Zusammenfassung
Die Geschichte der Lebenslaufforschung seit den 1970er Jahren ist ohne Frage eine Erfolgsgeschichte. Angesichts ihres immer weiteren Diffundierens in alle möglichen Bereiche empirischer Sozialforschung (und andere Disziplinen) und des gleichzeitigen Fehlens elaborierter Lebenslauftheorie(n) stellt sich die Frage, ob die soziologische Lebenslaufforschung als ein eigenständiges Forschungsfeld erkennbar und erhalten bleibt oder aber im Gesamt der empirischen Sozialforschung „aufgeht“ (ein quasi letaler Erfolg). In den letzten Jahren scheint die Einsicht in die Notwendigkeit eines elaborierten lebenslauftheoretischen Kerns soziologischer Lebenslaufforschung gewachsen.
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Notes
- 1.
2013 erschienen fast vierhundert lebenslaufsoziologische Arbeiten allein in Zeitschriften (nimmt man lebenslaufpsychologische und biomedizinisch-epidemiologische Zeitschriftenartikel dazu, steigt dieser Wert auf über 900; Shanahan et al. 2016, S. 2); dazu kommen noch die lebenslaufsoziologischen Beiträge in Sammelbänden (deren Zahl erheblich sein dürfte) sowie Monographien.
- 2.
Das von ihnen in Anführungszeichen benutzte Wort „dissipate“ (Mortimer und Shanahan 2003, S. XI f.) besitzt auch die Bedeutung „ausufern“ bzw. „verzetteln“, also eine negative Konnotation (hier wird das neutrale Wort „diffundieren“ verwendet).
- 3.
Der Darstellung des intellektuellen (Paradigma-)Kerns diente die „The Life Course Perspective“ betitelte erste Sektion des Handbuchs: diese enthielt nur einen Artikel (Elder et al. 2003) und ging – wie auch andere, jene Frage des intellektuellen Kerns von Lebenslaufforschung streifende Beiträge – lebenslauftheoretisch nicht über die Wiederholung der paradigmatic principles Elders hinaus.
- 4.
Mehr noch: während das erste Handbuch neben Reviewartikeln zum Forschungsstand eines spezifischen Problems bzw. Gebiets auch methodische sowie konzeptionelle Beiträge enthält, findet sich im zweiten Handbuch überhaupt kein theoretisch-konzeptioneller Beitrag mehr (und wird das Problem in einem Beitrag en passant einmal berührt, bleibt es beim Aufsagen bzw. kurzen Referieren von Elders Lebenslaufprinzipien).
- 5.
Dabei handelt es sich George zufolge um die paradigmatic principles Elders.
- 6.
Konsequenterweise schlägt Bynner, dem eine solche Überwindung disziplinärer Perspektiven in der Lebenslaufforschung: eine Fusion von „life course sociology, life span psychology and human biology“ (2016, S. 50) – darüber hinaus nennt Bynner noch Demographie, Epidemiologie, Kriminologie, Geschichte und Geographie (ebd., S. 28); auch Ökonomie und Anthropologie sollte man als einschlägigen Disziplinen nicht vergessen – vorschwebt, vor, diese integrativ-holistische Forschungsperspektive als „applied developmental science“ (ebd., S. 50) zu bezeichnen.
- 7.
„Precisely because life course scholarship is a multidisciplinary and interdisciplinary enterprise, there is a great need to integrate our disparate and complex research area“ (Bernardi et al. 2019, S. 2).
- 8.
Da verwundert es dann schon, dass die theoretisch elaborierteste Konzeption von agency und deren grundlegender Zeitlichkeit, nämlich Emirbayer und Misches Aufsatz „What is agency?“ (1998; s. dazu auch die entsprechenden Bemerkungen in Abschn. 6.1), von den Autoren nicht einmal erwähnt wird.
- 9.
Deutlich dazu aber Mayer: „Time … is just a marker, it is empty. Levels and domains are substantive; time is not, or at least not in the same way. A first order time-related life course dependency is always one in at least one domain. One cannot formulate a life course research question or hypothesis without specifying at least one substantive domain plus time. Time might therefore be more fruitfully constructed as the basis of all first order interdependencies. (…) That fault could easily be corrected: as first order interdependencies, then, we should denote changes in any given domain on the individual level, the intra-individual level and the collective level …. Consequently, second order interdependencies can then be formulated as inter-domain effects across life time, and inter-level interaction across life time“ (2019, S. 1 f.).
- 10.
Was Bernardi, Huinink und Settersten selbst so sehen und sagen: der Lebenslaufwürfel „serves as an ordering structure into which all specific mechanisms relevant to study life course dynamics can be integrated“ (2019, S. 8).
- 11.
So Lindenbergs soziologische Erweiterung des homo oeconomicus-Modells der klassischen Mikro-Ökonomie (1985, S. 100).
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Wingens, M. (2020). Lebenslaufforschung, quo vadis?. In: Soziologische Lebenslaufforschung. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-28951-5_7
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