Zusammenfassung
Eine der Veränderungen im Kontext von Big Data besteht im schleichenden Verlust der Erzählbarkeit des eigenen Lebens durch (potenziell) lückenlose Datensammlungen. Ethisch relevant sind dabei der Verlust von Selbstbestimmtheit und Würde. Die zunehmende Quantifizierung und Indexikalisierung menschlichen Lebens können als Angriff auf die existenzielle Realität verstanden werden. Der performative Selbstwiderspruch datengetriebener Gesellschaften besteht darin, einerseits Optimierungs- und Flexibilitätsanforderungen an Individuen immer normativer zu adressieren, gleichzeitig aber in Kauf zu nehmen, dass Lebensentwürfe konformer und Lebensgeschichten weniger narrativer werden. Der Verlust biographischer Imaginationsfähigkeit sowie der plastischen Narrationsmöglichkeit des eigenen Lebens stellen eine bislang kaum beachtete ethische Sollbruchstelle des Big Data Zeitalters dar.
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27 May 2020
„Im Beitrag auf Seite 229 wurde versehentlich der Haupttitel („Erzählerische Wahrheit im Zeitalter von Big Data“) vergessen.
Notes
- 1.
Zur Definition von Big Data und zur Einordnung unterschiedlicher Anwendungsfelder, sowie zu den zahlreichen Problemformulierungen aus ethischer Perspektive vgl. auch das ABIDA-Gutachten „Ethische Standards von Big Data und deren Begründung“. Download unter: http://www.abida.de/de/blog-item/gutachten-ethische-standards-für-big-data-und-deren-begründung (Letzter Zugriff: 1. Mai 2018).
- 2.
Vgl. dazu auch Ulrich Beck, der gezeigt hat, dass eigenes Leben immer auch institutionenabhängiges Leben bedeutet und daher (aus soziologischer Perspektive) weit weniger Freiheitsgrade besitzt, als gewünscht (Beck 1997).
- 3.
Vgl. dazu:“Telling stories is as basic to human as eating. More so, in fact, for while food makes us live, stories are what makes our lives worth living. They are what make our condition human” (Kearney 2002, S. 33).
- 4.
Vgl. dazu: „Blogging and social networks allow us to chronicle our lives using a range of rich, digital, multimedia artifacts and then share it with not only our family and friends, but potentially with millions of others. These technologies currently only offer explicit capature of personal memories“ (Byrne et al. 2008, S. 1).
- 5.
Möglichkeiten, wie zufallsgesteuerte Datenausgaben (Randomisierung), die Darstellung chronologischer Verläufe (Timelines) oder thematische Cluster werden der eigentlichen Zielsetzung einer Lebensgeschichte nicht gerecht.
- 6.
Vgl. dazu: „Zunächst zögernd, dann immer schneller und, man kann schon sagen immer zwanghafter, mussten die Erfahrungen der Wirklichkeit als Zahlen darstellbar sein.“ (Weizenbaum 1977, S. 46).
- 7.
Diesen Druck beschrieb der Soziologe Richard Sennett (2000) mit dem Stichwort des „flexiblen Kapitalismus“ eindringlich.
- 8.
Interview im Kontext des ABIBA-Gutachtens „Ethische Standards von Big Data und deren Begründung“. Download unter: http://www.abida.de/de/blog-item/gutachten-ethische-standards-für-big-data-und-deren-begründung (Letzter Zugriff: 1. Mai 2018).
- 9.
Grundlegend äußerte bereits Josef Weizenbaum eine ähnliche Kritik, ohne den Gegenstand dieser Kritik jedoch näher zu spezifizieren: Nach Weizenbaum gäbe es bestimmte Aufgaben, „zu deren Lösung keine Computer eingesetzt werden sollten, ungeachtet der Frage, ob sie zu deren Lösung eingesetzt werden können.“ (Weizenbaum 1977, S. 10).
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Selke, S. (2020). Erzählerische Wahrheit im Zeitalter von Big Data: Zwischen Delirium der Rationalität und Verlust biografischer Imaginationsfähigkeit. In: Wiegerling, K., Nerurkar, M., Wadephul, C. (eds) Datafizierung und Big Data. Anthropologie – Technikphilosophie – Gesellschaft. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-27149-7_10
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