Zusammenfassung
Über 1968 nachzudenken, als historische und gesellschaftliche Signatur, als Muster einer Mentalität, als Richtung des Denkens, Fühlens und Handelns, birgt Risiken, denn ’68 ist Mythos. Mystisch sogar, weil das Gemeinte im Dunkeln verschwimmt oder von Geschichten umrankt wird, die man den Enkeln erzählt, wie einst Franz Josef Degenhardt ahnte. Phantasien werden genutzt, um Schreckensbilder zu konstruieren: Für die einen als negative Projektion und für andere als Tröstungsinstanz in aller Verzweiflung. Hier wie dort wäre indes Nachdenklichkeit angesagt, um die Dialektik des Geschehens zu sehen und produktiv werden zu lassen. Kritik ist gefordert, die die Kraft von ’68 für eine Gegenwart und eine Zukunft aufnimmt, für die ’68 Geschichte geworden ist.
Abstract
Regarding the 1968 movement as a historical and social signature, as a pattern of mentality, as a direction of thinking, feeling and acting, holds risks because ’68 is a myth – mystical even – because what is meant is blurred in the dark or is entwined with stories told to grandchildren as Franz Josef Degenhardt once suspected. Fantasies are used to construct horror scenarios: For some as a negative projection and for others as an instance of consolation in despair. Here and there, however, thoughtfulness would be called for in order to see the dialectics of the events and allow them to become productive. Critique is called for that takes up the power of the 1968 movement for a present and a future for which ’68 has become history.
This is a preview of subscription content, log in via an institution.
Buying options
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Learn about institutional subscriptionsNotes
- 1.
Bis 1970 galt beispielsweise als Straftatbestand, wenn Eltern ihren Kindern erlaubten, Unzucht miteinander zu treiben – schon Petting galt als solche.
- 2.
Ein Paradox der ’68er bestand zudem darin, sich von einer Sozialisationstheorie leiten zu lassen. Individualität, Eigensinn und Eigenwillen wurden der Veränderung von Gesellschaft geopfert – um dann ausgehöhlt verwertet zu werden. Man kann dafür den französischen Marxisten Lucien Sève als Zeugen benennen. Er hat die Frage nach den im Kapitalismus möglichen Individualitätsformen intensiv erforscht und ein persönlichkeitstheoretisch erweitertes Psychologie-Verständnis geltend gemacht, um die Komplexität des Zusammenhangs von gesellschaftlichen Verhältnissen und subjektiver Biographien intensiv zu beleuchten und zu verstehen. So recht rezipiert wurde er aber nicht (vgl. Sève 2016).
Literatur
Bauman, Z. (2000). Liquid modernity. Cambridge: Polity.
Bauman, Z., & Tester, K. (2001). Conversations with Zygmunt Bauman. Cambridge: Polity.
Brachmann, J. (2019). Tatort Odenwaldschule. Das Tätersystem und die diskursive Praxis der Aufarbeitung von Vorkommnissen sexualisierter Gewalt. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Debord, G. (2013). Die Gesellschaft des Spektakels. Berlin: Edition Tiamat.
Eribon, D. (2016). Rückkehr nach Reims. Berlin: Suhrkamp.
Felsch, P. (2015). Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960–1990. München: Beck.
Foer, F. (2018). Welt ohne Geist. Wie das Silicon Valley freies Denken und Selbstbestimmung bedroht. München: Blessing.
Fraser, N. (2017). Vom Regen des progressiven Neoliberalismus in die Traufe des reaktionären Populismus. In H. Geisselberger (Hrsg.), Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit (S. 77–91). Berlin: Suhrkamp.
Furedi, F. (2017). What’s happened to the University. A sociological exploration of its infantilisation. Oxford – Milton Park: Routledge.
Gensing, P. (2018). https://www.tagesschau.de/faktenfinder/inland/ehefueralle-karliczek-103.html. Zugegriffen: 14. Dez. 2019.
Gilcher-Holtey, I. (2001). Die 68er Bewegung. Deutschland, Westeuropa, USA. München: Beck.
Herzog, D. (2005). Die Politisierung der Lust. Sexualität in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. München: Siedler.
Münch, R. (2018). Der bildungspolitische Komplex. Weinheim und Basel: Juventa, Beltz.
Pfaller, R. (2017). Erwachsenensprache. Über ihr Verschwinden aus Politik und Kultur. Frankfurt a. M.: Fischer.
Raulff, U. (2015). Wiedersehen mit den Siebzigern: Die wilden Jahre des Lesens. Stuttgart: Klett-Cotta.
Reckwitz, A. (2017). Die Gesellschaft der Singularitäten. Berlin: Suhrkamp.
Savage, M. (2015). Social class in the 21st century. London: Pelican.
Serres, M. (2019). Was genau war früher besser? Berlin: Suhrkamp.
Sève, L. (2016). Die Welt ändern, das Leben ändern. Neuausgabe des Klassikers: Marxismus und Theorie der Persönlichkeit. Hamburg: Argument.
Wehler, H.-U. (2008). Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 5. 1949–1990. München: Beck.
Zuboff, S. (2018). Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. Frankfurt a. M.: Campus.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Editor information
Editors and Affiliations
Rights and permissions
Copyright information
© 2020 Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature
About this chapter
Cite this chapter
Winkler, M. (2020). Die Geister, die kamen, als wir riefen. In: Thole, W., Wagner, L., Stederoth, D. (eds) 'Der lange Sommer der Revolte'. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-28179-3_17
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-28179-3_17
Published:
Publisher Name: Springer VS, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-658-28178-6
Online ISBN: 978-3-658-28179-3
eBook Packages: Education and Social Work (German Language)