Hannover und Niedersachsen bleibt die Möglichkeit über Projektmittel oder die dreijährige Konzeptionsförderung des MWK moderat auch die eigene Infrastruktur zu stärken bzw. überhaupt aufrechtzuerhalten. Die unzureichende finanzielle Ausstattung und das Fehlen einer Gastspielförderung erschweren den Spielstätten zusätzlich an Netzwerken, Festivals oder Gastspielreihen mit anderen (inter-)nationalen Produktionshäusern teilzuhaben. So sind die Spielstätten „darauf angewiesen, diejenigen Gruppen einzuladen, in deren Projektbudgets noch entsprechende Mittel zur Verfügung stehen. Häuser von überregionaler Strahlkraft fehlen deshalb weitestgehend“ betont der LaFT Niedersachsen e. V. (2014). Mit diesem strukturellen Manko kämpfen auch die freien Künstler*innen und Gruppen. Es ist für sie schwieriger überregionale Öffentlichkeit herzustellen und sie erfahren selten eine Legitimierung ihrer künstlerischen Tätigkeit durch Einladungen und Gastspiele an Spielstätten außerhalb Niedersachsen.Footnote 10 Dies kann ihnen die Etablierung eines tragfähigen Renommees erschweren sowie gegebenenfalls auch das Generieren weiterer Förderung durch Bund und Länder. Denn „Gruppen, deren Erfolg über die Landesgrenzen hinausreicht, gibt es (…) einige – aber auf Grund der fehlenden Infrastrukturen wandern viele von ihnen früher oder später ab“ konstatiert der LaFT (2014).

Dass die Spielstätten versuchen, ihre eigenen infrastrukturellen Bedarfe über Projektförderung oder längerfristige Förderinstrumente zu decken, ist kulturpolitisch brisant, denn dieses Geld fehlt dann wiederum bei der künstlerischen und konzeptionellen Förderung freier Gruppen. Umso wichtiger scheint die Aufteilung der Konzeptionsförderung des MWK in eine Spielstätten- und eine Produktionsförderung, die zurzeit kulturpolitisch vorbereitet wird.Footnote 11 Footnote 12 Welche Arbeits- und Produktionsbedingungen die beschriebene Förderung den freien Künstler*innen und Gruppen in Niedersachsen ermöglicht, wird folgend anhand von zwei Beispielen erörtert: dem Theater an der Glocksee in Hannover und der Gruppe Markus&Markus. Das Theater an der Glocksee, als ein gewachsenes und seit 1989 produzierendes, freies Theaterhaus, steht beispielhaft in der Analyse für die Freien Theater in Niedersachsen mit eigenen Räumlichkeiten. Die Gruppe Markus&Markus, eine junge, achtjährig bestehende Gruppe, wurde als kontrastierender Fall in die Analyse aufgenommen, da sie durch künstlerische Profilbildung sowohl national als auch international mit Gastspielen tourt und sich dadurch vom Theater an der Glocksee in ihrer Förderung und ihren Produktionsbedingungen, aber auch in ihrer künstlerischen Form, unterscheidet. In die Analyse wurden, neben den Interviews mit Vertreter*innen beider Theatergruppen und Probenbeobachtungen, auch Aufführungsanalysen sowie weitere informelle und im Nachhinein dokumentierte Gespräche während der Proben einbezogen.

4 Probenbeobachtung

Um den Einfluss von Förderung auf Produktionsbedingungen und deren Einfluss wiederum auf Ästhetik zu untersuchen, stellt der Prozess der Formfindung, die Probe, ein geeignetes und aussagekräftiges Untersuchungsfeld dar. Die Probe wird hierbei nicht als „Frei-Raum“ (Roselt 2011, S. 21) kontextualisiert, sondern „vielmehr [als] ein räumlich und zeitlich kontingentierter Arbeitsbereich, der einen Rahmen setzt, welcher zunächst eine rein quantitative Vorgabe ist, die ökonomischen und administrativen Notwendigkeiten gehorcht“ (Roselt 2011, S. 21). Die Struktur der Probe unterliegt damit verschiedenen ökonomischen und administrativen Rahmenbedingungen wie beispielsweise der vertraglich festgesetzten Länge der Probenzeit, den ausgehandelten Ruhezeiten und probenfreien Tagen der Beteiligten oder der festgesetzten Probenzeiträume auf der Originalbühne und der Nutzung der technischen Ausstattung. Diese Rahmenbedingungen beeinflussen und prägen sowohl die Suche nach der künstlerischen Form, also die Probe selbst, als auch die künstlerische Form, die Ästhetik. In der Probe überkreuzen sich „individuelle künstlerische Fragen mit den institutionellen Bedingungen des Theaters“ (Matzke 2011, S. 137). Die Strukturen des eigenen Arbeitens, die Produktionsbedingungen, die je nach freier Gruppe auf unterschiedlichen Modellen der Förderung fußen, weisen durch die Probe auf die künstlerische Form, die Ästhetik, hin.Footnote 13 Roselt verdeutlicht, dass „beide Arbeitsphasen des Theaters [die Probe und die Aufführung] wechselseitig aufeinander Bezug nehmen“ (Roselt 2011, S. 35), auch wenn die Relation zueinander durch beispielsweise kurze Probenzeiten historisch unterschiedlich ausgeprägt war. Die organisatorischen Bedingungen bilden die Grundlage für die ästhetische Produktion sowie diese wiederum auch organisatorische Bedingungen einfordern kann. Probe und Aufführung oder Produktionsbedingungen und Ästhetik stehen, wie nachfolgend zu zeigen ist, zwar in unterschiedlichem Maße, dennoch stets zueinander in Beziehung.

Die Proben von „Was du nicht sagst! Eine gesellschaftspolitische Tanzstunde“ von dem Theater an der Glocksee und von „Die Berufung“ von Markus&Markus wurden jeweils zu Beginn des Probenprozesses, in der Mitte und während der Endproben besucht. So konnten Arbeitsweisen und künstlerische Entwicklungslinien ausgemacht werden. Denn auch wenn „in der Probe nur ein Teil gezeigt [wird], [lassen sich] aus dem dann Rückschlüsse auf das Ganze [ziehen]“ (Matzke 2012a, S. 96). Zusätzlich wurde im Theater an der Glocksee eine Aufführung von „Was du nicht sagst!“ besucht und unter phänomenologischen Aspekten (Roselt 2008) analysiert. Die Aufführungsanalyse von „Die Berufung“ bezieht sich auf eine Durchlaufprobe zwei Tage vor der Premiere.Footnote 14

Nach den nun folgenden, fallbezogenen Analysen schließt eine Diskussion der Ergebnisse zum Zusammenhang von Förderung, Produktionsbedingungen und Ästhetik den Beitrag ab.

4.1 Theater an der Glocksee

Das Theater an der Glocksee in Hannover wurde 1989 von ehemaligen Studierenden der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover auf dem alternativen Glocksee-Gelände gegründet. Seit Anfang 2019 wird es nach einem Generationenwechsel von einem jungen TeamFootnote 15 geleitet.Footnote 16 Die Stadt Hannover überlässt, durch einen Nutzungsvertrag geregelt, dem Verein „Theater an der Glocksee e. V.“ das Gebäude. Eine weitere finanzielle Verantwortung seitens der Stadt ist damit nicht verbunden. Über das Kulturbüro Hannover erhält das Theater eine vierjährige Grundförderung, die bis dato laufend erneuert wurde. Zusätzlich werben sie Projektförderung für jährlich circa drei Produktionen ein und können dennoch ein finanzielles Auskommen des Leitungsteams nur über zusätzliche Engagements an anderen Theatern ermöglichen.

Die Einzelprojekt-Förderung wirkt insofern auf die Arbeitsbedingungen, als dass das Leistungsteam je nach künstlerischem Projekt und inhaltlicher Herangehensweise das Produktionsteam neu zusammensetzt. Ein Produktionsteam findet sich für eine Produktion zusammen, wobei Beteiligte in folgenden Projekten durchaus in wieder anderen Konstellationen beteiligt sein können. Das Leitungsteam arbeitet durchweg mit professionell ausgebildeten Schauspieler*innen in durchschnittlichen Probenphasen von sechs bis acht Wochen, wobei Stückentwicklungen durch inhaltliche Recherchen mehr Zeit in Anspruch nehmen. Die Positionen (Regie, Schauspiel, Dramaturgie usw.) der Produktionsmitglieder werden in Veröffentlichungen zur Produktion benannt und kommuniziert.Footnote 17 In den besuchten Proben wird eine Strukturierung der Proben über Befugnisse und Pflichten der jeweiligen Positionen deutlich. So unterbricht zunächst meist der Regisseur die Probe, macht Ansagen zu Textbedeutungen oder Haltungen und gibt Feedback (und dies wird von den Schauspieler*innen auch eingefordert). Mit seinen Entscheidungen zu künstlerischen Mitteln und Darstellungsweisen prägt er die künstlerische Form der Inszenierung. Dennoch gibt es vielfältige Momente, in denen die Positionen und die damit verbundenen Befugnisse ausgeweitet werden. Während der besuchten Proben ist dies besonders die erste Phase, in der gemeinsam inhaltlich gedacht und Stücktexte erarbeitet werden.

Das Stück beginnt mit einer Auseinandersetzung der drei Schauspieler*innen im Off über sprachliche Macht, Ausgrenzung und unsagbare Dinge. Auch wenn die Schauspieler*innen in einigen Sequenzen vermeintlich von sich als Privatperson sprechen, verkörpern sie während großer Teile des Abends stimmlich und spielerisch unterschiedliche Figuren. Die schauspielerischen Darstellungen der Figuren entstanden während der Proben durch Gespräche zwischen Regisseur und Schauspieler*innen über den dramatischen Text, durch Improvisationen der Schauspieler*innen und durch Kritik und Entscheidungen des Regisseurs. Die schauspielerische Darstellung aus vorwiegend mimetischer Repräsentation der Figuren überwiegt zu einigen wenigen Szenen, in denen die Schauspieler*innen vermeintlich als Privatpersonen agieren. Ebenso werden auch die meisten Ursprünge der Texte nicht genannt und nur wenige Quellen der Texte durch projizierte Videos oder Ansagen der Spieler*innen offengelegt. Ein Großteil der Quellen bleibt verborgen, sodass die Texte auch fiktionalen Ursprungs sein können. Vorherrschende Textform sind dramatische, häufig dialogische Texte, geschrieben und gesampelt von Joans Vietzke und Ensemble. Fiktive Situationen während eines Tanzunterrichts dienen dabei vielfach als künstlerischer Ausgangspunkt der Szenen. Die Mehrzahl der gewählten künstlerischen Mittel, sowohl auf textlicher als auch darstellerischer Ebene, lässt sich in Traditionslinie der Schauspielkunst als mimetischer Repräsentation stellen. Dabei lassen inszenatorische Kontrapunkte, wie das Heraustreten aus den Rollen oder das Sprechen als Privatperson, das schauspielerische Handwerk der mimetischen Repräsentation für Zuschauende deutlich wahrnehmbar werden.

Die Einzelprojektförderung als Grundlage der organisatorischen Bedingung der Proben nutzt das Leitungsteam, um je nach Projekt neue Konstellationen der künstlerisch Beteiligten herzustellen. Die sich daraus ergebende Arbeitsstruktur, die sich auf die durch Positionen verbundenen, unterschiedlichen Befugnisse der Teammitglieder stützt, ermöglicht häufig ein zügiges Vorankommen in der Probenarbeit. Ein oftmals zeitaufwendiges Aushandeln der Entscheidungsstrukturen im künstlerischen Prozess entfällt weitgehend, da zunächst die Regie die letztendliche Entscheidungsbefugnis und damit verbunden auch die Entscheidungsverantwortung übernimmt. Die Ästhetik wird daher in diesem Arbeitsmodell vorwiegend an die künstlerische Vorstellung und Vision desjenigen geknüpft, der die Position der Regie innehat. Die Produktionen des Theaters an der Glocksee variieren ästhetisch daher je nach Regisseur*in, auch wenn sich durch dieselben räumlichen Bedingungen und häufig ähnliche technische Möglichkeiten eine leichte ästhetische Kohärenz der Produktionen des Theaters an der Glocksee erkennen lässt.

4.2 Markus&Markus

Die freie Gruppe Markus&MarkusFootnote 18 hat sich 2011 in Hildesheim gegründet und erarbeitet seitdem Stückentwicklungen im Kollektiv, was für die Gruppenmitglieder gleichberechtigtes Arbeiten mit je konstanten Spezialisierungen (Performance, Dramaturgie/Produktionsleitung, Videodreh/ -schnitt) bedeutet. Für die Freie Theaterszene haben sie sich bewusst entschieden, um eigenständig definieren zu können, wie sie arbeiten und leben wollen.Footnote 19

Seit 2016 erhält Markus&Markus die je dreijährige Konzeptionsförderung des MWK. Darüber hinaus finanzieren sie ihre Projekte durch Projektförderung, Koproduktionsbeiträge, Gastspiele, Festivaleinladungen und Preisgelder.Footnote 20 Angesichts der Förderlogik der Freien Theaterszene außergewöhnlich ist bei Markus&Markus ein langer Produktionszeitraum von mindestens anderthalb Jahren, der im Regelfall zwischen zwei Projekten liegt. Mit diesem Produktionsmodell setzen sie sich von einem branchentypischen Rhythmus aus jährlich zwei bis drei Neuproduktionen ab. Dadurch steigt der Erfolgsdruck, da zur Finanzierung dieses Produktionsmodells alle Stücke qualitativ tourfähig sein müssen. Nach eigener Einschätzung trug zum Gelingen dieses Produktionsmodells das Festival „Freischwimmer 2012/2013“ bei, zu dem sie ein gutes Jahr nach ihrer Gründung eingeladen wurden. Das Festival tourte durch die vier Produktionshäuser FFT Düsseldorf, Kampnagel Hamburg, Theaterhaus Gessnerallee Zürich und Sophiensæle Berlin und ermöglichte Markus&Markus den Kontakt zu Koproduktionspartnern, mit denen sie zum Teil bis heute kontinuierlich zusammenarbeiten.

Die anderthalbjährige Produktionsphase ist für die künstlerische Form der Stückentwicklungen bedeutsam, deren Grundlage zeitlich und inhaltlich aufwendige Recherchen durch teilnehmende Beobachtung bilden, die in der Inszenierung theatral verdichtet werden. Ausgangspunkt dieser Recherchen sind gesellschaftliche und soziale Fragestellungen. Bei Projektplanung und Antragsstellung haben sie neben dem inhaltlichen, künstlerischen Interesse durchaus Förderkriterien im Hinterkopf, die auf gesellschaftliche Relevanz und Aspekte wie Integration und Teilhabe (siehe oben) zielen. Förderkriterien prägen daher auf unterschiedlich starke Weise die inhaltlich dramaturgische Ausrichtung ihrer Projekte.

Während der Probenbeobachtung wurde deutlich, dass Markus&Markus die Probenphase anders strukturiert als die historisch gewachsene und mehrheitlich angewendete Systematik aus „eine[r] Leseprobe, eine[r] Setzprobe, mehrere[n] Theaterproben und [der] Generalprobe“ (Roselt 2011, S. 23). Ein Großteil der Proben bestand aus der Aufarbeitung des Recherchematerial und der am runden Tisch erdachten Dramaturgie des Abends. Dafür wurde auf Kärtchen detailliert festgehalten, welche künstlerischen Mittel aus Licht, Ton, Video, welche Bühnenelemente, Requisiten und Kostüme eingesetzt, aber auch welche szenischen Ideen zu Positionen, Sprechhaltungen, Gesten und Aktionen der Performer damit verknüpft werden sollen. Bemerkenswert war, dass bereits circa sechs Wochen vor der Premiere der erste Durchlauf stattfand, bei dem die Dramaturgie überprüft und anschließend umgestellt und weiterentwickelt wurde. Dieser Vorgang wiederholte sich im Laufe der Probenphase. Szenische Proben, losgelöst von einem Durchlauf, fanden äußerst selten statt. Ein Gruppenmitglied beschreibt diese für sie charakteristische Arbeitsweise zugespitzt: „Es gibt bei uns keine Proben, sondern nur Aufführungssituationen.“

Während des ersten Durchlaufs im LOT Braunschweig, wo zwei Tage später die Premiere stattfand, zeigte sich die Gleichwertigkeit der vier Gruppenmitglieder im künstlerischen Prozess prägnant, als von einem Mitglied eine Entscheidung für die nun anzuwendende Kommunikationsstruktur eingefordert wurde. Wer die Probe aus welchen künstlerischen Gründen unterbrechen darf und wer sich Kritik zu welchen künstlerischen Bereichen wie Performance, Technik, Bühne und Kostüm notiert, wurde gemeinsam vor der Probe ausgehandelt und war nicht qua Position implizit strukturiert. Die Gleichwertigkeit ist auch auf der Bühne zwischen den beiden Performern zu beobachten, wenn sie sich beispielsweise gegenseitig ins Wort fallen (dürfen) oder die Geschehnisse auf der Bühne gleichwertig und abwechselnd vorantreiben. Die meisten im Stück gesprochenen Texte werden von den Performern abgelesen, was den Ursprung des gesprochenen Wortes offenlegt und für mich als Beobachterin auf eine Differenz zwischen Performer und gesprochenem Wort verweist. Durch den Zettelstapel, den jeder Performer mit sich trägt, wird die Dramaturgie und die Arbeit an der Dramaturgie als niedergeschriebener Text sichtbar. Auf der Bühne verhaspeln sich die Performer, suchen Requisiten oder fallen scheinbar aus ihrem Performersein, wenn sie beschämt lachen und sich Zeichen geben, wie es weitergeht. Dies ist nicht etwa einem Ungeprobtsein geschuldet, sondern es sind die gewählten künstlerischen Mittel, die sich als postdramatisch (Lehmann 1999) beschreiben lassen und die das Verhältnis von Probe und Aufführung für die Zuschauenden erfahrbar aushandeln (siehe auch Roselt 2011). So schafft Markus&Markus mit unterschiedlichen künstlerischen Mitteln und durch das dramaturgische Sampling der Rechercheergebnisse ästhetische Vielstimmigkeit auf der Bühne.

Durch die spezifische, durch Touring gestützte Förderstruktur mit langen Produktionsperioden, schafft Markus&Markus sich organisatorische Bedingungen der Probe unter denen inhaltlich aufwendige Recherchen aller vier Gruppenmitglieder überhaupt möglich sind. Auch der produktionsintern folgende Schritt der theatralen Verdichtung und des dramaturgischen Samplings der Rechercheergebnisse ist nur in zeitlich ausgedehnten Arbeitsstrukturen zu realisieren. Die prägnante Ästhetik der Gruppe benötigt die organisatorischen Bedingungen einer periodisch langen Förder- und Arbeitsstruktur, um entstehen zu können. Das Verhältnis von organisatorischen Bedingungen und der Ästhetik ist in diesem Analysebeispiel stärker aufeinander bezogen als im vorangegangenen Fallbeispiel des Theaters an der Glocksee.

5 Legitimitätsdruck und Legitimitätsstrategien

Arbeiten und Produzieren im Freien Theater findet jenseits institutionalisierter, von politischen Zielvorgaben und öffentlicher Förderung manifestierter Strukturen statt. Zwar bilden freie Gruppen unterschiedliche Stadien von festgesetzten, teilweise annähernd institutionalisierten Arbeits- und Produktionsabläufen aus, jedoch können „die Bedingungen des Produzierens selbst entworfen [werden] – soweit es die ökonomischen Zwänge erlauben. Gearbeitet wird damit im besten Falle immer auf zwei Ebenen: an den Inszenierungen und zugleich an der eigenen Institutionalisierung und deren Reflexion“ (Matzke 2012b).

So konnten Markus&Markus sich beispielsweise durch ihr auf Touring basierendes Produktionsmodell zweierlei erarbeiten: einerseits die für ihre Arbeitsweise und künstlerische Form charakteristische und notwendige Recherchezeit zu finanzieren und dadurch andererseits in einem auf Kurzfristigkeit ausgelegten kultur- und förderpolitischen System künstlerische Nachhaltigkeit zu etablieren. Ästhetisch kreiert Markus&Markus auf Grundlage dieses Produktionsmodells performatives, ästhetisch vielstimmiges, zwischen Realität und Fiktion changierendes, dokumentarisches Theater – wofür sie in der fachlichen Öffentlichkeit und beim Publikum bekannt sind. Im Gegensatz dazu und entsprechend der Förderlogik aus einander folgenden Einzelprojekten ohne anschließende Gastspiele ist das Arbeits- und Produktionsmodell des Theaters an der Glocksee stärker orientiert an historisch gewachsenen Produktions- und Probenbedingungen, die zeitlich kürzer und qua Position durch Verantwortungsbereiche der Produktionsmitglieder strukturiert sind. Damit verknüpfen lässt sich das Analyseergebnis, dass in „Was du nicht sagst!“ viele der gewählten künstlerischen Mittel auf Schauspielkunst und theatrale Darstellungsformen der mimetischen Repräsentation verweisen, deren ästhetische und dramaturgische Einbettung nicht auf Vielstimmigkeit beruht, sondern durch Entscheidungen eines*r Regisseurs*in vorwiegend kohärent erscheint. Die ästhetische und dramaturgische Profilbildung von Markus&Markus ist im kurzzeitig strukturierten Produktionsmodell des Theaters an der Glocksee kaum denkbar; es findet aber eine Profilbildung über das Erscheinungsbild des Hauses und zusätzlicher Formate wie beispielsweise dem „Salon“Footnote 21 statt. Andersherum ermöglicht das eigene Theatergebäude dem Theater an der Glocksee die Freiheit unterschiedlicher inhaltlicher Herangehensweisen und künstlerischer Bearbeitungen. Die Logik der Notwendigkeit eines stark ausgeprägten künstlerischen Profils aller Produktionen im Kontext von Gastspieleinladungen und Koproduktionspartner*innen besteht für das Theater an der Glocksee kaum. Die beiden analysierten Beispiele zeigen die von der jeweiligen freien Gruppe auszugestaltende, produktionsorganisatorische und künstlerische Kontingenz im Fördersystem des Freien Theaters.

Dennoch stehen sowohl das Theater an der Glocksee als auch Markus&Markus mit jedem neuen Projekt unter Innovationsdruck. Denn die Kriterien der Förderer*innen der Freien Szene lassen sich vorwiegend in die Bereiche „ästhetische Innovation“, „gesellschaftliche Relevanz“ und „gesellschaftliche Teilhabe“ unterteilen, worüber die Förderer*innen ihr finanzielles Engagement legitimieren (siehe oben). Freie Künstler*innen und Gruppen beschreiben nachdenklich die Tendenz, dass Förderer*innen zunehmend, beinahe ausschließlich, Projektentwicklungen statt Inszenierungen von Dramentexten fördern.Footnote 22 Diese kulturpolitische Entwicklung kann als ein Indiz gelten, dass die Arbeitsform der Projektentwicklung, die häufig aus der Gegenwart und nicht aus einem dramatischen Kanon schöpft, in den darstellenden Künsten potenziell als zukunftsgerichtet und innovativ angesehen wird und damit der Förderung würdig. Die Förderer*innen gestalten durch ihre Förderkriterien die Freie Theaterszene auf inhaltlicher, künstlerischer und produktionsstruktureller Ebene mit. Sie legitimieren durch Agenda-Setting ihr förderpolitisches Engagement und bringen sich selbst als wichtige Akteure ins Feld, die anschließend mit innovativen und gesellschaftlich relevanten Projekten in Verbindung gebracht werden (können). Eine erfolgreiche und von der Öffentlichkeit wahrgenommene Produktion kann dreifach legitimierend wirken: auf künstlerischer, kulturpolitischer und kuratorischer Ebene für freie Künstler*innen, Förderer*innen und Spielstätten.

Was allen Künstler*innen der Freien Theaterszene bleibt, ist auf diesen Legitimitätsdruck mit ausgefeilten innovativen Projekten und relevant klingenden Anträgen zu reagieren. Dieser Marktmechanismus wird durch Förderkriterien wie „künstlerische Innovation“ oder „gesellschaftliche Relevanz“ verstärkt, ist aber in der vorherrschenden Produktionsform des Freien Theaters, dem Projekt, schon grundsätzlich angelegt. Denn „Projektorientierung bedeutet eine grundsätzliche Zukunftsgerichtetheit. Das Projekt ist ein Versprechen in die Zukunft. Es soll etwas gemacht werden, was es noch nicht gibt. Und dieser Prozess ist endlich. Denn in dem Moment, wenn das Projekt zu einem Produkt wird und dem Publikum gezeigt wird, kommt es als Projekt zu einem Ende. Das heißt, freie Theaterarbeit steht unter hohem Innovationsdruck oder Innovationszwang. Die Projektidee muss etwas Neues projizieren, dessen Ausgang nicht gewiss ist, das heißt zum Projekt gehört die Möglichkeit des Scheiterns“ (Roselt 2013b, S. 1).

Beide Versprechen, sowohl aus förderpolitischer Sicht ästhetische Innovation und gesellschaftliche Relevanz zu ermöglichen als auch auf künstlerischer Seite diese zu kreieren, können sich allein in der Zukunft bewahrheiten. Erst und nur dann gelten sie einerseits rückwirkend legitimierend für erfolgte Förderung und getane künstlerische Projekte und bilden andererseits eine Legitimationsbasis für kommende Fördertätigkeit und künstlerische Arbeit.