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Das Gehirn hat die Führung? Neuroleadership und die ‚Gelehrsamkeit‘ des Common Sense

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Managementmoden in der Verwaltung

Zusammenfassung

Was hat den Hype der Neurowissenschaften in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts ermöglicht und warum folgte auf die anfängliche Bezauberung der wissenschaftlichen Öffentlichkeit so rasch die Desillusionierung? Zu dieser Diskussion will der nachstehende Text beitragen, indem darin eine der typischen Hervorbringungen aus der Zeit des rasanten Aufstiegs der Neurowissenschaften herausgegriffen und zum Gegenstand einer wissenschaftskritischen Analyse gemacht wird. Aus der Unzahl der Neuro-Komposita – von der Neuro-Theologie über die Neurophänomenologie bis hin zur Neuroökonomie – sei ein anwendungsorientiertes Feld ausgewählt: die Anwendung neuro-biologischer Erkenntnisse auf das Gebiet der Mitarbeiter*innen-Führung in Betrieben, rhetorisch entsprechend aufgeputzt als – Neuroleadership.

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Notes

  1. 1.

    Nur am Rande sei hier angemerkt, dass ein konsequent vertretener Epiphänomenalismus empirisch gerade auch mit den durch die technischen Entwicklungen in der Hirnforschung ermöglichten Anwendungen der modernen Neurobiologie in Konflikt gerät. In Werbik und Benetka (2016, S. 60–61) findet sich das in Bezug auf die sogenannten Neuroprothesen ausgeführt: Patient*innen lernen ihre Ersatzglieder willentlich zu steuern: z. B. durch Konzentration ihrer Aufmerksamkeit und eine adäquate kognitive Antizipation der Bewegungsausführung. Die Gültigkeit des Epiphänomenalismus vorausgesetzt, wäre das eigentlich unmöglich – ebenso wie das Zustandekommen z. B. von Konversionsstörungen in der klinischen Psychologie.

  2. 2.

    Vgl. das Diskussionsforum zum „Positionspapier zur Rolle der Psychologischen Methodenlehre in Forschung und Lehre“ (Meiser et al. 2018).

  3. 3.

    Aus den vom Österreichischen Fonds zur Förderung wissenschaftlicher Forschung FWF publizierten Statistiken geht z. B. hervor, dass von 2015 bis 2017 die Liste der am besten mit Fonds-Mitteln ausgestatteten Disziplinen von der Biologie (103,93 Mio. EUR bei einer Approval Rate von 22,6 %), der Physik (76,25 Mio. EUR; 24,1,%) und der Mathematik (70,96 Mio. EUR; 37,0 %) angeführt wird. Die Psychologie belegt unter den 21 gelisteten Disziplinen Rang 17 (7,58 Mio. EUR; 12,6 %); die Zuerkennungsquote ist im Übrigen die schlechteste aller angeführten Disziplinen. Austrian Science Fund (FWF) funding statistics 2009–2017; Scientific Disciplines 2009–2017; https://zenodo.org/record/1310774#.XGKirLfsaJA. Zugegriffen am: 29. Januar 2019.

  4. 4.

    Zum Folgenden Benetka 2007.

  5. 5.

    Zu den romantischen Wurzeln dieser Wiederbelebung schichtentheoretischen Denkens in der Psychologie vgl. die ausgezeichnete Studie von Wieser (2018).

  6. 6.

    Elger unterscheidet vier „in Tierhirnen experimentell nachgewiesene Basisemotionen: Erwartung (beim Menschen: Vorfreude), Wut, Furcht und Panik. Das Zusammenspiel der Hirnfunktion Vorfreude mit der Hirnfunktion Belohnung wird – ein Beispiel für viele andere ähnliche Passagen – mit folgenden Wortkaskaden angezeigt: „Eine solche Vorfreude stellt sich unter anderem auch bei Glückspielen ein, die im Gehirn eine ganze Reihe höchst komplexer Abläufe auslösen. Kein Spieler würde als ‚Homo oeconomicus‘ auch nur einen kleinsten Betrag setzen, weil rational gesehen die Verlustchance immer größer ist als die Gewinnchance. Trotzdem liebt ein großer Teil der Bevölkerung Glücksspiele. Optimismus ist also [???] eine auch in Experimenten nachgewiesene starke positive Emotion, bei der das Belohnungssystem eine große Rolle spielt.“ (Elger 2013, S. 99) In unserer Streitschrift gegen die Vorherrschaft neurowissenschaftlicher Forschung in der Psychologie (Werbik und Benetka 2016) haben wir im Zusammenhang mit solch unbedarften Vereinfachungen komplexer gesellschaftlicher, kultureller, sozialer und psychischer Sachverhalte, wie sie etwa Glückspiele und die Teilnahme an Glückspielen darstellen, von einer „Verwirtshäuselung“ der Psychologie gesprochen.

  7. 7.

    „Tatsächlich weiß bis heute noch niemand, wie diese Fülle von Informationen, über die wir ja tatsächlich verfügen, langfristig gespeichert wird. Ich vermute, dass dort ein System dahinter steckt, das wir einfach noch nicht verstanden haben.“ (Elger 2013, S. 123).

  8. 8.

    gemessen am Prozentsatz der zugekauften Kalorien am täglichen Gesamtnahrungsmittelumsatz.

  9. 9.

    Die mittels gängiger Erhebungsinstrumente erhobenen Variablen waren: (1) Bindungsstil; (2) Kontrollüberzeugungen; (3) Lust-Unlust-Balance; (4) Selbstwert; (5) motivationale Schemata.

  10. 10.

    Was diese vor allem experimentalpsychologisch orientierte Forschungstradition allerdings nicht in den Blick bekommt, ist der Umstand, wie sehr sich offensichtlich auch Expert*innen vom Sozialprestige der Neurowissenschaften in den Bann ziehen lassen. Ein gutes Beispiel dafür gibt Reinhardt (2014a, b), der penibel – und den wissenschaftlichen Gepflogenheiten in der Psychologie gemäß – die Reliabilitätskoeffizienten der von ihm in seinen empirischen Untersuchungen verwendeten psychologischen Erhebungsinstrumente anführt; in seiner Darstellung neurowissenschaftlicher Methoden bleibt die Frage nach deren Messgenauigkeit allerdings ungestellt. Er folgt damit völlig unkritisch dem Vorbild der Fachleute: Über die Zuverlässigkeit vor allem von fMRI-Untersuchungen sprechen Neurowissenschaftler nicht gerne – kein Wunder, wenn man weiß, wie schlecht die entsprechenden Werte sind: Die Reliabilitätskoeffizienten liegen bei einfachen Wahrnehmungsexperimenten bei r = 0.5, bei Experimenten, in denen komplexere Vorgänge untersucht werden, deutlich darunter (Jäncke 2012, S. 97). Verglichen mit den Ansprüchen an psychologische Messinstrumente sind diese Werte schlichtweg erbärmlich.

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Benetka, G. (2020). Das Gehirn hat die Führung? Neuroleadership und die ‚Gelehrsamkeit‘ des Common Sense. In: Barthel, C. (eds) Managementmoden in der Verwaltung. Springer Gabler, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-26530-4_5

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