Zusammenfassung
Wenn wir wissen wollen, wie einzelne Personen mit anderen Personen ein Gespräch führen und dadurch lernen können, dann sollten wir uns erst einmal überlegen, wie die individuelle Wissensverarbeitung zustande kommt. Ich erinnere an die Auffassung von Moravcsik (1983), der betont hat, dass mentale Prozesse weder direkt beobachtbar noch der Introspektion zugänglich sind, wie bereits in der Einleitung dargelegt wurde. Tatsächlich erfolgt die menschliche Wissensverarbeitung im Wesentlichen unbewusst, selbst wenn wir meinen, dass wir sie bewusst steuern. Sergin (1992) nimmt in seinem Modell menschlicher Informationsverarbeitung an, dass die unbewusste Wissensverarbeitung durch parallele Prozesse zustande kommt. Im Gegensatz dazu kann die bewusste Wissensverarbeitung als serielle Repräsentation selektierter Inhalte aufgefasst werden, die von der unbewussten Verarbeitung dem Bewusstsein angeboten werden.
Beide Systeme der Wissensverarbeitung erbringen Integrationsleistungen der zunächst diskret vorgegebenen Erfahrungen. So wird angenommen, dass Texte ständig parallel aus den verbalen Basisdaten gebildet und fraktal organisiert werden. Basisdaten sind für eine einzelne Person sprachliche Äußerungen, die diese Person im Laufe ihres Lebens gedacht, gehört oder ausgesprochen hat. Um Äußerungen einer anderen Person zu verstehen, ist es nötig, eigene schon vorhandene Erfahrungen neu zu verarbeiten. Es wird hier die spekulative Frage gestellt, ob im Unbewussten ständig parallel Gestaltenbäume entwickelt werden – oder wenigstens ineinander verschachtelte Wissensnetze. Im Gegensatz dazu ist das Bewusstsein die Fähigkeit, einzelne mentale Inhalte seriell zu fokussieren und zu sinnvollen Ganzheiten zu verbinden.
Es ergibt sich daraus ein Modell, das notwendige Interaktionen zwischen den zwei Subsystemen annimmt. Die zwei Systeme der Erfahrungsverarbeitung steuern sich gegenseitig. Das Bewusstsein führt durch die Fokussierung der Aufmerksamkeit zu einer augenblicklichen Aktivierung eines bewusstseinsfähigen Bereichs im Unbewussten. Und das unbewusste System versorgt das Bewusstsein mit möglichen Antworten. Es liefert subjektiv sinnvolle Verkettungen verbaler Einzeldaten, die zur Lösung von Problemen erforderlich sind.
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Notes
- 1.
Das Missverständnis von radikalen Konstruktivisten (wie z. B. von Maturana), das zur Ablehnung des Konzepts der „Repräsentation“ führte, beruht darauf, dass Repräsentationen als naturalistische Abbildungen verstanden wurden und nicht als modellhafte Konstrukte, die über mehrere hierarchische Stufen und in bestimmten Medien erzeugt werden.
- 2.
Doch scheint es im Menschen auch andere Weisen der unbewussten Bereichsfilterung zu geben. So weist Ciompi (1993, S. 76) darauf hin, dass Affekte oder Emotionen integrative und selektive Funktionen erfüllen: „So verbinden sie zusammengehörige kognitive Inhalte zu kontextabhängigen Fühl-, Denk- und Verhaltensprogrammen mit gleicher emotionaler Färbung. Auch spielen sie bei der funktionsgerechten Speicherung und Mobilisierung von Gedächtnisinhalten eine zentrale Rolle.“ Das heißt, „dass Affekte wie Filter oder Schalter wirken, die darüber entscheiden, was überhaupt gespeichert oder abgerufen wird.“ (Ciompi 1993, S. 82). Als Beleg dafür, dass durch gleiche Affekte verknüpfte kognitive Gedächtnisinhalte in eben diesen Affektzuständen bevorzugt erinnert werden, weist Ciompi auf die Experimente von Grof hin.
„Eindrucksvoll demonstrierten das beispielsweise die Experimente von Stanislaw Grof in den siebziger Jahren an der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore (Maryland). Als er mit Hypnose oder mit die Psyche beeinflussenden Drogen Gefühle von Angst, Freude oder Scham induzierte, kamen über das gesamte Leben verstreute, aber verdrängte Erinnerungen mit gleichartiger Gefühlsqualität sozusagen en bloc wieder zum Vorschein; er bezeichnete solche Blöcke als Coex-Erinnerungen (nach englisch condensed experiences, kondensierte Erfahrungen).“ (Ciompi 1993, S. 82)
Eine solche großflächige Bereichsfilterung über Affekte kann unsere Bereichsfilterung durch lexikalische Begriffe überlagern, wird hier aber nicht weiter untersucht.
- 3.
Die sprachlich wiedergegebenen Elemente dieser Wachfantasien dürfen wir jedoch nicht als vollständige Abbildung aller im Bewusstsein auftauchenden Vorstellungsfacetten auffassen. Denn wir haben keine Gewähr dafür, dass alle Einzelfacetten, die ins Bewusstsein traten, auch aufgeschrieben worden sind. Wenn die protokollierten Wachfantasien auch die Form sprachlicher Gestalten aufweisen, so dürften doch die eigentlichen Bewusstseinsprozesse viel differenzierter gewesen sein.
- 4.
Die folgenden Überlegungen (a), (b) und (c) wurden von Grossberg (1994) vertreten. Da sie aber bei Grossberg in einem anderen theoretischen Rahmen stehen, war es nicht in einem strengen Sinne möglich, sein Modell zu übernehmen. Vielmehr diente es als Analogievorbild für meine Vorschläge zur normalsprachlichen Wissensverarbeitung.
Literatur
Bickerton D (1990) Language and species. The University of Chicago Press, Chicago/London
Brentano F (1874) Psychologie vom empirischen Standpunkte, Leipzig. Neuauflage (2011), Ontos
Ciompi L (1993) Die Hypothese der Affektlogik. Spektrum der Wissenschaft, Februar, Nr. 76
Grossberg S (1994) Ross Ashby memorial lecture of the IFSR: „Neural networks for learning, recognition, and prediction“, Vortrag beim 12. European Meeting on Cybernetics and Systems Research, Wien (April)
Moravcsik J (1983) Can there be a science of thought? Conceptus 17(40–41):239–262
Pöppel E (1989) Eine neuropsychologische Definition des Zustands ‚bewusst‘. In: Pöppel E (Hrsg) Gehirn und Bewusstsein. VHC, München, S 17–32
Schleidt M, Eibl-Eibesfeldt I, Pöppel E (1987) A universal constant in temporal segmentation of human short-term behavior. Naturwissenschaften 74:289–290
Sergin VY (1992) A global model of human mentality. In: Trappl R (Hrsg) Cybernetics and systems research, Bd. 1, Proceedings of the 11th European Meeting on Cybernetics and Systems Research. World Scientific, Wien/Singapore/New Jersey/London/Hong Kong, S 882–890
Stumpf C (1939) Erkenntnislehre, Bd 1. Johann Ambrosius Barth Verlag, Leipzig
Wittgenstein L (1930–1932) Denkbewegungen. In Ilse Somavilla (Hrsg) Tagebücher Ms 183. Haymon Verlag, Innsbruck
Zelger J (2000) Parallele und serielle Wissensverarbeitung: die Simulation von Gesprächen durch GABEK®. In: Buber R, Zelger J (Hrsg) GABEK® II. Zur qualitativen Forschung. On Qualitative Research. Studienverlag, Innsbruck/Wien/Bozen, S 31–91
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Zelger, J. (2019). Bewusste und unbewusste Wissensverarbeitung. In: Erforschung und Entwicklung von Communities. Springer Vieweg, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-27099-5_10
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