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„Seit dem bürgerlichen Zeitalter jedoch scheint das westliche Verhältnis zum Spiel etwas aus dem Ruder zu laufen. Geprägt von Idealisierung einerseits und Disziplinierung andererseits, vollzieht es sich in Gestalt einer Hassliebe, die sich in vielen Bemächtigungsstrategien niedergeschlagen hat.“ (Adamowsky 2001, S. 19)

Das Phänomen betrifft alle Sozialformen, es lautet in perfektem Soziologisch: Strukturkomponenten eines bestimmten Sinnzusammenhangs werden in andere Bereiche transferiert. Der heute bekannteste Fall dürfte der Transfer ökonomischer Strukturen in andere Handlungskontexte wie die Medizin, den Sport oder die massenmediale Öffentlichkeit sein. Andere Beispiele sind die militärische Ordnung der frühen Fabrikarbeit, familiäre Verhaltensweisen in Kleinbetrieben, religiöse Einflüsse auf wissenschaftliche Forschung, Elemente öffentlicher Kommunikation wie Inszenierungen und Kampagnen in der Politik. Moderne Organisationen sind schon an und für sich „Multireferenten, d. h. sie können verschiedene Kriterien in ihre Entscheidungsfindungen einbeziehen und folglich zwischen verschiedenen Logiken vermitteln“ (Besio 2012, S. 268). Organisationen verankern in ihrer Binnenstruktur sehr unterschiedliche Erwartungen ihrer Umwelt. Von einer bestimmten Größenordnung an haben alle Rechts- und Öffentlichkeitsabteilungen, Stellen für Eventmanagement, Reiseabrechnungen, medizinische Notfallhilfe und manches mehr.

Das Über- und Ineinandergreifen von Strukturen stellt die wissenschaftliche Beobachtung und Beschreibung vor schwierige Analyseaufgaben. Der Pragmatismus der Praxis nimmt auf die Probleme ihrer wissenschaftlichen Beobachter keine Rücksicht. Man kann, um besser zu verstehen, als Beobachter Grenzen scharf ziehen und dabei trotzdem anerkennen, dass Vermengen und Ineinanderübergehen die Realitäten dominieren.Footnote 1 Schon das vielfältige Vokabular deutet die Problematik an, von Entgrenzung und Entdifferenzierung, Kopplung, Hybridisierung, Bastardisierung, Landnahme, Vermischung, Rekombination (vgl. z. B. Ha 2005) wird gesprochen.

Übergangsphänomene provozieren umstrittene Bewertungen. Ist die Reinform die Idealform und jede Abweichung negativ zu sehen wie zum Beispiel bei künstlerischen Aktivitäten, wissenschaftlicher Forschung oder journalistischer Arbeit? Oder ist die Reinform das Problematische, vielleicht sogar Gefährliche etwa in der Wirtschaft, wo kritisch von „Kapitalismus pur“, oder beim Militär, wo warnend vom „Staat im Staate“ die Rede ist? Im Hintergrund wirkt die klassische Unterscheidung zwischen Perfektion und Korruption weiter. „In der reichen Vielfalt der kosmischen Ordnung konnte diese Differenz von perfekten und korrupten Zuständen an den vielfältigsten Erscheinungen beobachtet werden, aber immer im Blick auf das Wesentliche. In die Differenz von Perfektion/Korruption war mithin eine Richtungsentscheidung, eine hierarchische Struktur eingebaut.“ (Luhmann 1999, S. 11) Diese Asymmetrie mit dem positiven Akzent auf Perfektion hat starken Einfluss auf den Spieldiskurs – auch auf die hier vorgelegten Beschreibungen.

Das Spiel ist willig

Die bisherigen Überlegungen dienen dazu zu verdeutlichen, dass das Auftauchen von Spielen oder von einzelnen Aktionskomponenten des Spiels in nicht-ludischen Sinnzusammenhängen aus einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive nichts Außergewöhnliches ist. Allerdings erwecken die Diskussionen darüber manchmal diesen Eindruck, dass hier mit dem Spiel etwas Außerordentliches geschehe, dass ihm Schlimmes angetan werde oder dass es erfreulicherweise zunehmend mehr Lebensbereiche erobere. Immerhin scheint es so zu sein, dass das Spiel sich gut dafür eignet, besonders wenig Widerstand dagegen leistet, benutzt zu werden. Diese Verfügbarkeit beginnt bei der Selbstverständlichkeit, mit der über Spiele geurteilt wird.

Weder seine enorme Diversität noch das Wissen darum, dass es soziales Leben immer schon begleitet, bewahren das Spiel davor, laufender Beurteilung unterworfen, dabei regelmäßig verurteilt, aber auch immer wieder belobigt zu werden. Spielen scheint ohne einen (oft moralisierenden) Beiklang der Missachtung oder der Achtung keine Beachtung zu finden. Woher diese schiere Unausweichlichkeit eines Werturteils kommt, fragen wir (unter Abschn. 6.1) auf der Grundlage des hier vorgestellten Spielverständnisses und antworten: Weil Spiele sich für Moral so wenig interessieren, werden sie zu einem Lieblingsthema des Moralisierens.

Seine Bewertung als nützlich oder schädlich widerspricht der sozialen Grundfunktion des Spiels, sich aus den Verbindlichkeiten normaler Erwartungszusammenhänge vorübergehend zu befreien. Diese Diagnose beinhaltet nicht die insgeheime Aufforderung, Bewertungen des Spielens bitte zu unterlassen; nützlich oder schädlich ist eine fundamentale Unterscheidung, unter deren Perspektive alles und jeder geraten kann. Aber, hier liegt der Erkenntnisgewinn, wer sie mit Blick auf ludische Aktionen trifft, darf nicht damit rechnen, dass sich die Spielenden davon beeindrucken lassen.

Ziemlich viele „Spielverderber“

Werturteile über das Spielen, so könnte man zuspitzen, sind der Anfang vom Ende der Spielidee. Instrumentalisierungen des Spiels setzen die Werturteile fort und steigern sie, indem sie ludische Aktionen in normales Alltagsgeschehen einbinden. Solche „Spielverderber“ können die Spielenden selbst sein (Abschn. 6.2). Bei den ‚üblichen Verdächtigen‘ handelt es sich um die gesellschaftlichen Funktionsfelder Erziehung und Wirtschaft (Abschn. 6.3). Weit verbreitet sind inzwischen Übernahmen einzelner Spielmethoden (Gamification) oder auch bestimmter Games (serious games) vor allem für Organisationszwecke (Abschn. 6.4).

Expansionen des Spiels werden, soweit wir die Literatur überblicken, erst seit dem 18. Jahrhundert zu einem Thema. Es scheint, dass der Expansionsdrang und die „Steigerungslogik“ (vgl. Schulze 2003), die für die moderne Gesellschaft typisch sind – was neben dem Wirtschaftswachstum unter anderem ein weitaus größeres künstlerisches Angebot, viel mehr wissenschaftliche Publikationen, deutlich mehr rechtliche Regelungen, ein sich ausdehnendes Verkehrssystem beweisen –, auch das Spiel betreffen. Ein großer Schub kam mit der Digitalisierung. „Das stete Wachstum – mehr Spieler, mehr Spiele, höhere Umsätze –, von dem die kulturelle Durchsetzung digitaler Spiele seit den 1970er Jahren gekennzeichnet ist, geschah im Kontext konstanter Veränderung der Bedingungen von Produktion, Distribution und Nutzung.“ (Freyermuth 2015, S. 19)

Schon die Kriterienauswahl („mehr Spieler, mehr Spiele, höhere Umsätze“) zeigt an, dass es dabei nicht nur um das Spielen geht, sondern dass die Expansion auch mit anderen Motiven im Zusammenhang steht. Erwerbsarbeit und ludische Aktion bekommen jetzt noch mehr miteinander zu tun. „Die Produktion von digitalen Spielen ist seit der Jahrtausendwende zur wirtschaftlich bedeutendsten Kulturindustrie im westlichen Kulturraum aufgestiegen, indem sie sowohl die Film- als auch die Musikindustrie mit ihren Umsätzen und Einnahmen abgehängt hat.“ (Helbig und Schallegger 2017, S. 9)

6.1 Gutes Spiel, böses Spiel: Deutungsmuster im Dissens

„Der positiven Nutzung wie Bewertung von Spielen korrelieren freilich ebenso durchgehend fundamentale Kritik und wiederkehrende Verbotsanstrengungen. […] In der westlichen und christlich geprägten Neuzeit reichen sie von den vielfachen Anstrengungen britischer Könige, zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert Vorformen des modernen Fußballs zu verbieten, über den Bann von Flipper-Automaten, der in New York zwischen den 1930er und 1970er Jahren galt, bis zu den in der Gegenwart immer wieder aufflackernden Verbotsrufen für sogenannte ‚Killerspiele‘.“ (Freyermuth 2015, S. 47 f.)

Das lateinische Wort für Spiel heißt Ludus. Das mittelhochdeutsche „luoder“ meint eine Lockspeise (Kluge 1999, S. 527), in der Jägersprache wird z. B. ein toter Hase, der Füchse anlocken soll, Luder genannt. „Ludern“ wiederum heißt so viel wie ausschweifend, liederlich leben. Der „Lude“ taucht Anfang des 20. Jahrhunderts in der Berliner Gaunersprache auf. Das sprachliche Umfeld des Ludischen ist ein wenig anrüchig. Anders als Wirtschaft und Politik, Religion und Recht, Familie und Medizin, deren Praktiken – mit schwankender Reputation – grundsätzlich anerkannt sind und als weitgehend unverzichtbar gelten, steht hinter dem Spiel entweder ein Frage- oder ein Ausrufezeichen. Es wird als das Falsche problematisiert oder als das Wahre gekürt, es wird primär daraufhin beobachtet, welchen Schaden es anrichten und welchen Nutzen es stiften kann.

„Man erwartet einerseits ein Heil von ihm, das es nicht bringen kann – so als löse es alle Probleme, befreie die Menschen endlich zu sich selbst; als überwinde es alle Angst und Entfremdung und als sei es die Verheißung eines glücklichen, lustvoll erfüllten Lebens. Andererseits kritisiert und diffamiert man es als verschleierte Fortsetzung der Arbeitsmonotonie mit anderen Mitteln, als affirmative Scheinbefriedigung ungelöst bleibender gesellschaftlicher Bedürfnisse und damit als ‚systemstabilisierendes‘ Teufelswerk […].“ (Scheuerl 1991, S. 190)

„Auf der einen Seite ist im August 2008 der Bundesverband der Entwickler von Computerspielen (G.A.M.E.) als Mitglied im Deutschen Kulturrat aufgenommen worden […],auf der anderen Seite schaffte es ein Buch, in dem digitale Medien (nicht zuletzt Computerspiele) verantwortlich gemacht werden für Abstumpfung, Übergewicht, Lese‐und Aufmerksamkeitsstörungen, Schlafstörungen und eine allgemeine Verblödung von Kindern und Jugendlichen […] auf Platz 1 der Spiegel‐Bestsellerliste in der Kategorie Sachbuch.“ (Fromme 2012).

„Das Spiel verdirbt den Charakter und mit ihm jeglichen Ehrsinn, alle Sensibilitäten werden zerstört. Der Spieler verliert die Liebe zum Vaterland, zu seinen Nächsten, seinen Eltern, er kümmert sich nicht mehr um seine Familie oder seinen Hausstand; kurz er verliert alle zivilisierenden Elemente, die ihn überhaupt erst zum Menschen machen.“ (Huber 2012, S. 271; Zusammenfassung eines Textes von 1824)

„I look forward to a future in which massively multiplayer games are once again designed in order to recognize society in better ways, and to get seemingly miraculous things done.“ (McGonigal 2011, S. 10)

Spielen unterliegt ständiger Beobachtung und Bewertung, weil es als eine – stark konditionierte, zeitlich ausdrücklich limitierte, nur im Modus der Unverbindlichkeit und des Als ob anerkannte – Selbstbefreiung von den Gewohnheiten der Personen und von den Normalstrukturen der Gesellschaft stattfindet. Allgemeiner und einfacher: Freiheiten und Ordnungen stehen in Spannung zueinander, Spieler stehen unter der Kontrolle der „Ordnungskräfte“, die darauf achten, dass sich niemand zu viele Freiheiten herausnimmt. Stets muss damit gerechnet werden, dass im Spiel etwas geschieht, was im Normalverlauf sozialen Handelns schon deshalb nicht vorkommt, weil es verboten ist, den Gang der Dinge stören würde oder viel zu abwegig, viel zu sehr jenseits aller Realitäten wäre. Unverbindlichkeit und Tun als ob verhindern nicht, dass die Frage nach Schädlichkeit und Nützlichkeit gestellt wird. Dafür sind die Grenzen zwischen ludischen Aktionen und Normalitäten zu durchlässig, die Möglichkeit, dass auch hier versucht wird, was dort gelungen ist, in den Augen vieler nicht hinreichend ausgeschlossen. Unverbindlichkeit und Tun als ob stehen als Verhaltensweisen vielmehr selbst zur Debatte, denn es kann zu jeder der beiden Komponenten sowohl eine negative als auch eine positive Position eingenommen werden.

Auf der Seite des unverbindlichenTuns kritisieren die einen, dass rechtlich und moralisch diskriminierte Verhaltensweisen, beispielsweise Kriminalität und Brutalität, im Spiel praktiziert werden. Sie fassen das Spielen als eine Art Einübung auf, als Gewöhnung an solches Verhalten, und halten es deshalb für gefährlich. Andere hingegen deuten solches unverbindliche Tun therapeutisch als Ersatzhandlungen, die an die Stelle sonst möglicherweise tatsächlich ausgeübter Gewalt und anderen diskriminierten Verhaltens treten.

Auf der Seite des Als ob warnen die einen vor Realitätsverlust, bewerten das Spiel als Versuch, sich Verbindlichkeiten und Verpflichtungen zu entziehen und stufen es als minderwertige Beschäftigung ein. So hat sich die „Gesellschaft für Medienwissenschaft“ mit Computerspielen zum ersten Mal auf einer Tagung unter dem Titel „TV-Trash“ beschäftigt. Computerspiele fanden „über den ‚Müll‘, den ‚Abfall‘, das ‚Ausgesonderte‘ den Weg in die deutsche Medienwissenschaft“ (Neitzel und Nohr 2006, S. 9). Andere dagegen sehen in der Als-ob-Dimension die gute Gelegenheit zu experimentieren, sie betonen die Chance des Probehandelns und sehen im Spiel einen idealen Lernort und Innovationsraum.

Die kritische Auseinandersetzung mit dem Spiel findet mithin auf zwei verschiedenen Ebenen statt. Auf der allgemeinen Ebene, auf der diskutiert wird, ob Spielen an sich schädlich oder nützlich ist, sowie auf der Ebene des einzelnen Spiels mit der Problemstellung, ob es sich um ein gutes oder ein schlechtes Spiel handelt.

Vorsichtige und differenzierte Ergebnisse

Wir geraten hier auf das weite Feld der Wirkungsforschung (vgl. Schenk 2000), intensiviert und kompliziert dadurch, dass Spielerinnen und Spieler nicht nur kommunikativ, sondern auch operativ handeln – aber eben unverbindlich und nur so als ob.

„Computerspiele können sowohl als moralische Objekte als auch als Agenten ethischer Werte verstanden werden. Spielerzählungen, Regelkontexte, Achievements oder Highscores legen nahe, was als richtig und tugendhaft in einem Spiel angesehen wird. Unter dieser Annahme können moralische Dilemmata in Spielen den Spieler für realweltliche moralische Dilemmata sensibilisieren und damit eine ethische Reflexion fördern.“ (Wimmer 2014, S. 274)

Schon die Medienwirkungsforschung alleine kommt nicht zu allgemein anerkannten Befunden (wofür es kommunikationstheoretisch gute Gründe gibt), die Wirkungen von Spielen sind, wie sich an konträren Bewertungen ablesen lässt, eine offene, aber wichtige und deshalb immer wieder neu erforschte Frage (siehe auch Abschn. 5.4). Seriöse Studien auf diesem Themenfeld legen selten harte Ergebnisse vor, sondern vorsichtige und differenzierte. Auf der Grundlage einer Untersuchung der Universität Innsbruck (Greitemeyer und Mügge 2014) berichtete die „Süddeutsche Zeitung“ Anfang 2014: „Alleine seit 2009 sind zur Frage nach den Auswirkungen von Videospielen mindestens 98 einzelne Studien mit insgesamt 36 965 Probanden erschienen – das entspricht etwa einer Veröffentlichung pro Monat.“ (Herrmann 2014) Für Zahlen, Daten, Fakten vor allem, aber nicht nur auf Deutschland bezogen gilt: „Berichte der Lobbyverbände (BIU, Bitkom), Markt- und Mediastudien, Reports von Brancheninsidern, aber auch wissenschaftliche Erhebungen wie die KIM- und JIM-Studien des Medienpädagogischen Forschungsverbands Südwest liefern umfangreiches Zahlenmaterial.“ (Jöckel 2018, S. 18 f.)

6.2 Spielsucht: Eine Verführung des Spiels oder dessen Missbrauch?

Der Dissens der Deutungsmuster, die deskriptiv und präskriptiv über das Spiel gelegt werden, konkretisiert und verschärft sich in den Debatten über das Suchtpotenzial des Spielens. Von Korruption im Zusammenhang mit Spiel spricht bereits Caillois (1960, S. 52–65), und er meint damit Auswüchse, die Spielende sich zuschulden kommen lassen. Für ihn entsprechen „die Prinzipien des Spiels in der Tat mächtigen Trieben (Wettbewerb, Verfolgung der Chance, Verstellung, Rausch)“ und sich selbst überlassen, „können diese ursprünglichen Antriebe, die wie alle Triebe maßlos und zerstörerisch sind, nur bei unheilvollen Folgen enden“ (ebda, S. 64), als da sind Gewalttätigkeit, Machtwille, Aberglaube, Astrologie, Entfremdung, Alkoholismus, Drogen. Das heißt, Caillois sieht das Korruptionsproblem bei Spielern und Spielerinnen, die ihre Triebe nicht beherrschen.

Wir haben (unter Abschn. 2.2) den Wiederholungswunsch, wie er aus ludischen Aktionen entspringt, als Anschlussstelle für ein potenzielles Suchtverhalten ausgemacht. Tatsächliche Spielsucht wäre von unserem theoretischen Zugang aus als Instrumentalisierung des Spiels durch Einzelpersonen zu verstehen. Als öffentliches Thema erhält sie im Zusammenhang mit Computerspielen viel Aufmerksamkeit, weil sie primär bei Jugendlichen einhergehen kann „mit sozialer Isolation, Konflikten mit den Eltern, Schulverweigerung und Vernachlässigung der persönlichen Hygiene und der Nahrungsaufnahme“ (Breiner und Kolibius 2019b, S. 110).“

„Während tagelanger Spielsitzungen ohne Unterbrechung sind Betroffene derart ins Spiel vertieft, dass sie vergessen zu trinken und zu essen – und schließlich erschöpft zusammenbrechen. Es ist wichtig zu bemerken, dass es sich bei all diesen Fällen um seltenes Extremverhalten handelt. Die meisten Computerspieler sind Gelegenheitsspieler oder können als enthusiastische Spieler bezeichnet werden.“ (ebda, S. 108)

Das große öffentliche Interesse am ludischen Suchtpotenzial, das vor dem Computerspiel vor allem dem Glücksspiel als unglücklicher Kombination von Spiel- und Gewinnsucht galt, kann sich kaum auf valide und stabile wissenschaftliche Befunde stützen. „Es gibt bisher weder einen Konsens bezüglich der Diagnosekriterien noch darüber, ab wann Verhalten als pathologisch einzustufen ist. Dies macht den Vergleich einzelner Studien um ein Vielfaches schwieriger und die Einschätzung der Prävalenzraten in der Gesamtbevölkerung nahezu unmöglich. […] Ein großes Problem in der bisherigen Forschung zur Computerspielsucht ist, dass es sich vorwiegend um Querschnittstudien handelt. Daraus kann man lediglich auf einen korrelativen Zusammenhang schließen, wohingegen kausale Schlüsse nicht zulässig sind. Es gibt einen großen Bedarf an Längsschnittstudien im Bereich von Computerspielsucht.“ (ebda, 2019a, S. 153)

Zwei Diskurslinien

Aus der wissenschaftlichen Schwäche erwächst massenmediale Stärke, denn der Journalismus hat die freie Wahl, sowohl entschiedene Positionen zu beziehen, als auch offene Kontroversen auszutragen. Doch die Problematik reicht tiefer, denn es treten zwei Diskurslinien signifikant hervor. Die eine folgt dem Deutungsmuster, dass Spielsucht aus der Verführungskraft des Spiels kommt, die andere sieht die Ursache mehr in der sozialen Lage und/oder in Persönlichkeitsmerkmalen von Spielenden, das heißt, hier wird das Spiel kompensatorisch benutzt, wenn man so will, missbraucht. Es überrascht nicht, dass unter dem Verführungsaspekt eher eine negative Grundhaltung dem Spiel gegenüber vorherrscht, unter dem Missbrauchsaspekt hingegen mehr eine positive Einstellung zum Spiel.

Die Analyseperspektive, die nach Instrumentalisierungen ludischer Aktionen fragt, muss den personalen Bezug überschreiten; er wurde hier nur sehr knapp (wir arbeiten am Baumstamm der Erkenntnis des Spiels, nicht an Zweigen und Blättern) aus Gründen der Vollständigkeit angesprochen. Im Folgenden soll die Kolonisierung des Spiels thematisiert werden, wie sie schon immer von der Erziehung ausging, zunehmend von der Wirtschaft und der Öffentlichkeit praktiziert wird unter tätiger Beihilfe der Politik und der Wissenschaft. Geld und PublicityFootnote 2, zu denken ist vor allem an den Profisport, unterwerfen das Spiel ihren Zwecken, in Europa und Südamerika mit Fußball an der Spitze. Sie erzeugen dabei einen Leistungsdruck, unter dem man trotz bester medizinischer Versorgung viel Glück haben muss, kein „Verletzungspech“ zu haben.Footnote 3 „Rettet das Spiel!“ (Hüther und Quarch 2018), die Appelle, sich auf den Sinn des Spiels (zurück) zu besinnen, und die Erfolge der „Spielverderber“, die mit großem Geld und breiter öffentlicher Aufmerksamkeit aufwarten, stehen sich wie David und Goliath gegenüber.

6.3 Träume von Reinheit und Realitäten des Erfolgs: Erziehung und Wirtschaft dominieren

„Die scheinbar so harmlose Welt zweckfreier Spiele lässt sich offenbar für unterschiedlichste Zwecke ausnutzen, sie lässt sich instrumentalisieren, manipulieren und missbrauchen.“ (Scheuerl 1991, S. 190)

Die Politisierung der olympischen Spiele, die Verrechtlichung des Glückspiels mit seinem regulierten Markt, seinen unregulierten bzw. sanktionierten Grau- und Schwarzmärkten oder die Militarisierung des Spiels auf virtuellen Schlachtfeldern (vgl. Schulze von Glaßer 2014) sind bekannte Phänomene, die temporär auch in der massenmedialen Öffentlichkeit thematisiert werden. Aber es sind ohne Zweifel die Erziehung und die Wirtschaft, die sich vor allen anderen des Spiels bemächtigen. Solche Instrumentalisierungen können so normal werden, dass sie dem Spiel als dessen Funktionen zugeschrieben werden. So listen Breiner und Kolibius (2019a, S. 116) sieben Funktionen des Spiels auf: Die Lern-, Sozial-, Rausch-, Therapie-, Leibes-, Kreativ- und Kulturfunktion.

Dagegen legen wir mit Niklas Luhmann (1997, S. 757) und schon sehr früh Luhmann und Schorr (1979, S. 34 ff.) Wert auf die Unterscheidung zwischen Funktion und Leistung. Die Funktion eines Hundes ist es weder Wache zu halten, Schlitten zu ziehen, Lawinenopfer zu suchen, als Jagdhelfer zu dienen oder Drogen zu finden. Aber er kann für solche Leistungen zugerichtet werden. Leistungen erfordern ein Eingehen auf spezifische, verschiedenartige Erwartungen der Umwelt. Mit solchen vielseitigen Erwartungen ist auch das Spiel konfrontiert. Für das Spiel kommt das Spannungsmoment hinzu, dass es zu seiner Funktion gehört, zweckfrei zu sein; trotzdem oder gerade deswegen können Leistungserwartungen an das Spielen gerichtet werden. Der Funktionsbegriff soll reserviert sein für die Beziehung zu einer Gesamtheit, im Fall des Spiels zur Gesellschaft, im Fall des Hundes zur Natur. Für die Funktion des Spiels wurde im zweiten Kapitel ein theoretisch fundierter Vorschlag gemacht, zur Funktion des Hundes müsste man die biologische Evolutionsforschung befragen. Bei der Funktionsbeschreibung des Spiels war aufgefallen (siehe Abschn. 2.3), dass es aufgrund seines Umgangs mit Unerwartetem eine immanente Nähe zum Lernen aufweist. Die Pädagogik hat mithin gute Chancen, dass das Spiel ihren Leistungserwartungen entgegenkommt.

Tennis for Two im Nuklearforschungszentrum

Für Computerspiele (siehe Kap. 5) hat über Erziehung und Wirtschaft hinaus der militärische Background große Bedeutung, den wir jedoch nur episodisch ansprechen. „Tennis for Two“ gilt gemeinhin als das erste Videospiel, seine Installation und Präsentation im Jahr 1958 anlässlich eines Tages der offenen Tür am Brookhaven National Laboratary (BNI), einem Nuklearforschungszentrum auf Long Island, wurde wiederholt beschrieben (z. B. Schwarz 1990).

„Ihr Konstrukteur, der Physiker William Higinbotham, begann seine Karriere um 1940 am MIT Radiation Lab und war an der Entwicklung des in B-28 Bombern zur Boden-Zielerfassung installierten Eagle Radar Display beteiligt. Später arbeitete er als Ingenieur im Manhattan Project am Zündmechanismus der ersten Atombombe und wurde legendärerweise durch Zeugenschaft ihrer Detonation zum Pazifisten bekehrt. 1958 jedenfalls war er am Instrumentation Department des BNI tätig, das sich mit den zivilen Auswirkungen der Nukleartechnik und u. a. mit der Konstruktion von Geigerzählern befasste. Da aber solcherlei Tätigkeiten nur schwer ausstellbar sind, verschmolzen Higinbotham’s alte militärische Probleme von Ballistik und Timing zum Tag der offenen Tür in der zivilen Semantik fliegender Bälle und im rechten Moment treffender Schläger.“ (Pias 2002, S. 13)

Spielen als pädagogische Maßnahme

Die Pädagogik versteht sich als Herrin des Spiels. Das lässt sich am Unterschied zwischen Sozialisation und Erziehung verdeutlichen. „Sozialisation kommt ohne besondere Aufmerksamkeitsregeln durch Mitleben in einem sozialen Zusammenhang zustande. Sie setzt Teilnahme an Kommunikation voraus, und zwar speziell die Möglichkeit, das Verhalten anderer nicht nur als Faktum, sondern als Information zu lesen“ (Luhmann 1984, S. 280). Jedermann lernt, Annahme und Ablehnung des Wahrgenommenen so zu dosieren, dass sich Verhaltensauffälligkeiten in Grenzen halten. Die gesellschaftlichen Reaktionen auf abweichendes Verhalten haben sich in vielen Ländern seit einem halben Jahrhundert sehr verändert. Die Pädagogik hat eine antiautoritäre Phase erlebt, sie ist offener und reflexiver geworden – und interessiert sich deshalb umso mehr für das Spiel.

Erziehung will sich nicht auf Sozialisationsprozesse verlassen, sondern eingreifen und steuern. „Man definiert die Zustände oder Verhaltensweisen, die man erreichen möchte, würdigt die Ausgangslage (Reifegrad, Begabung, Vorkenntnisse) als Bedingungen und wählt die pädagogischen Mittel, um das, was nicht von selbst geschieht, dennoch zu erreichen.“ (ebda, S. 281) Das Spiel ist dabei das bevorzugte Mittel der Erziehung, weil es unter Beibehaltung der Ziele den Eindruck von Zwang vermeidet. Damit sind nicht nur reibungslosere Lernprozesse verbunden, sondern auch begründete Erwartungen einer nachhaltigeren Akzeptanz des Gelernten, das im fließenden Übergang vom unverbindlichen Tun als ob zum verbindlichen faktischen Verhalten dann auch ohne äußeren Druck praktiziert wird.

„Der eigentliche Impuls für eine Aufwertung des Spielbegriffs geht in der Zeit der Aufklärung jedoch von Rousseau und Locke und der durch sie inspirierten philanthropistischen Erziehungsreform aus. Während Rousseau im Émile (1762) den unersetzlichen Eigenwert des kindlichen Spiels für die Bildung des Individuums wie für die Entwicklung der Zivilisation betont und damit dessen kulturelle Nobilitierung einleitet, entwirft John Locke bereits ein halbes Jahrhundert früher in seiner ersten Abhandlung Some thoughts concerning education (1693) ein systematisches Erziehungskonzept, das auf dem durchgängigen Gebrauch der Spielmethode beruht. […] Die Kinder sollen ein intrinsisches ‚Verlangen nach dem Unterricht‘ entwickeln können, sobald dieser für sie affektiv mit Gefühlen des ‚Vergnügens und der Erholung‘ verknüpft ist.“ (Kaulen 2009, S. 583)

Dass zwischen Spielen als Umgang mit Unerwartetem und Lernen eine enge Verbindung besteht, wird nicht nur von der Pädagogik, sondern auch von der Spielforschung ausgenutzt. Aus beiden Perspektiven wird die Behauptung forciert, dass Spielen und Lernen letztlich identisch seien. Daraus leitet die Pädagogik den Anspruch ab, das Spiel als ihre Domäne zu behandeln und es danach zu be- bzw. verurteilen, ob es dem Lernen nützt oder schadet.

Die Game Studies wiederum erhoffen sich höhere Weihen für ihr Thema, das durchaus in der Gefahr schwebt, nicht ernst genommen zu werden. Adelt es doch das Spiel, mit Lernen, der wichtigsten Kompetenz einer entwickelten Gesellschaft, gleichgesetzt zu werden. Die Game Studies scheuen dabei nicht davor zurück, nicht nur zusammen mit der Pädagogik die Sozialisation zu okkupieren, sondern auch gleich noch ein paar hundert Millionen Jahre zurück zu gehen und die Evolution zu vereinnahmen. „Beim Spielen konnten sich Tiere, während sie sich bewegten, selbst beibringen, zu rennen, zu gehen, zu galoppieren, zu traben und so weiter. Lernen und Spielen wurden gleichzeitig als zwei Teile derselben Entwicklung erfunden. Es ist die reinste Ironie, das wir gegenwärtig darüber nachdenken, ob man Spiele unterstützend beim Lernen einsetzen kann, wo doch tatsächlich Spielen und Lernen zwei Seiten derselben Medaille sind.“ (Crawford 2013, S. 78 f.) Dabei entstehen interessante und inspirierende Überlegungen. Zu diskutieren wäre, ob sie mehr sind als ein gutes Beispiel für die wissenschaftliche Neigung, den zentralen Begriff des eigenen Themas zu einem Catch-all-Begriff zu machen und ihm alles, wenn schon nicht unter-, so doch zuzuordnen.

„Spiele Wirtschaft“ und Spielewirtschaft

„Jede Familie, jeder Clan, jede Stadt und jede Kultur hat ihren eigenen Kommunikationsstrom produziert und prozessiert, lange bevor irgendjemand auf die Idee kam mit der Beförderung von Mitteilungen oder mit der Herstellung eigener Mitteilungen Geld zu verdienen.“ (Hutter 2006, S. 23 f.)

Das Medium Geld ist gesellschaftlich so erfolgreich, dass Erfolg kaum noch anders als in finanziellen Größenordnungen gemessen, mindestens auf seine positiven ökonomischen Folgen hin befragt wird. In der Nähe des Rathauses Schöneberg in Berlin gibt es die „Spiele Wirtschaft“, in der Spielen ohne Verzehr „leider nicht möglich“ ist. In der Spielewirtschaft ist Spielen ohne Bezahlen unmöglich: Das Produkt, sonst wäre es kein Spiel, bleibt dem Umgang mit Unerwartetem und dem Tun als ob verpflichtet, aber vor die freiwillige Teilnahme schiebt sich eine Paywall und/oder im Spiel selbst werden ludische Erfolge (ver)käuflichFootnote 4, das heißt, die Unverbindlichkeit verliert ihre volle Gültigkeit. Zahlende Zuschauer, bezahlte und zahlende Spieler rücken in den Vordergrund. Virtuelle Märkte von Online-Games koppeln über Echtgeld-Transaktionen an die normale Wirtschaft an. „Es ist also möglich, nicht mehr nur an Spielen oder über sie zu arbeiten, sondern in ihnen.“ (Raczinkowski 2018, S. 185). Julian Kücklich (2005) hat dafür die Bezeichnung „Plabour“ (Spiel-Arbeit) geprägt. Im Hintergrund werden Entwicklungs-, Produktions-, Distributions- und Anwendungsbedingungen des Spiels ökonomischer Rationalität angepasst, in Europa und den USA überwiegend von weißen Männern – mit Konsequenzen dafür, welche Spiele überhaupt hergestellt, angeboten und ausgeführt werden. „Games are a multibillion-dollar business that has remainded largely white und largely male.“ (Zaveri 2019, S. 6) Darüber hinaus wäre zu fragen und genauer zu untersuchen, als es bisher geschieht, welche Erfolgsmedien in den Spielen selbst dominieren: Geld, (gewaltgestützte?) Macht, Recht, Wissen, (sexfixierte?) Liebe, Wahrheit, Solidarität (siehe auch Abschn. 4.4).

Die Ökonomisierung des Spiels ist kein isoliertes Phänomen, sie ist ein Unterfall der Ökonomie der Aufmerksamkeit (Franck 2007), von der die öffentliche Kommunikation inzwischen insgesamt weitgehend beherrscht wird mit Unterhaltung an der Spitze. So trägt auch die Spielewirtschaft die beiden Grundmerkmale der Unterhaltungsindustrie:

„Eine unumstößliche Tatsache in diesem Geschäft ist ein hohes Maß an Unsicherheit hinsichtlich des Erfolgs eines jeden Produkts und eine gewaltige Diskrepanz zwischen der Anerkennung derjenigen mit bescheidenem Erfolg und derjenigen mit den wirklich großen Erfolgen.“ (Wu 2012, S. 260)

Ein Umsatzplus von 1,9 Billionen Dollar 2017 auf 2,4 Billionen in 2022 prognostiziert der „PwC Global Entertainment and Media Outlook“ (PwC 2018) der weltweiten Unterhaltungs- und Medienbranche. Und die nächste Cashcow der Gamesbranche? „Videogames publishers and sports entertainment entities increasingly view e-sports as their next big revenue growth engine.“ (ebda, S. 17)Footnote 5

E-Sport: „Die Haltungen differieren stark“

In Deutschland ist es dem E-Sport noch nicht öffentlich anzusehen, dass auf ihm große Hoffnungen der Gamesbranche liegen. Noch vor wenigen Jahren schrieb Tanja Adamus (2013, S. 133), dass „die breite Öffentlichkeit dem E-Sport größtenteils mit Unkenntnis oder Skepsis“ begegnet, anders als dem E-Commerce oder dem E-Learning. Andererseits wurde auch um diese Zeit aus der Binnensicht die Situation des E-Sports schon anders beschrieben: „Auch wenn in Westeuropa im Gegensatz zu Asien und Teilen Nordeuropas die gesellschaftliche Anerkennung (bspw. in Form der Berücksichtigung bei der öffentlichen Sportförderung oder der Aufnahme in die Sportbünde) des E-Sports als Sportart noch nicht vollzogen ist, lässt sich allein in Deutschland heute mehr als eine Million Nutzer digitaler Spieler als E-Sportler in der Form bezeichnen, dass sie sich in sog. Clans (als Äquivalenten zu traditionellen Sportvereinen) und Ligen organisiert haben.“ (Breuer 2011, S. 13)Footnote 6. Im Februar 2019 beschäftigte den Sportausschuss des Deutschen Bundestags in einer Sachverständigen-Anhörung die Frage der Anerkennung des E-Sports als eines förderungswürdigen Sports mit dem „Ergebnis des Gesprächs: Die Haltungen differieren stark.“Footnote 7

Von einem allgemeinen Grundverständnis, was mit E-Sport gemeint ist, kann jedoch ausgegangen werden: „Der Begriff E-Sport (englisch kurz für electronic sport) bezeichnet das wettbewerbsmäßige Spielen von Computer- oder Videospielen im Einzel- oder Mehrspielermodus. E-Sport versteht sich entsprechend des klassischen Sportbegriffs und erfordert sowohl Spielkönnen (Hand-Augen-Koordination, Reaktionsschnelligkeit) als auch taktisches Verständnis (Spielübersicht, Spielverständnis).“ (Müller-Lietzkow 2006, S. 30)

Silicon Valley, Wall Street, Hollywood

Der Sammelband „Global Game Industries and Cultural Policy“ (Fung 2016) gibt einen informativen Gesamtüberblick über Entwicklungen der politischen Ökonomie des Computerspiels in Nordamerika, Europa, Japan, China und Südostasien. Digital games sind voll in der Marktökonomie angekommen, sie gehören sogar zur Avantgarde (siehe Abschn. 5.1). „Der Mix der Games-Branche aus Entertainment, innovativer Technologie, schnellen Produktentwicklungs- und Vermarktungszyklen sowie dem damit einhergehenden Wertschöpfungsprozess übt auf Games-Branchen-fremde Beobachter regelmäßig eine hohe Faszination aus.“ (Anderie 2018, S. 2) Wie sich Technologie, Kapital und ludisches Entertainment miteinander verzahnen und wechselseitig fördern oder auch blockieren, dafür sind die USA mit dem Silicon Valley, der Wall Street und Hollywood ein interessantes Beispiel.Footnote 8

Eine so bunte Sozialsphäre wie das Spiel – die Jubel-Statistiken über Umsatzzahlen der „Global Player“ dürfen nicht für das Ganze genommen werden –, gerät freilich nicht restlos unter das Regime von Bezahlen und Nichtzahlen, längst nicht alle Zugänge zum Spiel sind mit Geld gepflastert. Aber die Träume vom Zauber des unbefleckten Spiels, die Hoffnung darauf, „die befreiende und verbindende Kraft des Spielens“ (Hüther und Quarch 2018, S. 5) wiederzuentdecken (warum braucht die Hoffnung die Einbildung, dass es früher einmal gut war?) und der ökonomische Hype des digitalen Spiels, sie wollen nicht zusammenpassen.

6.4 Gamification – Bullshit oder Tor in eine bessere Welt

Was an der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Öffentlichkeit seit langem zu beobachten ist, nämlich dass sie expandieren und auf andere Sozialsphären übergreifen, fällt am Spiel erst seit kurzem stärker auf. Als Bezeichnung dafür scheint sich Gamification durchzusetzen, eine Kombination aus Game und Infection.

Die Expansion ludischer Kommunikation, die hier stattfindet, ist nicht in jedem Fall einfach zu beurteilen. Übergänge zu beschreiben, heißt, sich mit der klassischen Konstellation „halb zog sie ihn, halb sank er hin“ auseinandersetzen zu müssen. Wer infiziert wen? Dringt das Spiel hier in andere Funktionsfelder vor oder bemächtigen diese sich des Spiels? Wenn in den Sozialwissenschaften Simulationspraktiken und Planspiele angewendet (vgl. Herz und Blättle 2000) oder im naturwissenschaftlichen Experiment Situationen des unverbindlichen Tuns als ob geschaffen werden, ist es dann die Wissenschaft, die das Spiel okkupiert oder das Spiel, das die Wissenschaft besetzt? Aus unterschiedlichen Beobachterpositionen werden divergierende Antworten gegeben. Die Digitalisierung hat jedenfalls auch günstigere Voraussetzungen dafür geschaffen, von einzelnen Funktionsfeldern und deren Organisationen aus, auf das Spiel zuzugreifen.

Mitarbeitermotivation, Weiterbildung, Kundenanimation

Gamification im engeren Sinn meint, ludische Elemente in spielfremden Kontexten einzusetzen, um Menschen zu motivieren, das, was sie machen sollen oder müssen, lieber und besser zu machen. „Der Spaß, Eifer und Elan der Spielerin soll sich auf die Konsumentin, die Angestellte oder die Schülerin übertragen. Die Medien dieser Übertragung sind Spielmechanismen, entlang derer individuelle Alltagserfahrungen, aber auch ganze Institutionen ludisch umstrukturiert – gamifiziert – werden.“ (Raczkowski 2018, S. 187) Stets geht es mehr soziale Kompetenzen, z. B. für Innovationsprozesse (Scheiner 2019), und/oder um mehr Motivation für gewünschte VerhaltensweisenFootnote 9, nämlich dass die Erwartungen an Andere von diesen besser erfüllt werden, als es ohne den Einsatz spielerischer Mittel geschähe.

„Bei Gamification handelt es sich, was die technischen Voraussetzungen betrifft, offenkundig um eine Folge der Digitalisierung. Zugleich sieht der durch das vermehrte Auftreten spielerischer Animation geschärfte Blick, dass vergleichbare Phänomene, wie Rabattsysteme und Preisausschreiben, der Einsatz spieltypischer Belohnungs- und Gewinnmechanismen, schon viel früher zu beobachten sind.“ (Arlt 2015)

Mitarbeitermotivation, Kompetenzaufbau, Weiterbildung und Kundenanimation sind große Anwendungsfelder, aber auch Emails bearbeiten, Zähne putzen, Treppen statt Rolltreppen nutzen, Joggen, Energie sparen, Verkehrssicherheit verbessern und sehr vieles mehr kann gamifiziert, das heißt mit dem Zusatz-Sinn aufgeladen werden, sich an einem Spiel zu beteiligen. Dafür werden geeignete Spielmechanismen ausgewählt und eingesetzt wie „points, levels, leaderboards, badges, challenges/quests, onboarding, and engagement loops“ (Zicherman und Cunningham 2011, S. 36).

Ein Beispiel: „Brush smart, have fun!“ wirbt das Start up „Kolibree“ (www.kolibree.com/de/) der New Yorker Firma „Baracoda“ in einer Crowdfunding-Aktion für eine elektrische Zahnbürste mit Smartphone-Verbindung. Gesammelt werden Daten über Putzgewohnheiten, die von einer App ausgewertet und als Punktesystem aufbereitet auf einem Dashbord angezeigt werden. Zähneputzen wird vergleichbar, innerfamiliäre Ranglisten entstehen, Preise können gewonnen, Belohnungen bei einem zu erreichenden Punktestand freigeschaltet, mit den Datenmengen sogar eigene Spiele entwickelt werden.

Nora Stampfl (2012, S. 26 f.) gibt eine anschauliche Übersicht über Spielmechanismen, die typischer Weise zum Einsatz kommen. Wir fassen ihre Darstellung stichwortartig zusammen. Punkte sind ein Instrument, mit dem sich Verhalten messen und Feedback geben lässt über Fort- und Rückschritte. Levels machen sichtbar, wo man steht. Sie zeigen an, was man schon erfolgreich hinter sich gebracht hat, und lassen ahnen, wie lang der Weg zum Ziel noch ist. Herausforderungen sind die Missionen, auf die Mitspieler geschickt werden und für deren Bewältigung dann Belohnungen locken, seien es Statusgewinne, sei es Machtzuwachs, ein Geschenk oder auch Geld. Auszeichnungen sind öffentliche Bestätigungen für gelungene Spielzüge. Wertungen legen den Mitspielern nahe, sich mit anderen zu vergleichen, sie treiben den Wettbewerb an. „Solche Bausteine machen Gamification aus: Werden Mechanismen dieser Art im Rahmen eines Spiels in Webseiten, Online-Communitys, Marketing-Kampagnen oder dergleichen integriert und entsteht daraus eine Spieldynamik, stehen die Chancen gut, dass Beteiligung und Engagement der Nutzer steigen.“ (Stampfl 2012, S. 27)

Serious Games und Exergames

Einzelne Verfahren des Game Designs zu übernehmen ist eine Seite von Gamification, eine andere ist die Verbreitung von Serious Games. „Ihr ‚Ernst‘ besteht darin, dass durch sie und mit ihnen etwas erreicht, trainiert und gelernt werden soll.“ (Gotto 2015, S. 139) Eine in diesem Zusammenhang seltener verwendete Bezeichnung lautet Exergames, zusammengesetzt aus exercise für Übung und Gaming. Ein Beispiel sind „Games for Health – also Computerspiele, die im therapeutischen und im klinischen Bereich eingesetzt werden“ (Breitlauch 2013, S. 387). Für Serious Games (vgl. Raczkowski 2018; Strahringer und Leyh 2017) ist Spielen nicht nur Beigabe, sondern Methode, es soll allerdings im Hintergrund und nur ein Mittel bleiben, nicht zum Selbstzweck werden. „Es gilt zu verhindern, dass gespielt statt gearbeitet oder konsumiert wird – die Sorge findet sich in der beratenden Literatur zur Gamification in der häufig aufgerufenen Differenzierung zwischen erwünschten (produktiven, zielgerichteten, den Erwartungen der Designerin entsprechendem) Spielen und problematischem Spielen (Powergaming, Spielen mit dem System, Cheating, Manipulation) (Raczkowski und Schrape 2018, S. 321).

„What if we started…“

Ökonomisierung der Kunst, Verrechtlichung der Wirtschaft, Verwissenschaftlichung der Medizin, Politisierung der Ökologie etc. sind, wie bereits angesprochen, bekannte Entwicklungstendenzen der modernen Gesellschaft. Wenn Games jetzt stärker als in der Vergangenheit in die Wirtschaft, in die Wissenschaft, in die Politik etc. expandieren – wo sie überall mit der Methode des Planspiels (vgl. Ameln und Kramer 2007) seit Jahrzehnten angekommen sind –, dann findet hier eine nachholende Bewegung der Sozialsphäre Spiel statt, die Widerstreit auslöst. Da schon das Spiel selbst Werturteilen unablässig unterworfen ist, kann erwartet werden, dass auch über Gamification konträr geurteilt wird.

Das Ernste bekommt durch Gamification einen heiteren Rahmen, das Erforderliche wird mit einem bunten Geschenkband geschmückt, argumentieren Kritiker und befinden „Gamification is bullshit“ (Bogost 2011). Andere registrieren und kritisieren auch die Instrumentalisierungsabsichten, die mit Gamification einhergehen, erblicken aber in den Expansionen des Spiels sehr viel mehr, geben Gamification einen wesentlich weiter gehenden Sinn, nämlich die Chance, das Spielen für Größeres, für eine bessere Zukunft zu nutzen.

„What if we decided to use everything we know about game design to fix what’s wrong with reality? What if we started to live our real lives like gamers, lead our real business and communities like game designers, and think about solving real-world problems like computer and video game theorists?“ (McGonigal 2011, S. 7)

Das Spiel erobert den Planeten und macht ihn zu einem schöneren Ort, ist eine expansive ludische Position. Das Spiel unversehrt Spiel sein zu lassen, ist eine Verteidigungsposition gegen die Übergriffe aus gesellschaftlichen Funktionsfeldern und deren Organisationen.