Zusammenfassung
Die politisch belegten Protestbewegungen inmitten der 1960er Jahren, welche maßgeblich von Studierenden, Auszubildenden und Schüler_innen initiiert wurden, richteten sich gegen die zu dieser Zeit vorherrschenden Strukturen und Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens, welche zu Teilen noch auf nationalsozialistischem Gedankengut beruhten. Auch die Soziale Arbeit sah sich zu Beginn der 1970er mit einer theoretischen und praktischen Neuausrichtung sowie einer methodischen Erweiterung konfrontiert. Im Rahmen der kritischen Auseinandersetzung mit den Rahmenbedingungen Sozialer Arbeit rückte auch die Forschung erstmals dezidierter in den Mittelpunkt der Betrachtungen, um die Bedarfe der Klient_innen situationsadäquat formulieren zu können. Die Klient_innen wurden nunmehr, mit Bezug auf deren jeweilige Problemlage, als handlungsfähige und reflektierte Subjekte gesehen und ihnen wurde die Möglichkeit eingeräumt, am Veränderungsprozess mitzuwirken. Die `68er und die, durch die kritische Praxis angeregten sozialpädagogischen Ansätze und Konzepte sowie die umgesetzten Projekte in der Praxis haben einen erheblichen Beitrag zum Wandel in der Sozialen Arbeit geleistet und das Fundament einer Vielzahl noch immer bestehender sozialpädagogischer Modelle gebildet.
Abstract
The politically motivated protests in the mid-1960s, initiated mainly by university students, trainees and pupils, were directed against the structures and conditions of social life prevailing at the time, some of which were still based on National Socialist ideas. At the beginning of the 1970s, social work was also confronted with a theoretical and practical reorientation as well as a further development in methodology. Within the scope of the critical examination of the framework conditions of social work, research for the first time also moved more decisively into the centre of attention in order to be able to formulate the needs of clients in a manner appropriate to the situation. With reference to their respective problem areas, clients were from then on seen as subjects possessing agency and the capacity to reflect and were given the opportunity to participate in the process of change. The 1968 movement and the socio-educational approaches and concepts stimulated by critical practice as well as the implemented projects made a considerable contribution to the change in social work and laid the foundation of a large number of socio-educational models that still exist today.
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Notes
- 1.
Eine systematische Akademisierung der bis dato bestehenden sozialpädagogischen und sozialarbeiterischen Ausbildungen erfolgt erst in dem Zeitraum zwischen 1969 und 1971 durch die Überführung der Höheren Fachschulen in Fachhochschulen und die Verabschiedung der ersten Rahmenprüfungsordnung für erziehungswissenschaftliche Hauptfachstudiengänge und der damit einhergehenden Etablierung von entsprechenden Studiengängen ab 1969.
- 2.
An dem Nürnberger Jugendhilfetag nahmen über 3000 Personen teil. Mitglieder der Vorbereitungsgruppe waren unter anderem Walter Hornstein und Albrecht Müller-Scholl, Mitglied in einer der fünf Arbeitsgruppen für die Themenveranstaltungen waren durch bekannte Akteur_innen der Kinder- und Jugendhilfe, wie Heribert Mörsberger, Rudolf Martin Vogel, Dieter Sengling, Hinrich Oetjen, Hermann Giesecke, Annelie Keil, Paul Hirschauer und Friedrich Seibel. Im Programm ausgewiesene Hauptbeiträge hielten beispielsweise Peter Fürstenau, Heinz Westphal und Hans Thiersch und in Arbeitsgruppen referierten unter anderen Tim Kunstreich, Klaus Mollenhauer, Manfred Liebel, Ulf Lüers und Reinhart Wolff. Die gut dokumentierten Konfliktlinien dieses Jugendhilfetages können hier nicht detailliert beleuchtet und rekonstruiert werden, lassen sich aber vielleicht anhand der offiziellen Abschlussstellungnahme der AGJJ und anhand der Stellungnahme einiger, am Kongress beteiligter Erziehungswissenschaftler erkennen.
- 3.
Diese Sicht schimmert auch in einer Stellungnahme von Christa Hasenclever, eine der führenden Vorstandsmitglieder der AGJJ, vor dem Bundesjugendkuratorium durch: „Der Jugendhilfetag hat bestätigt, dass mit der studentischen Opposition, mit der außerverbandlichen Aktion etwas in Bewegung gekommen ist, neue soziale Impulse aufgebrochen sind, deren Experimente erst auf- und angenommen werden sollten. […] Wir müssen ihre Kritik und ihre Praxis ebenso kritisch überprüfen und endlich ernst machen mit einer grundlegenden Reform der Notstände in unserem Rechtsstaat und damit deutlich machen: mit Schlagworten und mit Engagement allein ist von keiner Seite aus etwas zu verändern. […] der Erziehungsbereich Jugendhilfe hat inzwischen eine gesellschaftspolitische Dimension gewonnen und ist über den engen Fachbereich hinaus für die Öffentlichkeit relevant“ (Hasenclever in Hornstein 1970, S. 194).
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Thole, W. (2020). Vom Sommer der Theorie zum langen Herbst der sozialpädagogischen Praxis. In: Thole, W., Wagner, L., Stederoth, D. (eds) 'Der lange Sommer der Revolte'. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-28179-3_4
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