Zusammenfassung
Rolle und Funktion der Landesverfassungsgerichte in der europäischen Integration, zumal im Rahmen der Europäischen Union, werden zumindest in der rechtswissenschaftlichen Literatur selten grundsätzlich beleuchtet. Denn in verfassungsrechtlicher Sicht ist die europäische Integration in erster Linie ein Thema des Grundgesetzes. Landesverfassungen und in der Konsequenz Landesverfassungsgerichte können in diesem Bereich bestenfalls eine untergeordnete Rolle spielen. Die Landesverfassungsgerichte lassen sich daher – anders als die deutschen Verwaltungsgerichte – nicht als funktionale Unionsgerichte begreifen. Gleichwohl ist es nicht ausgeschlossen, dass Landesverfassungsgerichte unter Umständen berechtigt oder verpflichtet sind, den Europäischen Gerichtshof (EuGH) im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV anzurufen. In dem Beitrag wird auch diskutiert, ob und inwieweit die Europäische Menschenrechtskonvention im Rahmen der deutschen Landesverfassungsgerichtsbarkeit eine Rolle spielt. Diskutiert werden diese Aspekte am Beispiel der Rechtsprechung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofes.
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Notes
- 1.
Dies ist angesichts von 16 Landesverfassungsgerichten und 16 Landesverfassungsprozessrechten nicht nur aus Raumgründen angezeigt, sondern auch deswegen gerechtfertigt, weil die diesbezügliche Rechtsprechung des BayVerfGH am reichhaltigsten ist und andere Landesverfassungsgerichte sich an dieser Rechtsprechung nicht selten orientieren. Ein gemeindeutscher Landesverfassungsgerichtsbarkeitsvergleich im Hinblick auf den Bezug zum EU-Recht wäre ein gesondertes Desiderat; vgl. dazu Nägele (2018, S. 31 ff.), der eine einführende Bestandsaufnahme zur Bedeutung des Unionsrechts in der Rechtsprechung der Landesverfassungsgerichte vorlegt.
- 2.
Die Mitwirkung der Länder (über den Bundesrat) erfolgt ausschließlich nach innerstaatlichen Maßstäben, sie ist im EU-Recht selbst nicht vorgesehen.
- 3.
Eine entsprechende Regelung ist bislang nicht erlassen worden; es gelten daher die allgemeinen Regeln über die Beschlussfassung des Bundesrates (Art. 52 III 1 GG).
- 4.
Nach Art. 70 Abs. 4 Satz 2 BayVerf kann die Bayer. Staatsregierung, wenn das Recht der Gesetzgebung durch die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union betroffen ist, in ihren verfassungsmäßigen Aufgaben durch Gesetz gebunden werden. Der BayVerfGH hat die Frage offengelassen, ob Art. 70 Abs. 4 Satz 2 BayVerf und die Möglichkeit einer landesgesetzlichen Weisung gegenüber der Staatsregierung für ihr Abstimmungsverhalten im Bundesrat überhaupt mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Allerdings äußert er Zweifel an der Vereinbarkeit von Art. 70 Abs. 4 Satz 2 BayVerf mit den Vorgaben des Grundgesetzes für das Verfassungsorgan „Bundesrat“: BayVerfGH v. 15.2.2017 – Vf. 60-IX-16 – BayVBl. 148 (12), S. 407/409 ff.
- 5.
Vgl. auch Art. 2 Abs. 1, 3 BbgVerf; Art. 64, 65 Abs. 2 BremVerf; Art. 64 HessVerf; Art. 11 VerfMV; Art. 1 Abs. 2 NdsVerf; Art. 74a RhPfVerf; Art. 60 Abs. 2 SaarlVerf; Art. 12 SächsVerf; Art. 1 SachsAnhVerf. Vgl. ferner den Vorspruch der BWVerf und die Präambeln der SHVerf und der ThürVerf.
- 6.
Eine Ausnahme bildet der sog. „Ausschuss der Regionen“ („AdR“; Art. 305 ff. AEUV), in den auch Vertreter der Länder entsandt werden. Die praktische Bedeutung des AdR und dessen politischer Einfluss sind allerdings begrenzt (vgl. zu den Rechten des Ausschusses Art. 307 AEUV). Der AdR hat allerdings ein Klagerecht gegen Rechtsetzungsakte der EU nach Art. 8 II des EU-Protokolls „über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit“.
- 7.
Vor allem Art. 30, 70 ff., 83 ff. GG.
- 8.
Zur innerstaatlichen „Lastenverteilung“ bei einer Verletzung von supranationalen oder völkerrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands s. den durch die Föderalismusreform 2006 neu gefassten Art. 104 a Abs. 6 GG.
- 9.
Gleiches gilt dann, wenn das sekundäre EU-Recht aus der Kompetenzordnung des EUV oder des AEUV ausbricht („ultra vires-Akt“) oder die Identität der durch das Grundgesetz verbürgten Ordnung verletzt: Vgl. dazu zusammenfassend Lindner 2017a, Rn. 436 ff. mit Nachweisen zur Rechtsprechung des BVerfG.
- 10.
BayVerfGHE 59, 219/224: „Ein möglicher Verstoß einer landesrechtlichen Norm gegen Bundesrecht kann allenfalls zu einer Verletzung des Rechtsstaatsprinzips führen. Unter dem Blickwinkel des Art. 3 Abs. 1 Satz 1 [BayVerf] kann der VerfGH nicht umfassend prüfen, ob der Landesgesetzgeber die rechtlichen oder tatsächlichen Voraussetzungen einer bundesrechtlichen Ermächtigung zutreffend beurteilt und ermittelt und ob er andere bundesrechtliche Vorschriften in ihrer Bedeutung für den Inhalt seiner Regelung richtig eingeschätzt hat. Das Rechtsstaatsprinzip der [BayVerf] erstreckt seine Schutzwirkung nicht in den Bereich des Bundesrechts mit der Folge, dass jeder formelle oder inhaltliche Verstoß gegen Bundesrecht zugleich als Verletzung der Bayerischen Verfassung anzusehen wäre. Art. 3 Abs. 1 Satz 1 [BayVerf] wäre vielmehr erst dann betroffen, wenn der bayerische Normgeber offensichtlich den Bereich der Rechtsordnung des Bundes verlassen und Landesrecht eindeutig ohne Rechtsetzungsbefugnis geschaffen hätte.“
- 11.
Vgl. zu einer solchen „Entriegelung“ der Sperrwirkung des EU-Rechts BVerfGE 118, 79: Die Fachgerichte seien verpflichtet, die EU-Rechtsakte an den EU-Grundrechten zu messen und ggf. dem EuGH vorzulegen. Erkläre daraufhin der EuGH eine Richtlinie für ungültig, werde zwar das deutsche Umsetzungsgesetz nicht automatisch ebenfalls unbeachtlich, jedoch sei dann Raum für eine Prüfung an den deutschen Grundrechten und für eine Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG.
- 12.
Vgl. BayVerfGH, BayVBl. 140 (19), S. 593 ff./594 im Hinblick auf die Vereinbarkeit von Studienbeiträgen (Art. 71 BayHSchG a. F.) mit dem Internat. Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPwskR).
Literatur
Hirsch, G. (1997). Vorabentscheidungsvorlagen zum Europäischen Gerichtshof durch die Landesverfassungsgerichtsbarkeit. In Bayerischer Verfassungsgerichtshof (Hrsg.), Verfassung als Verantwortung und Verpflichtung: Festschrift zum 50-jährigen Bestehen des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs (S. 45–62). Stuttgart: Boorberg.
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Lindner, J. F. (2010). Das Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und die Konsequenzen für die europäische Integration. Bayerische Verwaltungsblätter, 141(7), 193–203.
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Lindner, J. F. (2017a). Öffentliches Recht (2. Aufl.). Stuttgart: Boorberg.
Lindner, J. F. (2017b). Art. 3a. In J. F. Lindner, M. Möstl, & A. Wolff (Hrsg.), Verfassung des Freistaates Bayern. Kommentar (S. 69–74). München: Beck.
Lindner, J. F. (2019). Bayerisches Staatsrecht (2. Aufl.). Stuttgart: Boorberg.
Nägele, C. J. (2018). Landesverfassungsgerichte als funktionale Unionsgerichte? Baden-Baden: Nomos.
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Lindner, J.F. (2020). Landesverfassungsgerichte und europäische Integration. In: Reutter, W. (eds) Verfassungsgerichtsbarkeit in Bundesländern. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-28961-4_15
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