Bundes- und Landesministerien als oberste Hierarchieebene sowie deren nachgeordneten Behörden sind darum bemüht, politisch gesetzte Ziele bei den Bürgern durch konkrete Ausgestaltung zu erreichen. Die Verwaltungskommunikation leitet sich primär aus den Sachaufgaben ab, die die jeweilige Behörde zu erfüllen hat. Die öffentliche Verwaltung als administrativer Teil der Exekutive hat dabei u. a. die Aufgabe, zuvor erarbeitete Gesetze, Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften in gesellschaftliche Wirklichkeit umzusetzen. Neben Auskunft, Warnung und Beratung gehört dazu auch die Aufklärung in Form präventiver Informationspolitik zur Vermeidung gesundheitlicher und materieller Schäden sowie Förderung energiesparenden Verhaltens, wie sie das Umweltbundesamt, die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung oder die Deutsche Energie-Agentur erbringen (Czerwick 1998, S. 491).

Neben der klassischen, verfassungsmäßig notwendigen Öffentlichkeitsarbeit gehen zahlreiche Regierungen dazu über, sich verhaltensökonomischer Erkenntnisse zu bedienen, es ist von „Behavioural Governance“ (Straßheim und Korinek 2016, S. 107) die Rede. Basierend auf psychologischen und ökonomischen Erkenntnissen sollen Bürger- und Verbraucherverhalten, mittels zielorientierter Entscheidungsarchitektur und geplanter Kommunikation, zum Wohl des Einzelnen wie auch der Gesellschaft beeinflusst werden. Unter dem Schlagwort ‚Nudging‘ sollen die Bürger gezielt, punktuell und kommunikativ vermittelt ‚angestubst‘ werden, das Richtige zu tun (Thaler und Sunstein 2008). Bürger sollen sich gesünder ernähren, weniger Energie verbrauchen, den Müll in dafür vorgesehenen Abfallbehältern entsorgen oder als Kleinanleger riskante Geldanlagen erkennen. Lebensmittelplatzierungen in Kantinen, Energielabels, Smartmeter, Hinweisschilder sowie wohlgestaltete Informationsmaterialien weisen dabei den richtigen Weg.

Bürger, Institutionen und Unternehmen sollen so die „wohlfahrtssteigernde“ (Reisch und Sandrini 2015, S. 19) Alternative wählen, also die gesündere, nachhaltigere, umweltfreundlichere, finanziell attraktivere. Dies erfolgt ohne harte Instrumente wie Verbote, Besteuerungen oder finanzielle Anreize und Sanktionen, sondern über Informationsreichungen, Produktkennzeichnungen, mittels Hinweisschildern, über voreingestellte Standardoptionen etc. Dieser Versuch von Behörden, mittels zielgerichteter Kommunikation deren angestrebten Organisationszweck zu erfüllen, stellt somit eine Form strategischer Kommunikation dar (Hallahan et al. 2007, S. 3).

Der folgende Beitrag möchte diese Vorgehensweise systematisch beschreiben. Zunächst werden die theoretischen Grundlagen der Verhaltensökonomie erörtert, das daraus abgeleitete Phänomen Nudging definiert und systematisiert sowie die dortige Vorgehensweise und Anwendungsbeispiele vorgestellt. Aufgrund der konträr geführten öffentlichen Diskussion darüber, ob dies eine gerechtfertigte Handlungsweise des Staates zum Schutze oder eine ungerechtfertigte Handlungsweise zur Entmündigung der Bürger sei, erfolgt eine normative Einordnung dieser libertär paternalistischen Vorgehensweise. Abschließend wird der Blick daraufgelegt, in welcher Form das Kommunikationsmanagement hinsichtlich der Ausgestaltung strategischer Kommunikation aus den Erkenntnissen der Verhaltensökonomie und der darüber geführten Diskussion lernen kann.

1 Verhaltensökonomie

Die Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) als eine verhaltenswissenschaftliche Ausrichtung argumentiert an der Schnittstelle von Ökonomie und Psychologie und versucht zu ergründen, welche psychologischen Motive beim Verhalten von Menschen im ökonomischen Kontext relevant sind (Beck 2014, S. 9). Sie fragt danach, wie Menschen sich entscheiden und welche Umwege sie dazu wählen. Eine wichtige Grundlage der Verhaltensökonomie ist die sogenannte ‚Neue Erwartungstheorie‘ (Prospect Theory) von Kahneman und Tversky (1979). In Abgrenzung zur traditionellen Nutzentheorie erklärt sie das Verhalten von Menschen auf Märkten (Beck 2014, S. 101 ff.). Die Theorie erkennt den klassischen Homo Oeconomicus, den nutzenmaximierenden, wohlinformierten, souverän rational handelnden Konsumenten als fiktives Idealbild. Empirisch zu beobachten sind dagegen begrenzter Eigennutz in Form fairen Verhaltens, begrenzte Willenskraft durch Aufschieben unbequemer Entscheidungen sowie begrenzte Rationalität, also Fehler der Informationsaufnahme und -verarbeitung.

Erklärt wird dies mittels der Theorie der zwei kognitiven Denksysteme des Menschen (Kahneman 2012, S. 32 ff.). Das intuitive System 1 funktioniert automatisch, schnell, unbewusst, ist ununterbrochen aktiv, nimmt assoziativ Umweltinformationen auf. Es erkennt blitzartig Muster, ist für Routinehandlungen wie Ballfangen, das Verstehen einfacher Situationen oder Sätze verantwortlich. Dagegen wird das reflektierte System 2 erst bei komplexeren Entscheidungen aktiv. Es verarbeitet die Informationen gründlicher, differenzierter, kontrollierter und damit langsamer und anstrengender.

Beide Systeme arbeiten permanent zusammen: Das intuitive System 1 versorgt das reflektierte System 2 mit Informationen (Emotionen/Eindrücke), die ggf. genauer analysiert werden. Das System 2 kontrolliert und überwacht das System 1, unterdrückt beispielsweise unangebrachte, impulsive Reaktionen. Der Vorteil der Kooperation beider Systeme ist die optimale Kapazitätsnutzung. Bei simplen Aufgaben wird wenig Aufwand betrieben, bei komplexen Aufgaben erfolgt eine rationale Analyse des Sachverhalts. Dagegen liegt der Nachteil der Zusammenarbeit einerseits in der Schwäche des System 1, welches anstelle komplizierter Berechnungen einfache Problemlösungsmechanismen (Heuristiken) mit potenziellen Fehlschlüssen nutzt, andererseits in der Schwäche von System 2, das von System 1 überlieferte Denkfehler und Fehlschlüsse (Bias) z. T. ohne Korrektur in seine (Fehl-)Entscheidungen übernimmt und damit zu systematischen Verzerrungen führt (Kahneman 2012, S. 342 ff.; Beck 2014, S. 9 ff.).

1.1 Heuristiken und Bias

Die streng empirisch arbeitende Verhaltensökonomie hat sich systematisch dem Phänomen solcher (Fehl-)Entscheidungen gewidmet und dabei den Heuristics-and-Biases-Ansatz der Urteilsforschung entwickelt. Mittels zahlreicher Labor- und Feldexperimente wurden dabei induktiv zahlreiche Heuristiken und Bias ermittelt (Kahneman 2012; Beck 2014, S. 25 ff.).

1.1.1 Heuristiken

Als ‚kognitiver Geizhals‘ versucht der Mensch anstelle analytischer Modellberechnungen mit Hilfe von Heuristiken bei Unsicherheit trotz unvollständiger Information sowie wenig Zeit zu praktikablen Lösungen zu kommen. Durch einfache kognitive Eilverfahren oder Faustregeln lassen sich im Sinne verbesserter Problemlösungen adäquate, oftmals unvollkommene Antworten auf schwierige Fragen finden (Kahneman 2012, S. 127). Heuristiken werden ermittelt, indem Probanden in Experimenten Entscheidungssituationen ausgesetzt und beobachtet werden. Ihre Entscheidungen werden dann mit den fundamentalen Gesetzen der Logik oder der Statistik abgeglichen, wodurch systematische Abweichungen im Entscheidungsverhalten der Menschen erfasst werden können. Dabei wurden u. a. folgende klassischen Heuristiken identifiziert (Tversky und Kahneman 1974; Thaler und Sunstein 2008, S. 39):

  • Repräsentativitäts-/Ähnlichkeitsheuristik:

    Beschreibt den Vorgang, dass Menschen Objekte wahrscheinlicher einer bestimmten Klasse zuordnen, wenn sie diese für repräsentativ halten. Ein scheuer, ordnungsliebender Mensch wird eher als Bibliothekar denn als Bauer eingestuft, obgleich es viel mehr Bauern gibt. Darunter fällt u. a. die falsche Vorstellung vom Zufall, wenn kleinen Stichproben hohe Repräsentativität beigemessen wird, also die Vermutung, nach mehrmaligem Rot beim Roulette müsse jetzt Schwarz folgen, obgleich die Wahrscheinlichkeit bei jedem Spiel gleich hoch ist (Thaler und Sunstein 2008, S. 28 ff.).

  • Rekognitionsheuristik:

    Wenn eins von zwei Objekten, zum Beispiel der Name einer von zwei Städten, wiedererkannt wird, der andere aber nicht, dann wird daraus geschlossen, dass das wiedererkannte Objekt, also der eine erinnerte Stadtname, den höheren Wert auf dem gesuchten Kriterium hat, beispielsweise auf die Einwohnerzahl. Die Mehrheit wird also vermuten, dass die ihr bekannte Stadt mehr Einwohner als die unbekannte hat (Thaler und Sunstein 2008, S. 86 f.).

  • Verankerungsheuristik:

    Hier orientieren sich Schätzungen unbekannter Größen an Ausgangswerten, auch wenn diese Ausgangswerte nichts mit dem zu schätzenden Sachverhalt zu tun haben. Personen spenden mehr, wenn sie nach höheren Spendenbeträgen gefragt werden, vorgebliche Preissenkungen im Schlussverkauf steigern die Kaufbereitschaft (Thaler und Sunstein 2008, S. 145 f.).

  • Verfügbarkeitsheuristik:

    Personen entscheiden die angenommene Eintrittswahrscheinlichkeit eines Ereignisses nach damit gemachten Erfahrungen sowie der Aktualität einer Thematik. Beispielsweise werden mehr Hochwasserversicherungen abgeschlossen, nachdem es jüngst ein Hochwasser gegeben hat. Ebenso werden diejenigen Todesursachen oder Verbrechen für wahrscheinlicher gehalten, über die häufiger in den Medien berichtet wird (Thaler und Sunstein 2008, S. 38 ff.).

1.1.2 Bias

Heuristiken sind grundsätzlich geeignet, gute Lösungen zu erbringen, können aber auch zu Urteilsfehlern führen, sogenannten Bias (Thaler und Sunstein 2008, S. 39). Diese verzerrt wahrgenommenen Realitäten sind systematische, menschlichem Entscheidungsverhalten immanente Verhaltensneigungen, die menschliches Entscheiden beeinflussen, da der Mensch die rationalen Opportunitätskosten einer Entscheidung verzerrt wahrnimmt. Durch Heuristiken werden unökonomische Entscheidungen getroffen, welche durch Bias den Personen jedoch vorteilhaft erscheinen. In Experimenten wurden eine Vielzahl Bias identifiziert:

  • Status-quo-Bias, Prokrastination, Trägheit: Die Gegenwartstendenz des Menschen führt dazu, am Status Quo festzuhalten (kein Wechsel von Krankenversicherung, Stromanbieter etc.), da Betroffene keine Veränderungen mögen (Beck 2014, S. 163 ff.). Entscheidungen und Verhaltensänderungen werden trotz geringem Wechselaufwand und großem Nutzen aufgeschoben. Dabei werden langfristige Kosten/Nutzen zu wenig in die Entscheidung einbezogen. Jetzt mit Sport anzufangen (Kosten), um später gesund zu sein (Nutzen), erscheint unattraktiv. Thaler und Sunstein (2008, S. 55) verbinden dies unter anderem mit einer Verlustaversion und Trägheit der Menschen. Demnach geben Menschen ungern Besitz auf und sind trotz möglicher Verbesserungen zudem zu lustlos, ihren Standard zu verändern.

  • Bias Salienz: Sichtbarkeit/Auffälligkeit unterstützen Aufmerksamkeit und Informationssuche. Personen richten ihre Aufmerksamkeit auf besonders auffällige Eigenschaften, da diese oft wichtig sind. Die Gefahr dabei ist, dass wichtige Informationen nicht ausreichend beachtet werden, da es mühsam ist, sie zu sammeln. Klein gedruckte Details gehen unter, technische Daten werden ignoriert. Somit sind einfache, verständliche Informationen einflussreicher als komplexe (Reisch und Sunstein 2017, S. 352).

  • Conjunction Bias: Dieser Bias bezieht sich auf die Repräsentativitätsheuristik. Er bezeichnet die Fehleinschätzung zusammengesetzter Ereignisse, wenn beispielsweise Personen aufgrund äußerer Merkmale bestimmten Berufsgruppen bzw. Eigenschaften zugeordnet werden, obgleich es statistisch unwahrscheinlicher ist, dieser Gruppe anzugehören (Beck 2014, S. 35 ff.).

  • Confirmation Bias: Bestätigungsirrtum ist der Versuch, die eigene Meinung zu bestätigen. Fakten werden im Sinne bereits vorgefasster Meinungen gesucht und interpretiert. Die eigene Position stützende Argumente erhalten höheres Gewicht, eher bestätigende Fakten werden gesucht, nicht eindeutige im Sinne der eigenen Meinung interpretiert (Beck 2014, S. 48). Damit verwandt ist der My-Side-Bias, die stärkere Gewichtung von Argumenten, welche die eigene Meinung unterstützen (Beck 2014, S. 51 f.).

  • Self-serving Bias: In Form von Selbstüberschätzungen werden Attributionen selbstwertdienlich durchgeführt. Erfolge werden eigenen Fähigkeiten zugeschrieben, Misserfolge dagegen externem Zufall. Der Bias bezieht sich auf das Phänomen des Überoptimismus, der Kontrollillusion (Beck 2014, S. 60 f.).

  • Hindsight bias: Wer den Ausgang eines Ereignisses kennt, überschätzt beim Rückschaufehler seine Möglichkeit oder die anderer, diesen Ausgang vorauszuahnen. Die Urteilskraft wird verzerrt, da der Ausgang eines Ereignisses bereits bekannt ist (Beck 2014, S. 69 ff.).

  • Soziale Einflüsse, Normen, Kooperationen: Lebensstile, Gesundheits- und Risikoverhalten der Umgebung sowie soziale Normen beeinflussen das eigene Verhalten. Diese Orientierung an der Umwelt wird in Sorge um die eigene Reputation befolgt. Sie führt auch zu Kooperationen, sofern daraus beidseitig mehr Vorteile erwartet werden (Reisch und Sunstein 2017, S. 352).

  • Framing: Die deutende Rahmung von Inhalten und Themen beeinflusst Entscheidungen je nachdem, ob Aussagen Gewinne in Aussicht stellen oder mögliche Verluste beschreiben. Denkbare Verluste (z. B. Todesrisiko) werden als bedeutsamer eingestuft als potenzielle Gewinne (z. B. Überlebenschance). Solche „ungerechtfertigten Einflüsse von Formulierungen auf Überzeugungen und Präferenzen“ (Kahneman 2012, S. 448) sind framegebunden und nicht „realitätsgerecht“ (Kahneman 2012, S. 448).

Die empirische Vorgehensweise des Heuristics-and-Biases-Programms wird auch kritisiert (Beck 2014, S. 76 ff.): Der wissenschaftliche Wettbewerb um die Entdeckung immer neuer Verhaltensfehler widerspräche unvoreingenommener Forschung. Die Experimente seien darauf angelegt, die Probanden aufs Glatteis zu führen, um eine Verzerrung zu provozieren. Außerhalb des Labors verhielten sie sich rationaler. Der Mensch könne nicht so dumm sein wie dort vermeintlich unterstellt, denn er löse doch auch sonst erfolgreich komplexe Probleme. Die Experimente zeigten allenfalls fehlende Statistikkenntnisse der Probanden, zumal dort richtiges Verhalten mit falschen Maßstäben beurteilt werde. Dessen ungeachtet finden die Befunde in jüngster Zeit unter dem Label ‚Nudging‘ Anwendung in staatlichem Handeln.

2 Nudging

Seit 2008 unter dem Titel ‚Nudging‘ das einflussreiche Buch der US-Ökonomen und Juristen Thaler und Sunstein (2008) erschien, gilt das verhaltensökonomische Prinzip vielen Regierungen und NGOs als effektives Regierungshandeln. Anwendungsfelder sind u. a. die Bereiche Hygiene, Krankheitsprävention, Impfbereitschaft, Essverhalten, Jugendförderung, Steuerzahlung, Vorsorge- und Finanzentscheidungen, Gewaltvorbeugung in Schulen, Energieeinsparung und Organspenden (Whitehead et al. 2014, S. 23). In den vergangenen Jahren wurden dabei Forscherteams eingerichtet – und zum Teil nach Regierungswechsel wieder aufgelöst – wie das ‚Social and Behavioral Sciences Team‘ der Obama-Administration, das ‚Behavioural Insights Team‘ der britischen Regierung, das ‚MindLap‘ der dänischen Regierung oder die Projektgruppe ‚Wirksam Regieren‘ im Bundeskanzleramt. Und Institutionen, wie die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD 2019), sollen weltweit die Politik dabei unterstützen, das Leben der Menschen in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht zu verbessern. Evidenzbasiert unterstützen diese Units die Regierungen bei Entscheidungen, indem sie durch ex-ante-Wirksamkeitsanalysen empirische Erkenntnisse zur Beurteilung von Alternativlösungen heranziehen.

2.1 Definition Nudging

Thaler und Sunstein bezeichnen Nudges als

„alle Maßnahmen, mit denen Entscheidungsarchitekten das Verhalten von Menschen in vorhersagbarer Weise verändern können, ohne irgendwelche Optionen auszuschließen oder wirtschaftliche Anreize stark zu verändern. Ein Nudge muss zugleich leicht und ohne großen Aufwand zu umgehen sein. Er ist nur ein Anstoß, keine Anordnung.“ (2008, S. 15)

Entscheidungsarchitekten sind Personen oder Institutionen, welche Nudges konzipieren und wissenschaftlich begleiten lassen. Die Entscheidungsarchitektur ist die sprachliche, physische, emotionale wie auch soziale Umwelt, in der Menschen Entscheidungen treffen. Solche ‚Affordanzen‘ bieten in Strukturen und Situationen Handlungsmöglichkeiten oder -einschränkungen (Reisch und Sunstein 2017, S. 348). Die Entscheidungsarchitekten tragen die Verantwortung für dieses Umfeld und gestalten meist bewusst diese Wahlsituationen (Thaler und Sunstein 2008, S. 11). Ausgehend von deren Definition sowie in Anlehnung an Grüne-Yanoff und Hertwig (2016, S. 153) lassen sich somit verschiedene Eigenschaften von Nudges identifizieren:

  • Nudges sind Maßnahmen von Regierungen, Behörden und Institutionen sowie Unternehmen, bei denen Entscheidungsarchitekten zur Situationsverbesserung, zum langfristigen Wohl von Menschen, Gruppen, Institutionen und Gesellschaften deren Verhalten beeinflussen sollen.

  • Entscheidungsarchitekten nutzen zur Beeinflussung des Verhaltens entweder Schwachstellen menschlichen Verhaltens (Heuristiken und Bias) in Entscheidungssituationen, oder sie versuchen diesen Schwächen entgegenzuwirken.Footnote 1

  • Dabei werden empirisch dokumentierte Merkmale menschlichen Entscheidungsverhaltens genutzt, um die sich Menschen eher weniger kümmern (z. B. Position auf einer Liste, Standardeinstellung, Framing), ohne jedoch Abgaben, Steuern, Strafen und Verbote oder finanzielle Anreize (z. B. Subventionen, Steuererleichterungen, Anreizprogramme) einzusetzen. Die Art der Verhaltensänderung ist somit empirisch prognostizierbar.

  • Die Entscheidungsfreiheit bleibt beim Einzelnen. Durch Nudges induzierte Verhaltensänderung können leicht umgangen und jederzeit rückgängig gemacht werden, da auch alternative Verhaltensoptionen transparent, möglich und einfach umsetzbar bleiben sollen.

Nudges werden bisweilen als nicht intentional definiert, werden mit ohnedies unvermeidbarer, weil immer vorhandener Entscheidungsarchitektur gleichgesetzt (Mills 2015), zumal großer Wert auf die Entscheidungsfreiheit der Menschen gelegt wird (Thaler und Sunstein 2008, S. 14). Doch der Begriff ‚Entscheidungsarchitektur‘ verschleiert den intentionalen Charakter von Nudges (Lepenies und Malecka 2016, S. 489). Als Instrument in Politik und Recht mit intentionaler Komponente will es Verhaltensänderungen bewirken (Gigerenzer 2015, S. 362). Denn Nudging hat eine Doppelnatur, den Aspekt als Entscheidungsarchitektur und als Intervention. Daher ist eine Unterscheidung zwischen Entscheidungsarchitektur und Nudge erforderlich. Ein Nudge ist ein Eingriff in die Entscheidungsarchitektur mit vorhersehbarer Verhaltenssteuerung, bewahrt zugleich Wahlmöglichkeiten und ist substanziell nicht kontrollierend und verändert nur unwesentlich ökonomische Anreize (Barton und Grüne-Yanoff 2015, S. 342).

2.2 Wirkmechanismen

Nudges lassen sich auch nach den unterlegten Wirkmechanismen clustern. Im Folgenden werden die laut Reisch und Sunstein (2017, S. 354 f.) zehn wichtigsten Nudges mit Beispielen aus der Behördenkommunikation vorgestellt:

  • Default-Regeln: Menschen neigen dazu, aufgrund von Trägheit bei einem Verhalten zu bleiben bzw. nicht gegen Bestehendes anzugehen. Voreinstellungen, wie doppelseitiges Drucken als Standardeinstellung oder Ökostrom bei Neubürgern, bauen darauf.

  • Vereinfachung: Programme oder Maßnahmen sollten einfach, intuitiv, verständlich sein. Dies gilt für Antragsformulare und Informationen von Behörden, wie beispielsweise eine vereinfachte Einkommenssteuererklärung.

  • Warnhinweise: Um die Aufmerksamkeit auf wesentliche Faktoren zu lenken, können grafische Elemente, die Veränderung von Größe und Farbe die Aufmerksamkeit erregen bzw. erhöhen. Dazu gehören grafische Hinweise, wie die Lebensmittelampel zu Fett, gesättigten Fettsäuren, Zucker und Salz, sowie Warnhinweise zum Schutz von Anlegern auf dem Grauen Kapitalmarkt.

  • Soziale Normen: In Sorge um die eigene Reputation spielt Anpassungsverhalten, insbesondere hinsichtlich Lebensstil, Gesundheit und Risikoverhalten ein wichtige Rolle. Daher wird kommuniziert, dass ein erwünschtes Verhalten bereits von der Mehrheit relevanter Vergleichsgruppen aus der lokalen Realität der Angesprochenen umgesetzt wird. Dazu zählen beispielsweise Hinweise der Finanzbehörden, dass die Mehrheit in der Nachbarschaft bereits ihre Steuern bezahlt hat. Dies soll die Zahlungsbereitschaft der Steuerzahler erhöhen.

  • Bequemlichkeit und Einfachheit: Da Menschen dazu neigen, einfache Wege zu wählen, sollten dem gewünschten Verhalten möglichst wenig Hindernisse entgegenstehen. Dies kann die attraktivere Platzierung und damit leichtere Verfügbarkeit gesunder Lebensmittel in der Kantine, wie auch der bessere Zugang zu Behördeninformationen via Internet, sein.

  • Offenlegung von Information: Interessierte Bürger suchen sachkundige Entscheidungen. Daher sollten Informationen leicht zugänglich und verständlich sein. Dies kann gelten für die Offenlegung der Kosten pro Nutzungseinheit (Kosten pro Seite bei Drucker, pro Waschgang bei Waschmaschinen, Lebensdauerlabels für Elektrogeräte mit Gesamtkosten pro Jahr).

  • Strategien der Selbstbindung: Wenn Ziele öffentlich gemacht werden, sind sie verbindlicher. Darunter fallen beispielsweise Selbstbindungsprogramme zur Gewichtsabnahme oder Vereinbarungen zur CO2-Kompensation.

  • Erinnerungen: Menschen sind oftmals untätig aufgrund von Vergesslichkeit, Zeitmangel oder Prokrastination. Kleine Erinnerungen können daher zum gewünschten Handeln anregen, wie die Erinnerung per E-Mail oder SMS an einen Wahl- oder Behördentermin.

  • An Bekenntnis appellieren: Individuen handeln eher, wenn sie nach ihrer Handlungsintention gefragt werden; „Haben Sie vor, Ihr Haus energetisch zu sanieren?“

  • Informationen über Konsequenzen früheren Verhaltens: Offenlegen früherer Entscheidungen kann helfen, aktuelle Entscheidungen zu verbessern, beispielsweise durch ein Feedback zum bisherigen Mobilitätsverhalten oder zur eigenen Energienutzung.

Das sogenannte EAST-Framework bündelt als Empfehlung vier zentrale Wirkmechanismen von Nudges. Sie sollen einfach, attraktiv, sozial und zeitgerecht sein. Daher sollte 1) die Macht von Standardeinstellungen genutzt, Barrieren reduziert und Informationen vereinfacht werden (Easy); 2) Aufmerksamkeit erregt und Belohnungssysteme gestaltet werden (Attractive); 3) Konformitätsnorm, soziale Netzwerke und Selbstbindung zu Vorsätzen genutzt werden (Social); und das richtiges Timing abgepasst werden, in dem Menschen für Informationen empfänglich sind, also künftige Kosten-Nutzen-Verhältnisse in die Gegenwart geholt werden (Timely) (Reisch und Sandrini 2015, S. 30 f.).

2.3 Anwendungsfelder

Nudges finden sich in zahlreichen politischen Handlungsfeldern, wie Gesundheit oder Ökologie, und erfolgen analog oder digital.

2.3.1 Gesundheitsnudging

Nudging im Bereich der Gesundheitsförderung und Prävention genießt einen hohen Stellenwert im Handlungsfeld von Public Health (Maier und Ziegler 2015) im Bereich der Adhärenz, also dem Maß der Übereinstimmung der gemeinsam vom Therapeuten und Patienten angestrebten Verhaltensweisen, zum Beispiel hinsichtlich Medikamenten-Einnahme, Diätregime oder Lebensstiländerung. Prominent ist die aktuelle Diskussion bei der Organspende, von der gegenwärtigen Zustimmungslösung auf die Widerspruchslösung umzusteigen, hier setzt der Nudge-Typ Default auf die Trägheit der Menschen gegenüber automatischen Standardoptionen. Hintergrund dafür sind die Erfahrungen, dass in Ländern mit Widerspruchlösung, also expliziter Ablehnung als Standardoption, die postmortale Organspendequote höher ist.

Nudging in der Primärprävention strebt gesundes Ernährungsverhalten sowie ausreichende körperliche Bewegung an. Dabei lassen sich neun Interventionstypen identifizieren (Krisam et al. 2017):

  1. 1.

    Ambiente: Veränderung ästhetischer oder atmosphärischer Aspekte einer Umgebung (Hintergrundmusik, Beleuchtung, Farben)

  2. 2.

    Funktionelles Design: Veränderung funktioneller Aspekte einer Umgebung (z. B. die Größe von Geschirr und Besteck beeinflusst die Konsummenge)

  3. 3.

    Etikettierung: Kennzeichnung von Informationen auf Produkten am Entscheidungsort (z. B. bei der Nährstoffampel)

  4. 4.

    Präsentation: Veränderung sensorischer Eigenschaften oder visueller Produktpräsentation (z. B. Beleuchtung)

  5. 5.

    Dimensionierung: Veränderung der Größe oder Quantität eines Produkts (Verkaufsverbot hochkalorischer Getränke in Bechern von mehr als 0,5 L in Gastronomie, Kinos und auf Sportveranstaltungen)

  6. 6.

    Verfügbarkeit: Bereitstellen zusätzlicher Handlungsoptionen (z. B. öffentlich zugängliche Fahrräder für mehr Bewegung)

  7. 7.

    Nähe: Reduktion des Aufwands bei der Speisenauswahl (wird bei Konferenzen von der Standardoption mit Fleisch auf Standardoption vegetarisch gewechselt, steigt deren Umsatz) sowie Speisenaufnahme (z. B. in Kantinen gesunde Nahrungsmittel dicht am Verbraucher platzieren)

  8. 8.

    Priming: Einfluss durch Schlüsselreize (z. B. für Kinder Vollkornbrötchen in Tierform, geschnitztes Gemüse)

  9. 9.

    Prompting: Allgemeine Informationen bereitstellen, um Handlungen bewusster zu machen (z. B. Aufforderungsschild mit Zusatzinformationen zur Treppennutzung).

2.3.2 Green Nudging

Green Nudging bezeichnet im Wesentlichen drei Arten von Maßnahmen, die zu nachhaltigen Konsummustern anregen sollen (Schubert 2017):

  1. 1.

    Erhöhung der Salienz: Die Aufmerksamkeit wird auf umweltrelevante Eigenschaften wie Lebensdauer, Energieverbrauch oder Schadstoffgehalt gerichtet. Entsprechend vereinfachte Öko-Labels mit Farbskalen, wie beispielsweise das verpflichtende EU-Energielabel, sollen den Kauf nachhaltiger Produkte erleichtern und damit fördern. Ferner kann ein intelligenter Stromzähler (Smart Meter), eine Verbrauchsanzeige für die Dusche oder ein Heizenergiesparkonto durch unmittelbares Feedback helfen den Strom-, Warmwasser- oder Heizenergieverbrauch zu reduzieren. Die Offenlegung von Informationen, die Selbstbindung sowie der Einsatz sozialer Normen sind dabei zentrale Mechanismen.

  2. 2.

    Soziale Anpassung: Hier greift der Mechanismus, dass sich der Mensch an seinem sozialen Umfeld orientiert. Die Stromabrechnung, die den individuellen Verbrauch mit dem der Nachbarschaft vergleicht, der Hinweis auf das Abfallaufkommen oder die Recyclingquote pro Kopf. Dies setzt allerdings voraus, dass sich das Umfeld nachhaltiger als man selbst verhält, da es sonst kontraproduktiv ist (Boomerang-Effekt).

  3. 3.

    Trägheit: Das Festhalten an Voreinstellungen sowie den vereinfachten Zugang nutzen zahlreiche Beispiele: Das automatische doppelseitige Drucken, das automatische Angebot des Öko-Tarifs bei Neuanmeldung, bei Neubürgern der Erhalt kostenloser Tages- oder Monatstickets des ortsansässigen ÖPNV-Betreibers samt individueller Wegbeschreibung. Aber auch eine Smartphone-App für spritsparendes Fahren oder der erleichterte Zugang zu Bike-Sharing-Systemen können nachhaltiges Verhalten fördern. Hier spielt der Aspekt der sozialen Orientierung eine Rolle, sofern die Voreinstellung bewusst wahrgenommen wird.

2.3.3 Digitales Nudging

Besserer Kontakt zu Behörden sowie leichtere Teilhabe an politischen Prozessen durch E-Government, die Wahlerinnerung in sozialen Netzwerken, erhöhte Technologieakzeptanz von Mitarbeitern innerhalb von Behörden sowie die Selbstbeobachtung und -beeinflussung der Bürger durch Fitnesstracker, stets wird das Handlungsprinzip des Nudging auf eine digitale Umgebung übertragen. „Digital nudging is the use of user interface design elements to guide people’s behavior in digital choice environments“ (Weinmann et al. 2016, S. 433). Da jede digitale Oberfläche Einfluss auf das Nutzerverhalten hat, gleich ob intendiert oder nicht, ist es für deren Entwickler wichtig, bestehende Wirkungszusammenhänge zu verstehen.

Sogenanntes Data-driven Nudging (Big Nudging) erhebt, sammelt, speichert und wertet in Echtzeit große Datenmengen (Big Data), die im Internet, in sozialen Medien, im Verkehr, Gesundheitswesen sowie in der Finanz- und Energiewirtschaft zusammengetragen wurden, aus (von Grafenstein et al. 2018). Security Nudges, wie beispielsweise Aufforderungen zu Updates oder eine grafische Darstellung zur Passwortstärke/-sicherheit, sollen für eine höhere Sicherheit sorgen (Dold und Krieger 2017, S. 565). Social Scoring Systeme wie in China zeichnen das Verhalten von Bürgern auf und bewerten diese in einem persönlichen Social Score. Gewünschtes Handeln wird durch Punkte belohnt, negatives führt zu Punktabzug. Dies kann zur Gewährung oder zum Entzug staatlicher Leistungen führen (Lee 2017).

2.4 Nudge Typisierungen

Nudges lassen sich nach unterschiedlichen Kategorien systematisieren, nach Zielgruppen, nach Interventionsmechanismen, nach Typ 1 und 2 sowie nach Transparenzgrad.

2.4.1 Zielgruppe

Nudges sollen über Verhaltensänderungen einerseits dem individuellen Einzelwohl (pro-self nudges) zur Risikovermeidung und Gesundheitsförderung, andererseits dem Gemeinwohl (pro-social nudges) dienen (Barton und Grüne-Yanoff 2015, S. 344), also Zusammenleben, Finanzen, Markt und Recht, Energie, Ressourcenschonung und Umweltschutz. Dies geschieht direkt (z. B. Erinnerung Behördentermin) oder über Vorgaben an Dritte (z. B. Kennzeichnungs-/Platzierungspflichten).

2.4.2 Interventionsmechanismen

Nudges können auf unterschiedliche Weise funktionieren (Barton und Grüne-Yanoff 2015, S. 343): Einige setzen zur Verhaltenssteuerung gezielt auf bestimmte Heuristiken, beispielsweise auf default oder geframte Beschreibungen (heuristics-triggering nudges). Andere dagegen versuchen gezielt diesen einfachen Problemlösungsmechanismen entgegenzuwirken oder sie gar abzublocken (heuristics-blocking nudges). Andere Nudges hingegen – zumindest nach der weitreichenden Definition von Sunstein (2015a, S. 512) – haben keinen Bezug zu Heuristiken oder Bias, wenn beispielsweise Informationen bereits dann als Nudges gelten, sofern sie, wie zum Beispiel ein GPS, das (Fahr-)Verhalten beeinflussen sollen (informing nudges). Somit ist die Verhaltensökonomie kein konsistentes Theoriefundament für Nudging.

2.4.3 Typ-1 vs. Typ-2-Nudge

Im Kontext der Frage, ob und inwieweit Nudges Entscheidungswahlen manipulieren, unterscheiden Hansen und Jespersen (2013) analog zu Kahnemanns (2012) System 1 und System 2 und basierend auf den Arbeiten von Thaler und Sunstein (2008, S. 14 f.) zwischen Typ-1- und Typ-2-Nudges.

Typ-1-Nudges zielen auf automatisiertes Verhalten ohne bewusste Reflexion, also ohne den Prozess von Überlegung, Beurteilung und Auswahl. Dazu zählen Default-Optionen wie kleinere Teller zu geringerer Kalorienaufnahme oder aufgemalte Streifen auf Straßen, die durch sich verkürzende Abstände zur Geschwindigkeitsreduktion führen sollen, oder Mechanismen der Verlustaversion, des Anchoring oder der Anpassung an das Mehrheitsverhalten, bzw. das Verhalten relevanter Bezugsgruppen. Sofern dabei unbewusste kognitive Mechanismen greifen, stehen entsprechende Maßnahmen unter Manipulationsverdacht. Gerechtfertigt sei es, die individuelle Selbstbestimmung dennoch einzuschränken, sofern zumindest eine von drei Voraussetzungen erfüllt sei: 1) „Schutz Dritter vor den negativen Konsequenzen eigener Entscheidungen“ (von Grafenstein et al. 2018, S. 70), 2) „Schutz der eigenen Person vor massiv selbstschädigenden Handlungen“ (von Grafenstein et al. 2018, S. 70) oder 3) „wenn ihr ein demokratisch legitimierter gesetzgeberischer Akt vorausgeht“ (von Grafenstein et al. 2018, S. 70). Sofern Nudges keine dieser drei Voraussetzungen erfüllen, seien sie im Sinne „individueller Selbstbestimmung nur schwer zu rechtfertigen“ (von Grafenstein et al. 2018, S. 70).

Dagegen respektieren Typ-2-Nudges die Autonomie der Individuen, ziehen reflektiertes und bewussteres Entscheiden in Betracht, indem sie entscheidungsrelevante Informationen bereitstellen und durch erhöhte Aufmerksamkeit die Entscheidungsvoraussetzungen verbessern und so auf Bildung und Erziehung abzielen, so z. B. durch Öko-Labels oder Lebensmittelkennzeichnungen die Aufmerksamkeit auf relevante Entscheidungskriterien richten. Entsprechend sind diese Instrumente auch aus liberaler Perspektive als legitim einzustufen (vgl. von Grafenstein et al. 2018, S. 70, 71), was sich auch in ihrer erhöhten Akzeptanz bei Bürgern widerspiegelt (Sunstein 2016).

2.4.4 Transparente vs. Intransparente Nudges

Ein wichtiger Aspekt bei der Frage nach Manipulation durch Nudges ist der Grad der Transparenz dieser für die Personen, an die sie sich richten. Transparente Nudges weisen sichtbare visuelle oder andere Reize auf, ihre Absichten und Instrumente sind klar erkennbar. Intransparente Nudges dagegen sind für die Personen weder in Ansicht noch Methode erkennbar, so z. B. das Framing in Behördenanschreiben oder die Anordnung von Speisen in Kantinen. Lepenies und Malecka (2016, S. 512) empfehlen, darüber hinaus zwischen der Transparenz am Entscheidungsursprung eines Nudges und von der Transparenz dessen Wirkung zu differenzieren. Hansen und Jespersen (2013, S. 16) weisen auf ein ethisches Paradox hin: Vollständige Transparenz wäre zu restriktiv und würde Nugdes ihr Wirkpotenzial nehmen, wenn z. B. darauf hingewiesen werden würde, dass sich die Tellergröße geändert hat. Allerdings zeigen erste Befunde, dass die Offenlegung eines Nudges, wie explizite Voreinstellung (Default), kaum Einfluss auf die Wirksamkeit des Nudges haben muss (Loewenstein et al. 2015).

Nudges lassen sich in einer zweidimensionalen Matrix zwischen Typ 1 und Typ 2 sowie transparenten und intransparenten Nudges verorten (Hansen und Jespersen 2013, S. 20 ff.): Transparente Typ-1-Nudges (‚Vereinfachung der konsistenten Wahl‘): Beispielsweise falsche Straßenlöcher zur Geschwindigkeitsreduktion oder das beidseitige Drucken als Voreinstellung. Transparente Typ-2-Nudges (‚Sicht- und erkennbare Versuche der Beeinflussung‘) wären zum Beispiel grüne Fußabdrücke hin zum Abfallkorb oder Information zum individuellen Energieverbrauch im Vergleich zur Nachbarschaft. Intransparente Typ-1-Nudges (‚Versteckte Manipulation des Verhaltens‘) wären u. a. die Verwendung kleiner Teller in der Kantine zur Kalorienreduktion oder die gezielte Textplatzierung auf Formularen, damit diese korrekt ausgefüllt werden. Intransparente Typ-2-Nudges (‚Manipulation der Entscheidung‘) finden Anwendung, wenn durch geschicktes Framing des Risikos die gesundheitsförderlichere Variante gewählt wird, beispielsweise wenn durch positive Darstellungen bestimmte Altersvorsorgeoptionen gefördert werden.

2.4.5 Edukativ vs. nonedukativ

Eng mit Typ-1- und Typ-2-Nudges sowie mit Transparenz verbunden, sind die auf den Wirkungsaspekt abzielenden edukativen und nonedukativen Nudges. Edukative Nudges erscheinen den Menschen attraktiver und entsprechen mehr dem liberalen Politikverständnis von Handlungsautonomie, da sie System 2 ansprechen, bewusster und damit nachhaltiger die Entscheidungs- und somit die Handlungsfähigkeit der Personen prägen als nonedukative Handlungsarchitekturen, die auf System 1 abzielen (Sunstein 2017, S. 3). Dennoch plädiert Sunstein (2017, S. 9 ff., 78 ff.) in seiner Abwägung, auch nicht erzieherische Nudges einzusetzen: Menschen bevorzugen zwar edukative Nudges, aber bei zuvor schädlichem Verhalten präferieren sie durchaus nonedukative Nudges, insbesondere wenn diese effektiver und effizienter sind und weniger Zeit beanspruchen. Denn Bürger seien bisweilen unmotiviert, sich mit bestimmten Themen auseinanderzusetzen und über diese entscheiden zu müssen.

Überschneidungen lassen sich zwischen edukativen Nudges und sogenannten Kurzzeit-Boosts finden (Hertwig und Grüne-Yanoff 2017, S. 5). Einen Bildungsansatz verfolgt das Boosting (Ankurbelung), das im Gegensatz zum Nudging nachhaltig die Kompetenz der Bürger verbessern möchte. Boosts als nichtfinanzielle, machtfreie Interventionen haben das Ziel, die Entscheidungskompetenz von Personen kurz- oder langfristig zu verbessern und deren Handlungsfähigkeit zu trainieren. Dazu werden entweder deren Fertigkeiten, Wissen, Entscheidungsregeln oder deren Entscheidungsumwelt verändert. Durch die Förderung bestehender und neuer Kompetenzen sind Boosts so konstruiert, dass sie ein spezifisches Verhalten ermöglichen, mit dem bessere Entscheidungen getroffen werden. Die Kompetenzen können ein Feld (z. B. Finanzbuchführung) oder grundsätzliche Felder umfassen (z. B. statistische Fähigkeiten zur besseren Risikoeinschätzung). Boosting kann sich auf menschliches Denken (z. B. Entscheidungsstrategien, Handlungsroutinen, Motivationskompetenz, strategischer Einsatz automatisierter Prozesse), die Umgebung (z. B. Informationsdarstellung oder physikalische Umwelt) oder auf beides beziehen. Die Ziele von Boosts müssen für die Personen transparent sein (Hertwig und Grüne-Yanoff 2017, S. 5).

2.5 Kritik an Nudging

Die Diskussion über die Legitimität des Nudging wird sowohl auf wissenschaftlicher als auch politischer Ebene kontrovers geführt (siehe beispielsweise Hansen und Jespersen 2013; BDI 2014; Vodafone Stiftung Deutschland 2014; Gigerenzer 2015; Sunstein 2015a; Lepenies und Malecka 2016). Neben der Kritik gegen den unpräzisen Begriff Nudge wendet sie sich gegen den widersprüchlich erscheinenden Begriff des libertären Paternalismus, das unterstellte Menschenbild des unmündigen Bürgers, gegen manipulative Techniken und diskutiert die rechtliche Bewertung. Im Folgenden werden einige Argumentationslinien kurz skizziert.

2.5.1 Definitorische Unschärfe

Der Begriff Nudge durch Thaler und Sunstein (2008) mit Kennzeichen wie „wirtschaftliche Anreize stark zu verändern“ (S. 15), „leicht und ohne großen Aufwand zu umgehen (S. 15)“ oder „nur ein Anstoß“ (S. 15), ist einerseits unzureichend operationalisiert, auch wenn dies durch Typisierungen versucht wurde (siehe Abschn. 2.4). Andererseits sind die gewählten Beispiele so weit gefasst, dass eine trennscharfe Zuordnung einzelner Interventionen zu Nudges oder ähnlichen Interventionsformen problematisch bleibt (Krisam et al. 2017, S. 120). Dem Konzept fehlt insofern die Neuartigkeit, als dass dort verwendete Mechanismen bereits in anderen Kontexten, wie zum Beispiel strategischen Präventionskampagnen (Kreyenborg 2017), Boosting oder Empowerment (Kliche und Kröger 2008) erkennbar waren.

2.5.2 Libertärer Paternalismus

Neben den Erkenntnissen der Verhaltensökonomie ist der sogenannte ‚libertäre Paternalismus‘ die theoretische Legitimation des Nudging-Konzeptes. „Paternalismus ist deshalb wichtig, weil es unserer Überzeugung nach für Entscheidungsarchitekten legitim ist, das Verhalten der Menschen zu beeinflussen, um ihr Leben länger, gesünder und besser zu machen“ (Thaler und Sunstein 2008, S. 14 f.). Während beim Paternalismus eine Bevormundung durch den Regierenden zum vermeintlichen Wohle des Adressaten erfolgt, legen Liberalisten großen Wert auf die absolute Entscheidungsfreiheit des Einzelnen.

Dieser scheinbare Widerspruch werde beim libertären, also leichten, unaufdringlichen Paternalismus aufgehoben, „weil die Auswahl der Möglichkeiten nicht eingeschränkt und keine der Optionen mit überaus strengen Auflagen versehen wird“ (Thaler und Sunstein 2008, S. 15). Andere sehen im libertären Paternalismus einen Widerspruch, da Nudging insbesondere in seiner nonedukativen, intransparenten Ausprägung die Handlungsfreiheit einschränke. Da sei das Gegenargument auch unerheblich, dass Menschen stets bestehenden Entscheidungsarchitekturen gegenüberstehen, weshalb deren „Gestaltung nicht ausschließlich dem Zufall oder kommerziellen Interessen zu überlassen“ sei (Krisam et al. 2017, S. 121). Hier sollte Verständnis darüber hergestellt werden, welche konkreten Interventionen als leicht und unaufdringlich zu klassifizieren sind.

2.5.3 Mündiger Bürger – mündiger Verbrauer

Befürworter und Kritiker von Nudging haben unterschiedliche Menschenbilder, nach denen sie jeweils die verhaltenswissenschaftliche Literatur verschieden interpretieren (Lepenies und Malecka 2016, S. 503). Zwei (verbraucher-)politische Leitbilder stehen sich gegenüber (BDI 2014): Mündige, eigenverantwortlich handelnde vs. schützenswerte Bürger, die durch eigene Schwächen Anbietern von Konsumgütern und Dienstleistungen strukturell unterlegen sind, weshalb sich die Politik zu Verbraucherschutzregeln in den Bereichen Information, Beratung und Bildung verpflichtet sieht.

Libertär fortschrittsoptimistische Kritiker verwehren sich vehement gegen staatliche Regulierung. Man sei laut Bolz (2016) gegen „Sozialvormundschaft“, wolle nicht am „vernünftigen Leben“ teilnehmen. Die „als Wohltat getarnte Tyrannei“ ziele auf „die erlernte Hilflosigkeit“ der Bürger (Bolz 2016). Das durch die Verhaltensökonomie relativierte Idealbild des mündigen Verbrauchers betrachte den realen Verbraucher als einen ziemlichen „Trottel“ (Richardt 2016, S. 7). Demokratische Staaten müssten jedoch ihre Bürger als mündige Bürger ernst nehmen. Es sei abzuwägen, ob eher privatwirtschaftliches und/oder staatliches Handeln die gesamtwirtschaftliche Wohlfahrt verbessert. Nicht nur der Markt, auch der Staat könne versagen. Wie solle er über ‚richtige‘ und ‚falsche‘ Präferenzen entscheiden, dies könne lediglich der Verbraucher selbst für sich beurteilen (BDI 2014, S. 11 f.).

In einer verfassungsrechtlichen Bewertung des Nudging weist Holle (2016) darauf hin, dass der Staat zwar grundsätzlich individuelle Entscheidungen beeinflussen darf, er sich dabei jedoch zwischen den Polen ‚Selbstbestimmung‘ der Individuen und ‚Gemeinschaftsbezug‘ bewegen muss. So bleibt die Eigenständigkeit der Person gewahrt, gleich ob sie sich rational oder irrational verhält. Es ist nicht Aufgabe des Staates, das Individuum vor sich selbst zu schützen (Ausnahme Kinder und geistig Eingeschränkte). Er darf verschiedene Lebensstile und Weltanschauungen nicht nach ‚gut‘ oder ‚schlecht‘ bewerten, solange diese nicht die Freiheit Dritter beeinträchtigen. Zugleich wird das soziale Zusammenleben gepflegt und gefördert (Holle 2016, S. 599 ff.). Ein Eingriff in die selbstverantwortliche Persönlichkeit ist dann möglich, wenn dies der Verbesserung des Gesundheitsstatus der Gesamtbevölkerung zum Erhalt der Sozialsysteme dient (z. B. Kosten im Gesundheitssystem durch Adipositas) oder dem Schutz der Gesundheit Einzelner, um nachteilige Auswirkungen auf Dritte zu verhindern (z. B. Rauchverbote).

2.5.4 Manipulation

Die Kategorien ‚intransparente Typ 1/2 Nudges‘ implizieren, dass manipulative Sozialtechniken wie im Marketing verwendet werden. Von Manipulation kann bei intransparenten Absichten sowie Vorgehensweisen innerhalb von Interaktionen gesprochen werden, wenn diese eingesetzt werden, damit jemand etwas tut, was er sonst nicht täte. Eine Intervention ist in dem Maße manipulativ, in dem sie das menschliche Vermögen einer reflektierten, abgewogenen Wahl einschränkt (Sunstein 2015b, S. 6). Da der Staat als Akteur nicht vollständig informiert sein kann und selbst Heuristiken und Bias unterliegt, dürfe er nicht manipulativ handeln. Per definitionem müssen daher Manipulation und Intransparenz bei Design und Anwendung von Nudges ausgeschlossen werden. Als Politikinstrument müssen sie transparent sein und dem öffentlichen Diskurs standhalten.

„Um Missverständnisse zu vermeiden, sollte daher der Begriff des Nudging u. E. nur im ursprünglichen Sinne verwendet werden und im Bereich der kommerziellen Anwendung bei Anbietern (4. Quadrant – ‚versteckte Manipulation‘) gar nicht von Nudging gesprochen werden, sondern von Sozialtechniken des Marketings. Nudging sollte zudem konzeptionell der (nicht-kommerziellen) Förderung von Wohlfahrtszielen auf individueller und gesellschaftlicher Ebene vorbehalten sein“ (Reisch und Sandrini 2015, S. 35).

2.5.5 Rechtsfreier Raum

Nudges ermöglichen es Politik und Verwaltung, das Bürgerverhalten ohne Umwege über legislative und deliberative Prozesse schneller und effizienter zu beeinflussen. Eine Diskussion über gesellschaftliche Zielkonflikte sowie die Legitimität bestimmter Nudges entfällt damit. Nudging agiert damit im Rahmen informellen Regierungs- und Verwaltungshandelns. Auch wenn mittlerweile Befürworter wie Kritiker verhaltenswissenschaftlicher Interventionen um eine rechtliche Bewertung bemüht sind (z. B. Holle 2016; Lepenies und Malecka 2016; Mathis und Tor 2016; von Grafenstein et al. 2018), fehlen dazu bislang spezifische Gesetze oder einschlägige Rechtsprechung.

Das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 III GG) schreibt dann eine gesetzliche Grundlage vor, sofern „staatliche oder staatlich veranlasste Veränderungen der Architektur der Wahl, die einen grundrechtsrelevanten Eingriff darstellen“ (Thorun et al. 2017, S. 61), vorgenommen werden. Dabei gilt, je höher das Maß der Freiwilligkeit und damit je geringer die Eingriffstiefe, desto weniger sind gesetzliche Regelungen erforderlich. Je mehr ein staatlicher Nudge das durch Grundrecht geschützte Verhalten unmöglich macht, beeinträchtigt oder erschwert, desto problematischer ist er rechtlich einzustufen (Holle 2016, S. 610 ff.).

Grundsätzlich ist die rechtliche Bewertung von Nudges daher eine Einzelfallabwägung. Ein Nudge gilt dann als geeignet, wenn entgegen dem vorherigen Entscheidungskontext der Nudge legitime Ziele verfolgt („debiasing“ (Thorun et al. 2017, S. 124)), empirische Daten eine entsprechende Zielerreichung erwarten lassen, es dafür keinen gleich geeigneten milderen Nudge oder vergleichbare Instrumente gibt und, dass „mit dem Nudge verfolgte legitime Ziel die individuelle Entscheidungsfreiheit überwiegt“ (Thorun et al. 2017, S. 124). Eine rechtliche Bewertung der zehn wichtigsten Nudges (Thorun et al. 2017, S. 120 ff.) zeigte, dass mit Ausnahme des sehr effektiven Defaults (beispielsweise „Grüner Strom als Voreinstellung“ (Thorun et al. 2017, S. 59)) sich alle grundsätzlich problemlos in deutsches bzw. europäisches Recht einfügen lassen.

Holle (2016, S. 614 ff.) unterscheidet in seiner verfassungsrechtlichen Prüfung von Nudges die Formen informativ, edukativ, befähigend und manipulativ: Informative Nudges wie der Vergleich von Kalorien-, Fett-, Zucker- und Salzgehalt mit Richtwerten stellten keinen Grundrechtseingriff dar. Dagegen würden Smileys einer Hygienekontrolle nicht primär informieren, sondern verhaltenslenkend bewerten. Edukative Nudges wollen Informationen durch vorgegebene Interpretationen bewerten, beispielsweise in Form einer Nährwert-Ampel und als Warnhinweise auf Zigarettenpackungen. Hier sei ein schmaler Grat zwischen legitimer Beseitigung von Wissensdefiziten und staatlicher Bevormundung gegeben. Befähigende Nudges wollen helfen, selbst gewolltes Handeln auch umzusetzen. Freiwillige Selbstverpflichtungen wie selbstgewählte Sanktionen bei unökologischem Verhalten seien unproblematisch. Manipulative Nudges, die das abwägende System 2 umgehen und auf das unbewusste System 1 abzielen, sind grundrechtlich umstritten, da sie die Erheblichkeitsschwelle überschreiten. Dazu zählen insbesondere gesetzte Defaults (Ökostrom als Voreinstellung), das Framing (Produktplatzierung) sowie Priming (Lebensmittel mit positiven/negativen Bildern/Emotionen). Das Gegenargument, Voreinstellungen existierten auch ohne Nudging und seien daher keine Beschränkung vorhandener Entscheidungsoptionen (Thaler und Sunstein 2008, S. 310), greife nicht, denn Personen müssten über ihre bisherigen Gewohnheiten hinaus aktiv werden.

Nudges dienen auch immer dazu, „bestimmte gesellschaftliche Ziele zu erreichen“ (Lepenies und Malecka 2016, S. 499), was sie politisch macht. Somit sind Entscheidungsarchitekten zugleich Entscheidungsträger und damit nicht neutrale Planer. Auch sie können Fehler machen. Darum müssen die Methoden transparent sein, denn nur so ist ein öffentlicher Diskurs über deren Ziele und damit deren demokratische Kontrolle möglich. Ein Rechtsgutachten zum Einsatz digitaler Big-Data-gestützter Instrumente resümiert, der Einsatz verhaltensökonomischer Beeinflussungsinstrumente berge daher:

„erhebliche Gefahren für individuelle sowie gesellschaftliche Werte wie die Würde und Autonomie des Individuums und die demokratische Öffentlichkeit […]. Auf der kollektiven Ebene hängt die Legitimität der Instrumente davon ab, dass sie die öffentliche Deliberation nicht untergraben, die Unverfälschtheit demokratischer Wahlen nicht in Zweifel ziehen und den gemeinsamen Erfahrungsraum politischer Gemeinschaften nicht übermäßig zersplittern“ (von Grafenstein et al. 2018, S. 8).

Im Kontext ethischer und juristischer Bewertungen verhaltensökonomischer Interventionen wurde von deren Promotoren analysiert, welche Entscheidungsarchitekturen, welche Nudges bei Bürgern in Europa (Reisch und Sunstein 2016) sowie weltweit (Sunstein et al. 2018) auf mehr oder weniger Akzeptanz stoßen. Die Mehrheit der Bürger in den meisten Ländern unterstütze die meisten Nudges. Die Befragten unterstützen eher reflektierende Typ-2-Nudges, bewerten Typ-1-Nudges dann positiv, sofern sie an selbst empfundenen Problemen ansetzen. Nudges werden eher akzeptiert, wenn deren Ziele als legitim betrachtet werden, diese mit den Interessen und Werten der meisten Bürger übereinstimmen. Gesundheits- und Sicherheits-Nudges werden generell befürwortet. Der Zugriff der Regierung auf monetäre Mittel der Bürger ohne deren Zustimmung oder eine unbewusste Manipulation wurden dagegen negativ bewertet. Somit können solche Befunde zur Akzeptanz zwar nicht normative Fragen beantworten, jedoch können sie den Diskurs darüber befördern und der Politik Anhaltspunkte liefern, Nudges umzusetzen oder nicht.

3 Implikationen für strategische Kommunikation

Nach Vorstellung und Diskussion der Anwendungsmöglichkeiten der Verhaltensökonomie in staatlichen Interventionsprogrammen in Form von Nudges sollen daraus abschließend Implikationen für strategische (Verwaltungs-)Kommunikation aufgezeigt werden:

  • Begriffe präzisieren: Im Kontext strategischer Verhaltensbeeinflussung hat der Begriff ‚Nudging‘ die Diskussion zugleich befördert wie behindert. Befördert, da er als vermeintlich neues Tool großes Interesse bei Politik und Wissenschaft auf sich zog und so zu seiner Popularisierung beigetragen und eine kontroverse Debatte angestoßen hat. Behindert, da bezüglich der Modi der Verhaltensbeeinflussung und somit, welche Verhaltensbeeinflussung als Nudge zu gelten hat und welche nicht, sowohl in Wissenschaft wie Praxis Unklarheit besteht. Es mag daher sinnvoller sein, konsequent von Verhaltensbeeinflussung und nicht von Nuging zu sprechen, insbesondere da andere relevante Diskurse und Anwendungen wie Boosting so inkludiert wären und nicht verloren gingen (von Grafenstein et al. 2018, S. 17).

  • Ordnungsfunktion: Die Typisierung der Nudges, ihre jeweilige Zuordnung zu bestimmten Heuristiken und Bias, ermöglichen es, die Wirkungsweisen kommunikativer Strategien – als Hypothesen über den aggregierten Verlauf von Kommunikationsprozessen – systematisch zu ordnen, zumal die Wirkungsmodelle teilweise denen der Medienwirkungsforschung entsprechen. Hier gilt es, jeweilige Erkenntnisse systematisch miteinander in Bezug zu setzen (z. B. Befunde zu Framing/Priming, Meinungsführerforschung).

  • Evidenzbasierte Organisationskommunikation: Die evidenzbasierte empirische Vorgehensweise ist ein wichtiges Element verhaltensbasierter Regulierungen:

„Ob sich gesellschaftlich eine Intervention lohnt oder nicht, ob sie die Wohlfahrt einer bestimmten Gruppe oder der gesamten Gesellschaft insgesamt langfristig steigert oder nicht, welche intendierten Effekte und nichtintendierten Nebeneffekte eine Maßnahme hat und wie gewichtig letztere sind, wird auf Grundlage von Empirie – kontrollierten Experimenten, Pilotstudien, Testmärkten, Befragungen, Reallaboren und ähnlichem – festgestellt. Die Bewertung erfolgt grundsätzlich durch die Methode der Kosten-Nutzen-Analyse. Jede Maßnahme sollte jedoch auch auf Angemessenheit, Legitimität, Akzeptanz und Praktikabilität geprüft und erst nach vollständiger Abschätzung eingeführt werden.“ (Reisch und Sunstein 2017, S. 348)

Diese Vorgehensweise kann Vorbild sein, konsequent strategische (Verwaltungs-)Kommunikation zu evaluieren – wie seit langem eingefordert wird (Volk 2016) – und damit deren Wertschöpfungsbeitrag auf Mikro-, Meso- und Makroebene zu ermitteln.

  • Staatliche vs. privatwirtschaftliche Organisationskommunikation: Die kontroverse Diskussion zur Legitimität staatlicher Einflussnahme ermöglicht die Ausweitung des Blicks auf jedwede Form strategischer Organisationskommunikation. Die Mechanismen der Verhaltensökonomie sind fester Bestandteil strategischen Marketings privatwirtschaftlicher Unternehmen. Neuere Erkenntnisse des Neuromarketings gehen darüber hinaus und versuchen, die Black-Box menschlichen Verhaltens zu öffnen (Häusel 2012). Dennoch wird in der rechtlichen Bewertung der Legitimität privatwirtschaftlicher Aktivitäten deutlich unterschieden: Der freien Wirtschaft ist es erlaubt, im Rahmen des Wettbewerbsrechtes zu beeinflussenden Mitteln zu greifen, um sich durchzusetzen. Der wirtschaftliche Schaden durch verdeckte Beeinflussung unterbewusster Entscheidungsprozesse des Konsumenten sei bei Fehlkäufen begrenzt, während dem Bürger durch die öffentliche Hand der Verlust der Staatsfreiheit des Meinungs- und Willensbildungsprozesses drohe (Lepenies und Malecka 2016, S. 612). Private Unternehmen würden somit nur in die wirtschaftliche Entscheidungsfreiheit eingreifen, während der monopolistische Staat auch in andere Lebensbereiche einwirke. Allerdings können sich auch Bürger in Demokratien, sofern sie Nudges als solche erkennen und ablehnen, gegen schlechte Politik durch Abwahl wehren. Zumal erscheint es fraglich, ob es heute noch leichter möglich ist, privatwirtschaftliche Interventionen zu umgehen als staatliche Nudges. Zumindest Unternehmen wie Google, Amazon oder Facebook prägen gegenwärtig mit ihren Algorithmen massiv menschliches Verhalten und damit das öffentliche Leben.

  • Sicherungsmaßnahmen: Aus politisch-rechtlicher Perspektive werden weitreichende Sicherungsmaßnahmen empfohlen, um durch Transparenz und Deliberation Kritikpunkte an staatlichen Interventionen zu mindern (Lepenies und Malecka 2016, S. 514 ff.): 1) Bei Voreinstellungen sollten die Bürger jeweils aktiv die Art der Voreinstellung wählen können; 2) Entscheidungsarchitekten müssten ggf. für ihr Tun haftbar sein; 3) eine Aufsichtsbehörde für Nudging mit Ombudsmann sollte Nudges als (in)valide kennzeichnen; 4) einzelne Nudges seien rigoros rechtlich zu bewerten; 5) ein öffentliches Zentralregister sollte alle bestehenden Nudges auflisten; 6) Nudges müssten regelmäßig auf Wirksamkeit hin überprüft werden und 7) seien auf Produkten und Maßnahmen zu kennzeichnen. Im Zusammenhang mit Big Data-gestützten Instrumenten empfiehlt ein Rechtsgutachten darüber hinaus 8) eine öffentliche Debatte zu „Grundsätzen und Leitbildern für die Entwicklung und den Einsatz Big-Data-gestützter Beeinflussungsinstrumente, sowohl im öffentlichen als auch im privatwirtschaftlichen Bereich“ (von Grafenstein et al. 2018, S. 9), 9) einen Nudge-Sachverständigenrat sowie 10) gezielte Bildungsangebote zur Medienkompetenz, um insbesondere die für Verhaltensbeeinflussung anfälligen Kinder und Jugendlichen zu kritischem Umgang mit digitalen Entscheidungsarchitekturen zu befähigen (von Grafenstein et al. 2018, S. 9). Damit hätte die verhaltensökonomisch basierte Verwaltungskommunikation eine solide Legitimationsbasis, die in Teilen auch der Privatwirtschaft gut anstände.