Im März 2020 hat der Gesetzgeber ein umfangreiches Maßnahmenpaket zur Abmilderung der juristischen und wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie beschlossen. Hieraus ergeben sich Konsequenzen für die in der Unternehmenskrise zu beachtenden Pflichten, insbesondere für die Antragspflicht (Kap. 9) und das Zahlungsverbot (Kap. 11).

19.1 Aussetzung der Antragspflicht

Durch das „COVID-19-Insolvenzaussetzungsgesetz“ (abgekürzt: COVInsAG) wird die Insolvenzantragspflicht (Kap. 9) vorübergehend ausgesetzt, jedoch doch nur für solche Fälle, in denen die Insolvenzreife des betroffenen Unternehmens erstens gerade auf der Corona-Pandemie beruht und wenn zweitens im Fall von Zahlungsunfähigkeit (Kap. 7) zumindest eine Chance auf deren Beseitigung besteht.Footnote 1

Hier hilft jedoch eine vom Gesetzgeber direkt im COVInsAG formulierte Vermutung: War das Unternehmen am 31. Dezember 2019 noch nicht zahlungsunfähig, so wird vermutet, dass zum einen die Insolvenz gerade Folge der Corona-Pandemie ist und dass zum anderen noch eine Chance auf Beseitigung der Zahlungsunfähigkeit außerhalb eines Insolvenzverfahrens besteht.

Im Klartext bedeutet das: Geschäftsführer und Vorstände von zahlungsunfähigen und/oder überschuldeten Unternehmen, die zwar durch die Corona-Pandemie in eine Schieflage geraten sind, die aber grundsätzlich wirtschaftlich lebensfähig sind, müssen auch bei Eintritt eines Insolvenzgrundes (Kap. 6) nicht zum Insolvenzgericht gehenFootnote 2 – und folglich auch nicht die persönlichen zivil- und strafrechtlichen Haftungsfolgen fürchten, die das Gesetz normalerweise an die Verletzung der Insolvenzantragspflicht knüpft (Kap. 12 und Abschn. 14.2).

Die Aussetzung der Antragspflicht ist ein schwerer Eingriff in das Wirtschaftsrecht und bedeutet eine erhebliche Reduzierung des Gläubigerschutzes (Abschn. 3.1). Dennoch ist die Aussetzung gerechtfertigt und verhältnismäßig, um noch schlimmere wirtschaftliche Verwerfungen zu verhindern. Der Gläubigerschutz muss zurücktreten, um eine plötzliche Welle von Unternehmensinsolvenzen mit unabsehbaren Konsequenzen zu vermeiden.Footnote 3 Für die Aussetzung der Antragspflicht gilt wie für die übrigen Regelungen des COVInsAG: Der Zweck heiligt die Mittel!

Für natürliche Personen, insbesondere Einzelunternehmer, die ohnehin per se keiner Antragspflicht unterliegen (Abschn. 9.4), stellt das COVInsAG klar, dass die verzögerte Einleitung eines (Privat-) Insolvenzverfahrens keinen Grund für eine spätere Versagung der Restschuldbefreiung bedeutet (Abschn. 17.3).

19.2 Zeitraum der Antragspflichtaussetzung

Die Aussetzung der Antragspflicht durch das COVInsAG (Abschn. 19.1) gilt zeitlich nicht unbeschränkt, sondern zunächst bis zum 30. September 2020. Der Gesetzgeber sieht jedoch die Möglichkeit vor, dass der Zeitraum der Aussetzung der Antragspflicht (Aussetzungszeitraum) bei Bedarf bis zum 31. März 2021 verlängert werden kann.

Der Aussetzungszeitraum ist nicht nur hinsichtlich der Antragspflicht von Bedeutung, sondern auch für andere Maßnahmen des COVInsAG (Abschn. 19.3 und 19.4).

Nach dem Ende des Aussetzungszeitraums wird die Rechtslage (nach heutigem Stand) wieder dieselbe sein, wie sie vor dem Aussetzungszeitraum bestanden hat. Dann ist die Insolvenzantragspflicht (Kap. 9) wieder generell einschließlich ihrer haftungsrechtlichen Konsequenzen (Kap. 12 und Abschn. 14.2) zu beachten.

A c h t u n g: Sobald bekannt ist, wann der Aussetzungszeitraum tatsächlich enden wird, müssen Organvertreter dafür Sorge tragen, dass spätestens mit der Rückkehr zur früheren Rechtslage wieder die relevanten Fristen – insbesondere der Drei-Wochen-Zeitraum im Rahmen der Zahlungsunfähigkeit (Abschn. 7.1), der Prognosezeitraum bei Überschuldung (Abschn. 8.4) und drohender Zahlungsunfähigkeit (Abschn. 7.6) und die Sanierungsfrist (Abschn. 9.7) – zu beachten sind. Ab dem Ende des Aussetzungszeitraums (Abschn. 19.2) müssen also wieder alle Voraussetzungen und Regeln des strengeren Rechts (Kap. 9) erfüllt sein. Um sich keinem Fahrlässigkeitsvorwurf auszusetzen, haben Geschäftsführer und Vorstände ihre Unternehmen deshalb rechtzeitig auf das Ende des Aussetzungszeitraums vorzubereiten.

19.3 Aussetzung des Zahlungsverbotes

Solange die Antragspflicht nach dem COVInsAG ausgesetzt ist (Abschn. 19.2), wird auch das Zahlungsverbot (Kap. 11) eingeschränkt. Das geschieht in der Weise, dass der Gesetzgeber das Spektrum der nach der Rechtfertigungsklausel erlaubten Zahlungen (Abschn. 11.10) erheblich erweitert.

So gelten nach dem COVInsAG alle Zahlungen, die „im ordnungsgemäßen Geschäftsgang erfolgen, insbesondere Zahlungen, die der Aufrechterhaltung oder Wiederaufnahme des Geschäftsbetriebs [des in die Krise geratenen Unternehmens] oder der Umsetzung eines Sanierungskonzepts dienen“, als erlaubte Zahlungen (Abschn. 11.10).

Auch insoweit werden Geschäftsführer und Vorstände also deutlich entlastet, indem ihnen das Risiko einer Haftung wegen eines Verstoßes gegen das Zahlungsverbot (Kap. 11) weitgehend abgenommen wird.

V o r s i c h t: Auch für das Zahlungsverbot gilt: früher oder später – konkret: mit dem Ende des Aussetzungszeitraums (Abschn. 19.2) – gilt wieder das strengere Recht, also das Zahlungsverbot in der Fassung vor März 2020 und die daran anknüpfende Innenhaftung (Kap. 11). Auch insoweit müssen Geschäftsführer und Vorstände beizeiten Vorkehrungen treffen.

19.4 Weitere Regelungen und Bewertung des COVInsAG

Zusätzlich zur Aussetzung der Insolvenzantragspflicht (Abschn. 19.1) und des Zahlungsverbotes (Abschn. 19.3) sind nach dem COVInsAG vorübergehend auch Insolvenzanträge von Gläubigern nur möglich, wenn der Insolvenzgrund bereits am 01. März 2020 bestanden hat. Die ohnehin seltenen, weil mit hohen Hürden und Haftungsrisiken für den Antragsteller verknüpften Fremdanträge (Abschn. 10.1) werden damit nochmals erschwert.

Im Übrigen reduziert das COVInsAG für Vertragspartner das Risiko der Insolvenzanfechtung (§§ 129 ff. InsO)Footnote 4 und begünstigt Sanierungsdarlehen sowie bestimmte Gesellschafterdarlehen.Footnote 5 So wird etwa die Gefahr einer späteren Anfechtung insbesondere für solche Rechtshandlungen verringert, die einem Vertragspartner gewährt werden, um dessen wirtschaftliches Überleben zu sichern (Beispiele: Sanierungskredit, Stundung (Abschn. 7.3), Einforderungsverzicht (Abschn. 7.4), Ratenzahlungsvereinbarung, Sicherheitentausch usw.).

Für Organvertreter hat diese Reduzierung des Anfechtungsrisikos auf den ersten Blick aber auch eine Schattenseite. Indem Zahlungen in geringerem Maße angefochten werden können, werden Insolvenzverwalter womöglich vermehrt versuchen, solche Zahlungen von Geschäftsführern bzw. Vorständen über die Innenhaftung zurückverlangen (Abschn. 15.3 und 15.4).

Hier hilft aber die durch das COVInsAG eingeführte Erweiterung der Rechtfertigungsklausel (Abschn. 19.3): Tendenziell wird der Organvertreter zwar häufiger haften, wenn eine Insolvenzanfechtung nicht möglich ist (Abschn. 15.3 und 15.4). Da aber gleichermaßen auch mehr Zahlungen als früher ausdrücklich erlaubt sind (Abschn. 19.3), gleichen sich die Einschränkung der Insolvenzanfechtung zum einen und die Aussetzung des Zahlungsverbotes zum anderen praktisch wieder aus. Für Geschäftsführer und Vorstände dürfte sich im Ergebnis damit kein höheres Haftungsrisiko ergeben.

Insgesamt sind die – wenn auch nur temporären – Eingriffe und Veränderungen der bisherigen Rechtsordnung durch das COVInsAG so außerordentlich, dass sie noch Anfang 2020, also kurz vor der Eskalation der Corona-Krise in Europa, undenkbar gewesen wären. Die vom Gesetzgeber getroffenen Maßnahmen zeigen, wie ernst der Staat die durch die Corona-Pandemie verursachten Verwerfungen nimmt und wie groß die Entschlossenheit der Politik ist, noch schlimmere wirtschaftliche, soziale und gesellschaftliche Folgen zu verhindern.

19.5 Das Wichtigste in Kürze

  • Angesichts der Corona-Pandemie hat der Gesetzgeber die Geltung der Insolvenzantragspflicht (Kap. 9) bis zum 30. September 2020 bzw. 31. März 2021 für alle Unternehmen ausgesetzt, deren Zahlungsunfähigkeit (Kap. 7) oder Überschuldung (Kap. 8) auf den durch die Ausbreitung des Covid19-Virus ausgelösten Verwerfungen beruht und bei denen im Fall der Zahlungsunfähigkeit (Kap. 7) noch eine Sanierungschance außerhalb eines Insolvenzverfahrens besteht. Soweit die Antragspflicht ausgesetzt ist, können Organvertreter weder zivil- noch strafrechtlich persönlich für eine Antragspflichtverletzung haftbar werden (Kap. 12 und Abschn. 14.2).

  • Zeitlich parallel zur Aussetzung der Antragspflicht ist auch das Zahlungsverbot (Kap. 11) für sämtliche Zahlungen im ordnungsgemäßen Geschäftsgang ausgesetzt. Das Risiko einer Inanspruchnahme aus der Innenhaftung (Abschn. 11.2 und 11.3) ist damit für Organvertreter vorübergehend erheblich reduziert.

  • Für natürliche Personen, insbesondere Einzelunternehmer, die keiner Antragspflicht unterliegen (Abschn. 9.4), stellt eine verzögerte Einleitung eines Insolvenzverfahrens vorübergehend keinen Grund für die Versagung der Restschuldbefreiung im Rahmen eines Privatinsolvenzverfahrens dar (Abschn. 17.3).