4.1 Der Sinn des Lebens

„Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir. Beide darf ich nicht als in Dunkelheiten verhüllt, oder im überschwenglichen, außer meinem Gesichtskreise, suchen und bloß vermuten; ich sehe sie vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewußtsein meiner Existenz.“ (Kant 2019)

Immanuel Kant (1724–1804)

Wilhelm von Humboldts Bildungsideal, das zu einem autonomen Individuum und Weltbürger führen soll, ist u. a. das Ergebnis seiner Auseinandersetzung mit Philosophen der Aufklärung wie z. B. mit Immanuel Kant. Die Schriften von Kant sollen Wilhelm von Humboldt schon in jungen Jahren beeinflusst haben (Berglar 2015). Immanuel Kant ist einer der bedeutendsten Philosophen der Aufklärung. Seine Ausführungen über Vernunft, Ethik und Ästhetik zählen zu den wichtigsten Werken der Erkenntnistheorie und sind heute immer noch so aktuell wie vor 200 Jahren. In zwei seiner Hauptwerken, Kritik der reinen Vernunft und Kritik der praktischen Vernunft, nimmt Kant Stellung zu Fragen zur transzendentalen Logik, des moralischen Handelns und der menschlichen Vernunft. In dem ersten der beiden Bücher widmet er sich insbesondere dem Thema der Erkenntnis. Um zu einer Erkenntnis zu gelangen, bedarf es, laut Kant, einer Erfahrung, was er wie folgt formuliert:

„Der Verstand mag ein Vermögen der Einheit der Erscheinungen vermittelst der Regeln sein, so ist die Vernunft das Vermögen der Einheit der Verstandesregeln unter Prinzipien. Sie geht also niemals zunächst auf Erfahrung oder auf irgendeinen Gegenstand, sondern auf den Verstand, um den mannigfaltigen Erkenntnissen desselben Einheit a priori durch Begriffe zu geben welche Vernunfteinheit heißen mag, und von ganz anderer Art ist, als sie von dem Verstande geleistet werden kann.“ (Kant 2019)

Dabei versteht Kant unter „a priori“, wenn ein Urteil unabhängig von jedweder Erfahrung entsteht. In Gegensatz hierzu stehen Urteile, die aufgrund von Erlebnissen oder Erfahrungen getroffen werden. Letztere bezeichnet Kant als „a posteriori“. Um aber aus Erfahrungen Rückschlüsse schließen zu können, bedarf es, so Kant weiter, des Verstandes. Denn nur mit seiner Hilfe kann man zu einem Erkenntnisgewinn kommen. Daher so Kant:

„Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Daher ist es ebenso notwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen […] als seine Anschauungen sich verständlich zu machen […]. Beide Vermögen, oder Fähigkeiten, können auch ihre Funktionen nicht vertauschen. Der Verstand vermag nichts anzuschauen, und die Sinne nichts zu denken.“ (Ebenda)

In seinem zweiten Hauptwerk (Kritik der praktischen Vernunft) beschäftigt sich Kant mit den drei Fragen: „Was kann ich wissen?“, „Was soll ich tun?“ und „Was darf ich hoffen?“. Zudem schreibt er über Freiheit, definiert den kategorischen Imperativ und äußert sich zum moralischen Handeln, welches für Kant der Garant zum Glück ist. Eine Prämisse für Kant ist hierbei, dass Freiheit eine Voraussetzung für moralisches Handeln ist. Dazu, so Kant, sei es „a priori (moralisch) notwendig, das höchste Gut durch Freiheit des Willens hervorzubringen.“ (Ebenda). Der Wille muss daher absolut frei sein. Nur wenn diese Voraussetzungen gewährleistet sind, kann der kategorische Imperativ angewendet werden: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ (Ebenda). Sobald der Wille von äußeren Einflüssen beeinflusst ist, kann er, laut Kant, nicht mehr frei sein. Daher müssen die Maximen des Willens aus reiner Vernunft entstehen. Freiheit und Moral sind also unwiderruflich mit einander verbunden. Siegfried König schreibt hierzu:

„Kant verknüpft Freiheit und moralisches Gesetz so eng, dass beide zu den zwei Seiten der gleichen Medaille werden. Freiheit besteht darin, dass Sie dem moralischen Gesetz gehorchen und moralisches Handeln ist umgekehrt der einzige Ausdruck von Freiheit.” (König 2017, S. 85)

Legt man den kategorischen Imperativ zugrunde, dann lässt sich auch Kants Einstellung zu den Menschenrechten erklären. So schreibt Kant:

„Das moralische Gesetz ist heilig (unverletzlich). Der Mensch ist zwar unheilig genug, aber die Menschheit in seiner Person muß ihm heilig sein. […] Nur der Mensch, und mit ihm jedes vernünftige Geschöpf, ist Zweck an sich selbst. Er ist nämlich das Subjekt des moralischen Gesetzes, welches heilig ist, vermöge der Autonomie seiner Freiheit.“ (zit. nach König 2017, S. 85)

Daher müssen laut Kant alle Menschen gleich behandelt werden. Hierzu schreibt er:

„Der praktische Imperativ wird also folgender sein: Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ (Kant 1785, S. 42)

Dieser Gedanke von Kant spiegelt sich auch im Artikel 1 Absatz 1 des deutschen Grundgesetzes wider. Er lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ (Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz, o. J.) Vielen Menschen ist jedoch nicht bewusst, dass dieser Artikel erst durch Kant und seiner Vorstellung von Freiheit eine noch tiefere Bedeutung hat, als es auf den ersten Blick erscheint.

4.2 The day after tomorrow

„Der Begriff der Freiheit ist der Schlüssel zur Erklärung der Autonomie des Willens“ (Kant 1785)

Immanuel Kant (1724–1804)

In der Geschichte der Menschheit gibt es immer wieder Ereignisse, die so unfassbar sind, dass der menschliche Verstand sie in seinen Ausmaßen nicht begreifen kann. Doch das Unvorstellbare trat immer wieder ein und wird auch in Zukunft uns oft unerwartet und mit aller Gewalt treffen. Dabei kann es sich um ganz unterschiedliche Szenarien handeln, wie die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl im Jahre 1986, der Völkermord in Ruanda, dem 1994 bis zu einer Million Menschen zum Opfer fielen, die Terroranschläge vom 11. September 2001 oder der Ausbruch der Corona-Pandemie in 2020, um einige Beispiele aus der jüngsten Zeit zu nennen. Allen ist gemeinsam, dass durch sie die Lage vollständig außer Kontrolle geriet, normale Abläufe nicht mehr gewährleistet waren und sich eine drohende Handlungsunfähigkeit anbahnte. Die dabei auftretende scheinbare Macht- und Ausweglosigkeit kann sich zudem lähmend auf die Handlungsfähigkeit auswirken und zu einer weiteren Eskalation der Situation beitragen, die dann immer mehr aus den Fugen zu geraten droht. Zwar existieren für viele mögliche Katastrophen Krisenpläne, doch meist handelt es sich dabei um Modelle, in denen verschiedene Szenarien theoretisch durchgespielt werden. In extremen Ausnahmesituationen können sie deshalb nur partielle Hilfe bieten. Wenn aber das Unvorhersehbare geschieht und das Unwahrscheinliche eintritt, kommen Konsequenzanalysen und Risikoabwägungen an ihre Grenzen. Auch das maschinelle Lernen und die künstliche Intelligenz können dann keine Lösungen mehr anbieten. Aus der Sicht Kants nähert man sich nun einer Situation, in der Entscheidungen aus Mangel an empirischen Untersuchungen oder Befunden a priori gefällt werden müssen.

Für Politiker und Wissenschaftler bedeutet dies eine sehr große ethische Verantwortung, da sie Entscheidungen frei von äußeren Einflussnahmen und Zwängen treffen müssen. Nicht alle sind dem gewachsen, und es wird vor allem in der Corona-Krise deutlich, dass einige politische Staatsoberhäupter sich nicht als Weltbürger aufführen, sondern egoistisch nationale und wirtschaftliche Interessen dem Vorrang geben, was auf Kosten anderer Nationen oder der von sozialschwachen Bevölkerungsschichten geht. Insbesondere in diesen Ausnahmesituationen wird die Bedeutung von Humboldts Bildungsideal als das eines autonomen Individuums und Weltbürgers deutlich. Auf dem ersten Blick scheinen sich die beiden Ideale auszuschließen, aber wenn man sie aus Kants Sichtweise betrachtet, machen sie Sinn. Denn nach Kant kann nur ein Mensch, der frei von äußeren Einflussnahmen ist, Entscheidungen treffen, die den Vernunftprinzipien des kategorischen Imperativs folgen, oder wie er es ausdrückt: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ (Kant 2019). Die Wissenschaft muss hier einen wichtigen Beitrag leisten, da sie zu globalen Problemen wie Klimaschutz, Umweltverschmutzung und Pandemien Lösungen anbieten muss, die dem Wohl der Allgemeinheit dienen. Deshalb ist die wissenschaftliche Freiheit ein Grundpfeiler für zukünftige Entscheidungen im Sinne einer globalen Verantwortungsgemeinschaft.

4.3 Armageddon – Das Jüngste Gericht

„Die eigentliche Moralität der Handlungen (Verdienst und Schuld) bleibt uns daher, selbst die unseres eigenen Verhaltens, gänzlich verborgen. Unsere Zurechnungen können nur auf den empirischen Charakter bezogen werden. Wie viel aber davon reine Wirkung der Freiheit, wie viel der bloßen Natur und dem unverschuldeten Fehler des Temperaments, oder dessen glücklicher Beschaffenheit (merito fortunae) zuzuschreiben sei, kann niemand ergründen, und daher auch nicht nach völliger Gerechtigkeit richten.“ (Kant 2019)

Immanuel Kant (1724–1804)

In der aktuellen Diskussion um die Corona-Krise wird u. a. auch über die Notwendigkeit von „Triage“ Maßnahmen debattiert. Der Begriff „Triage“ kommt aus der französischen Sprache und bedeutet soviel wie „Auswahl“. Ursprünglich wurde die Triage in der Militärmedizin eingeführt, um eine optimale Versorgung von verwundeten Soldaten gemäß der Schwere ihrer Verletzungen zu gewährleisten. Heute wird der Begriff nicht nur bei der Erstversorgung in militärischen Einsetzen, sondern in der Katastrophennotfallversorgung, wie bei Erdbeben, Flugzeug- und Zugunglücken oder Terroranschlägen verwendet. Je nach Art des Unglücks können verschiedene Triage-Bewertungssysteme zum Einsatz kommen. Im deutschsprachigen Raum hat sich das Manchester Triage-System durchgesetzt. Um Patienten gemäß der Schwere ihrer Verletzungen oder Erkrankungen zu behandeln, wurden Farbkodexe mit sog. Sichtungskategorien eingeführt. Beispielsweise bedeutet im Manchester Triage-System die Farbe „rot“, dass ein Patient sofort behandelt werden muss, „orange“ und „gelb“ stehen für „sehr dringend“ bzw. „dringend“, während bei den Farben „grün“ (normal) und „blau“ (nicht dringend) Entwarnung gegeben werden kann.

Mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie steht die Weltgemeinschaft 2020 vor einer der größten Herausforderungen seit Ende des 2. Weltkrieges. Um der enormen Ausbreitungsgeschwindigkeit des Covid-19 Virus entgegenzutreten, mussten drastische Maßnahmen eingeführt werden, mit denen teilweise geltende ethische Wertesysteme sehr strapaziert wurden. Besonders betroffen waren dabei Ärzte und das Pflegepersonal, da sie aufgrund von fehlendem Ausrüstungsmaterial oder medizinischer Apparatur nicht mehr jedem Patienten eine gleichwertige Behandlung ermöglichen konnten. Sollte man denken, dass eine solche medizinische Notfallsituation für einen technologisch so fortschrittlichen Kontinent wie Europa undenkbar sei, hat man weit gefehlt. Die Krise zeigt mit einer grausamen Deutlichkeit, wie viele europäische Länder mit einem maroden Gesundheitssystem zu kämpfen haben. So klagten viele italienische Ärzte über fehlende Beatmungsgeräte. Diese sind notwendig, um schwerst-erkrankte Corona-Patienten künstlich beatmen zu können. Als Folge der unzureichenden Ausstattung wurden Ärzte vor die qualvolle Entscheidung gestellt, welchen Patienten durch künstliche Beatmung das Leben gerettet werden sollte. Dass sie damit für die andere Patientengruppe ein Todesurteil unterzeichneten, macht deutlich, welche Verantwortung die Ärzte damit auf sich laden mussten. Um Ärzten bei der Entscheidungsfindung zu helfen, hatte die italienische Gesellschaft für Anästhesie, Analgesie, Reanimations- und Intensivmedizin (SIAARTI) den Intensivmedizinern u.  a. empfohlen, Patienten mit einer voraussichtlich höheren Lebenserwartung bevorzugt zu behandeln. Dabei solle „das Prinzip der Nutzenmaximierung für die größte Zahl von Menschen“ gelten“ (SIAARTI 2020). Im Umkehrschluss würde dies bedeuten, dass ältere Patienten mit Vorerkrankungen im Sinne eines Triage-Verfahrens von einer Behandlung unter bestimmten Voraussetzungen ausgeschlossen werden müssen.

Diese Empfehlung hat in Deutschland eine ethische Diskussion ausgelöst. So schreibt beispielsweise die Philosophieprofessorin Weyma Lübbe, ehemaliges Mitglied im Deutschen Ethikrat, dass die Zielvorgabe des SIAARTI beunruhigend sei, weil mit diesem Vorschlag die eigentliche Bedeutung der Triage, nämlich ein Maximum an Leben zu retten, keinen Sinn mehr mache. Da man über Nutzungsmaximierung spreche, so die Philosophin, würde man in dieser Äußerung eine Maxime des Utilitarismus, also der zweckorientierten Nutzethik, wiedererkennen. Zudem zeige es, dass die SIAARTI die Begründungslogik der Triage missverstanden habe (Lübbe 2020). Die Tragweite der Empfehlung des SIAARTI wird besonders ersichtlich, wenn man ihre Konsequenzen betrachtet. So mag man sich nicht ausdenken, welche Empfehlungen die SIAARTI im Sinne der zweckorientierten Nutzethik geben würde, falls nur ein Beatmungsgerät für zwei Personen zur Verfügung steht, die voraussichtlich die gleiche Lebenszeit vor sich haben. Sollte man dann gemäß dem Prinzips der Nutzenmaximierung andere Parameter, wie ethnische Herkunft, sozialer Status oder Berufsstand mit einbeziehen? Die Folgen eines solchen Selektionsprinzips wären mit unseren heutigen Werte- und Normensystemen nicht vereinbar.

Am 26. März 2020 veröffentliche die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) zusammen mit sechs anderen Fachgesellschaften eine Pressemitteilung mit einer gemeinsamen klinisch-ethischen Empfehlung (DIVI 2020). In dieser Erklärung heißt es, dass die klinische Erfolgsaussicht, also die Wahrscheinlichkeit, ob der Patient die Intensivbehandlung überleben wird, als Kriterium für die Zuteilung von Ressourcen in Notfallsituationen ausschlaggebend sein soll. Es darf dabei nicht in der Verantwortung des Arztes liegen, Menschen oder Menschenleben zu bewerten. Es wird weiterhin ausdrücklich in dem Dokument betont, dass das Alter für die Beurteilung der klinischen Erfolgsaussicht keine Rolle spielen darf.

Auch der deutsche Ethikrat gab eine Stellungnahme zu diesem Thema nach Anfrage des Bundesgesundheitsministers, Jens Spahn, ab. In einem achtseitigen Dokument mit dem Titel Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise (Deutscher Ethikrat 2020), kommt der Ethikrat u. a. zu dem Schluss, dass es einen basalen Diskriminierungsschutz für alle Menschen geben muss, um die Einhaltung der Menschenwürde garantieren zu können. Dies impliziert, dass es dem Staat nicht erlaubt ist, weder über den Wert eines menschlichen Lebens zu urteilen, noch Bewertungen vorzunehmen, die den Nutzen oder die Dauer seines Lebens betreffen. Staatliche Stellungnahmen, die Maßnahmen zur Regulierung von Überlebenschancen und Sterbensrisiken in akuten Krisensituationen betreffen, seien daher unzulässig. Da jeder Mensch, so der Ethikrat in seiner Erklärung, den gleichen Schutz für sich in Anspruch nehmen kann, sind staatliche Bewertungskriterien, die z. B. das Geschlecht oder die ethnische Herkunft betreffen, nicht erlaubt. Ebenso darf der Staat keine Unterscheidungen treffen, die sich auf das Alter, den sozialen Stand oder eine prognostizierte Lebenserwartung beziehen. Damit distanziert sich der Ethikrat deutlich von den utilitaristischen Empfehlungen der SIAARTI. Vielmehr sei es die Pflicht des Staates sicherzustellen, so der Ethikrat, dass möglichst vielen Menschen das Leben gerettet werden kann. Dies bedeutet vor allem, die Grundlagen der Rechtsordnung zu garantieren. Um dies zu gewährleisten, empfiehlt der Ethikrat eine staatliche Zusammenarbeit in Krisenzeiten mit Vertretern aus unterschiedlichen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Bereichen. Denn es dürfe nicht zu einer Situation kommen, in der wichtige Entscheidungen einzelnen Personen oder Organisationen überlassen werden. Extremsituationen erfordern daher in besonderen Maße eine ausgewogene und besonnene politische Verantwortung. Deshalb bezeichnet der Ethikrat die Corona-Krise als „die Stunde der demokratisch legimitierten Politik“ am Ende seiner Stellungnahme.

Mit ihren Aussagen vertreten sowohl die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin als auch der Deutsche Ethikrat einen Standpunkt, in dem die Würde des Menschen Vorrang vor staatlichen Interessen hat. Besonders deutlich ist hier der Ethikrat, da er sich eine staatliche Einflussnahme verbittet. Zugleich fordert er aber, dass die Bundesregierung alle Voraussetzungen schaffen muss, damit auch in Notsituationen die Menschenrechte eingehalten werden können. Mit anderen Worten, es muss in der Pflicht des Staates liegen, seine Bürger so zu schützen, dass sie nicht zu Menschenrechtsverletzungen gezwungen werden, wie es im Falle einer Triage für einen behandelnden Arzt zutreffen kann.

4.4 Jäger des verlorenen Schatzes

„Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ (Kant 2019)

Immanuel Kant (1724–1804).

Um auf die Eingangsfrage zurückzukehren, warum Ethik in der Wissenschaft wichtig ist, lohnt es sich noch einmal, sich den Ausspruch aus der Gesta Romanorum zu vergegenwärtigen: „Quidquid agis, prudenter agas et respice finem“ (Gesta Romanorum 1872) (Was auch immer du tust, du mögest klug handeln und berücksichtige das Ende). In dem Zitat geht es um die Abschätzung von Kausalprinzipien, also über die Verknüpfung von Ursache und Wirkung, deren Erkenntnisse aber erst in der Zukunft sichtbar werden. Für Kant sind Erkenntnisse entweder a priori oder a posteriori gültig. Im letzteren Fall stützen sie sich auf Erfahrungen. Sind sie jedoch unabhängig von jedweder Erfahrung, werden sie von ihm als a priori bezeichnet. Beispiele für a priori hergeleitete Erkenntnisse sind Axiome, da sie als nicht-deduktiv ableitbare und widerspruchsfreie Grundsätze eine wichtige Funktion in der Mathematik haben. Kant definiert Axiome als „synthetische Grundsätze a priori, sofern sie unmittelbar gewiß sind.“ (Kant 2019). In der Philosophie haben Axiome, laut Kant, keinen Platz. So schreibt er:

„Die Philosophie hat also keine Axiomen und darf niemals ihre Grundsätze a priori so schlechthin gebieten, sondern muß sich dazu bequemen, ihre Befugnis wegen derselben durch gründliche Deduktion zu rechtfertigen.“ (Ebenda)

Das Kausalitätsprinzip hat eine große Bedeutung bei der Erstellung von Krisenplänen. Diese basieren auf bereits vorhandenen Erfahrungen und Erkenntnissen von früheren Katastrophen oder eingespielten Szenarien (a posteriori). Sie bilden die Grundlage für Handlungspläne, die eventuell eintretende Krisen verhindern oder bekämpfen sollen. In der heutigen Zeit werden Krisenpläne oft unter Zuhilfenahme von modernsten Technologien und computerunterstützten Modellen entwickelt. Die Geschichte zeigt jedoch immer wieder, dass in Extremfällen Krisenpläne dann versagen, wenn Horrorsituationen eintreten, die mittels des Kausalitätsprinzips nicht mehr erklärbar sind. Um dies zu verstehen, muss man bei der Verwendung des Kausalitätsprinzips den temporären Aspekt mit berücksichtigen. Denn wenn die Wirkung einer Ursache in der Vergangenheit liegt, kann man so lange nach Gründen suchen, bis eine logische Erklärung für das Geschehene gefunden wurde. Liegt die Wirkung des Ereignisses jedoch in der Zukunft, ist die Analyse möglicher Ursachen, die Ereignisse beeinflussen können, deutlich erschwert. Denn es besteht das Risiko, dass in die Überlegungen nicht alle Faktoren, die den Vorgang auf ihre Wirkung hin beeinflussen können, einbezogen werden.

Um die Anzahl der nicht berücksichtigten Faktoren zu minimieren, ist es u. a. Aufgabe der Wissenschaft, neue und verbesserte Modelle zu entwickeln, mit denen Vorgänge in der Zukunft immer besser vorhersagbar werden. Dabei werden die Methoden immer ausgefeilter und effizienter und als Folge dieser Entwicklungen die Voraussagungen auch immer genauer. Mit der stetigen Entwicklung verbesserter wissenschaftlicher und technischer Möglichkeiten und Algorithmen kann daher ein Pseudovertrauen in die Vorhersagekraft und Handlungsempfehlungen dieser Modelle vorgegaukelt werden. Normalerweise führt dies nicht zu Problemen, aber wenn eine Situation vollständig aus dem Ruder gerät, wie in der Corona-Krise, kann es zu einem totalen Versagen von Krisenplänen kommen. So mussten beispielsweise, wie bereits beschrieben, überlastete Ärzte in Italien ad hoc Entscheidungen über Leben und Tod treffen, da es an technischer Ausrüstung fehlte. Diese Horrorszenarien zwingen Ärzte, Entscheidungen zu treffen, in denen nicht mehr ihre medizinische Fachkompetenz gefragt ist. Hier müssen stattdessen ethische Prinzipien Anwendung finden. Für Ärzte bedeutet dies eine zusätzliche Belastung, die weit über die normale berufliche Qualifikation hinausgeht.

Wie bereits beschrieben, befinden wir uns in einer Zeit des Umbruchs. Die Corona-Krise hat nur zu deutlich gezeigt, wie fragil unsere Weltgemeinschaft ist und was passieren kann, wenn in einer Pandemie unser Wertesystem so sehr infrage gestellt wird, dass ein Leben nicht mehr geschützt werden kann. Andere und vielleicht schlimmere Krisen werden folgen. So sterben beispielsweise allein in Europa jährlich mehr als 30.000 Menschen an bakteriellen Infektionen, verursacht von multi-resistenten Keimen. Auch hierbei handelt es sich um eine tickende Bombe. Deshalb ist es nur eine Frage der Zeit, wann eine bakterielle Pandemie über Europa hinwegfegen wird. Aber auch andere Gefahren drohen. So können die Auswirkungen der Umweltzerstörung und des Klimawandels noch verhängnisvollere Katastrophen auslösen. Hier ist dringender Handlungsbedarf gefordert, um drohende Gefahren abzuwenden. Experten warnen schon seit langen, dass man nicht mehr länger warten darf, da es in absehbarer Zeit keine Möglichkeiten mehr geben wird, mit denen die Erde und somit auch die Menschheit gerettet werden können. Diese Problematik trifft auch auf die Politik und Wirtschaft zu. Wachsender Nationalismus, falsch verstandene Globalisierung und Neoliberalismus, gepaart mit religiösen Konflikten, lassen ständig neue Brandherde entstehen, die auf den Schultern der Ärmsten ausgetragen werden und immer wieder neue Flüchtlingswellen auslösen. Die kommende Zeit wird uns daher in vielerlei Hinsicht vor enorme und nicht vorhersehbare Herausforderungen stellen.

Leider ist es der Weltgemeinschaft trotz des rasanten wissenschaftlichen Fortschritts, sei es in der Medizin, in den Natur-, Ingenieur- Politik- oder Wirtschaftswissenschaften, bislang nicht gelungen, erfolgsversprechende Konzepte zu entwickeln. Die Corona-Pandemie hat gezeigt, wie fragil unser doch so scheinbar fortschrittliches und kontrolliertes Leben ist. Wahrscheinlich ist, dass weitere Unglücke, gleichen oder schlimmeren Ausmaßes, folgen werden. Jedes wird neue und möglicherweise unvorhersehbare Herausforderungen mit sich bringen, sei es durch Naturkatastrophen, Kriege oder aufgrund von globalen wirtschaftlichen Krisen. Die Vergangenheit hat uns gelehrt, dass Krisenpläne wichtig und bis zu einem gewissen Grad hilfreich sind. Falls aber in Ausnahmesituationen diese Krisenpläne versagen, werden nicht nur fachliche sondern auch ethische Kompetenzen von Wissenschaftlern, Ingenieuren, Ärzten, Politikern und Wirtschaftsexperten von großer Bedeutung sein. Eine Ausbildung gemäß dem Humboldtschen Bildungsideal kann hierzu einen wichtigen Beitrag leisten.

Ethische Ansprüche müssen auch bei der Weiterentwicklung digitaler Technologien gestellt werden. Einige Experten warnen bereits jetzt schon vor der Gefahr, dass die Verantwortung für menschliches Leben vollständig Algorithmen überlassen werde. Es wird daher u. a. gefordert, dass künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen nicht dazu verwendet werden dürfen, um ethische Verantwortungen aus der Hand zu geben. Daher muss, so wie es Erich Fromm bereits 1968 vorausschauend formulierte (Fromm 1968), eine Gesellschaft so gestaltet werden, dass die Technik im Dienst des menschlichen Wohl-Seins steht und nicht umgekehrt.

In Zeiten der Veränderung kann die Rückkehr zu bewährten Werten dazu verhelfen, neue Perspektiven für die Zukunft zu schaffen und Menschen beim Übergang in eine neue Epoche Halt zu geben. So ist z. B. der aufgeklärte Humanismus aufgrund der Rückbesinnung der Renaissance auf die antiken Lehren entstanden. Auch Humboldts Bildungsideal eines autonomen Individuums und Weltbürgers ist einer Rückbesinnung auf die Antike geschuldet. Dabei sind Humboldts Vorstellungen heute immer noch wichtig wie vor 200 Jahren und sie werden in Zukunft sehr wahrscheinlich immer mehr an Bedeutung gewinnen. Das Humboldtsche Prinzip verlangt, dass die Wissenschaft dazu beitragen muss, dass ethische Prinzipien eingehalten werden und vorausschauend gehandelt wird. Diese Fähigkeiten werden insbesondere in außergewöhnlichen Krisensituationen dringendst benötigt. Deshalb ist es notwendig, dass die Wissenschaft auf diese Zeit vorbereitet und sie sich ihrer ethischen Verantwortung bewusst ist.