Zusammenfassung
Die Repräsentation verschiedenster Arten von Katastrophen durchzieht die Filmgeschichte von Beginn an. Katastrophen scheinen in all ihren Facetten eine Faszination auszuüben: sei es der Schauwert von Verwüstungen und Zerstörungen, das menschliche Leid, der individuelle Überlebenskampf oder die gesellschaftlichen Reaktionen. In Katastrophenfilmen werden das Spektakel und die Unterhaltung gewissermaßen mit therapeutischen oder gar kathartischen Funktionen verbunden; so ist es nicht erstaunlich, dass Katastrophen ihren filmischen Ausdruck verstärkt in Zeiten wahrgenommener Krisen oder des rapiden Wandels finden.
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Notes
- 1.
Für ungleichheitssoziologische Perspektiven ist hierbei auffällig: »Disaster movies use professional status and assumed authority as shorthand expressions of class« (Keane 2006, S. 52).
- 2.
Susan Sontag (1965) konstatierte schon für die Katastrophenfilme der 1950er Jahre eine weitgehende Abwesenheit von Sozialkritik. Nicole Schröder (2008, S. 128 f.) führt aus, dass es eben nicht um Wandel, sondern um »reestablishing« der durch die Katastrophe kurzzeitig gefährdeten »boundaries« geht: »The overcoming of the catastrophe coincides with the return to older, more conservative values.« Nach Maurice Yacowar (2012, S. 324) gilt am Ende zumeist: »Order is reasserted.« Für Michael Ryan und Douglas Kellner (1988, S. 56) werden soziale und kulturelle Konflikte durch die Re-Legitimierung traditioneller Werte und Instanzen aufgelöst, zudem formuliert das Genre implizite und dennoch augenscheinliche Präferenzen gen »markedly middle-aged, middle-level managerial, and mid-American.« Laut Gregory Berger und Ben Wisner (2012) weist das Genre eine soziale Indifferenz auf, da Katastrophen selten als Folge von Armut und daraus erwachsener besonderer Verwundbarkeit dargestellt werden.
- 3.
Zumal selbst bei einer Zunahme kollektiver Gedächtnisse fraglich ist, ob dies zwangsläufig die dominanten Erinnerungsnarrative von gesellschaftlichen Großgruppen ausdiffundieren lässt. Schließlich hat die in diesem Zusammenhang oftmals ins Feld geführte horizontale Lebensstilpluralisierung wenig am sozialräumlichen Aufbau westlich-kapitalistisch geprägter Gesellschaften mit ihren vertikalen Trennlinien geändert (vgl. Vester et al. 2015).
- 4.
Dabei ist weniger von Belang, ob die Katastrophe einen übernatürlichen Ursprung hat oder nicht. Der Fokus liegt auf den postkatastrophischen sozialen Prozessen, die sich aufgrund einer fehlenden Deutung realisieren. Diesbezüglich wäre die Gesellschaft in The Leftovers vergleichbar mit vormodernen Gesellschaften, über die ein Vulkanausbruch oder ein Meteoriteneinschlag hereinbrach, ohne dass dieses Ereignis auch nur rudimentär in den vorhandenen Wissensvorrat integrierbar war.
- 5.
Da The Leftovers nur die Reaktionen in den USA und später Australien, also weitgehend säkularisierten Gesellschaften der westlich-kapitalistischen Welt verhandelt, verbleibt unklar, wie die Katastrophe etwa in stärker traditional organisierten Gesellschaften gedeutet und bewältigt wird. Ebenso ist anzumerken, dass die Serie fast ausschließlich in Mittelschichtsmilieus spielt. Die Konsequenzen der Entrückung in prekären Schichten dürften (allein ökonomisch) deutlich einschneidender ausfallen und zu stärkeren sozialen Disruptionen führen, werden hier aber größtenteils ausgespart (vgl. zur Vulnerabilität marginalisierter sozialer Gruppen Bolin und Kurtz 2018).
- 6.
Wie sehr sich ein solcher religiös motivierter Referenzrahmen im Zuge der Katastrophe selbst allerdings als untauglich erweisen kann, verdeutlicht der tragische Fall von Grace Playford. Als sie einen Tag nach der Katastrophe auf ihre entlegene Farm im australischen Outback zurückkehrte, waren ihr Mann und ihre fünf Kinder verschwunden. Sie interpretierte dies als Zeichen Gottes und fühlte sich dadurch gewissermaßen gesegnet. Erst zwei Jahre später fand sie heraus, dass lediglich ihr Mann verschwand und ihre Kinder zu Fuß versuchten, den nächstgelegenen Ort zu erreichen und dabei in der Einöde starben: »I never even considered searching for them« (S3E3).
- 7.
S1E1: Season 1, Episode 1. Auf eine Minutenangabe wurde in diesem Rahmen verzichtet.
- 8.
Interessanterweise bezeichnet der Freund von Megan die Guilty Remnants als »Ghosts« (S1E2). In der Tat haben die Sektenmitglieder nicht nur optisch, sondern auch sozial Ähnlichkeit mit Gespenstern, die an etwas unverarbeitetes oder nicht aufgeklärtes Vergangenes erinnern (vgl. Dimbath und Kinzler 2013).
- 9.
Nora Durst illustriert in einem Gespräch mit Kevin Garvey die fehlende closure:
Kevin: »Well, then how long, Nora? How long before you move past it?«
Nora: »Move past what?«
Kevin: »That you lost your kids.«
Nora: »I did not lose them. My kids are not dead. They are gone. They are just gone« (S3E4).
- 10.
Patti Levin betont gegenüber Kevin Garvey (als Stellvertreter der herrschenden Ordnung) die Relevanz von purpose für Laurie Garveys Beitritt zu den Guilty Remnants: »But she came to me because I could offer her something that you could not: Purpose. That’s all any of us want now. Every single one of us. Not answers. Not love. Just a reason to exist. Something to live for. Something to die for« (S1E8).
- 11.
Beispielsweise fragt ein deutsches Paar Michael Murphy: »Your water, will it make us safe?« (S2E1).
- 12.
Infolgedessen bildet sich außerhalb der Absperrung ein – ikonographisch an Hippie- und Esoterik-Festivals angelehntes – Zeltlager von Menschen, die nicht nach Miracle gelangen können. Hier tummeln sich heterogene Katastrophenerinnerungen und -deutungen, Lebensstile und Lebenszuschnitte, die von den Autoritäten – wenngleich widerstrebend – geduldet (respektive ignoriert) werden, zumindest solange daraus keine Bedrohung für Miracle erwächst.
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Weckwerth, J. (2020). Die (Neu-)Ordnung sozialer Beziehungsmuster in filmischen postkatastrophischen Gesellschaften. In: Heinlein, M., Dimbath, O. (eds) Katastrophen zwischen sozialem Erinnern und Vergessen. Soziales Gedächtnis, Erinnern und Vergessen – Memory Studies. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-28933-1_13
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