Zusammenfassung
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kündigte der in Harvard lehrende Historiker Francis Fukuyama (1992) das Ende der Geschichte als Folge eines globalen Siegeszuges der liberalen Demokratie an. Und auch wenn mit dem Ende der Apartheid oder der anstehenden Rückgabe von Hong Kong und Macau an China kurze Zeit später einiges für die Verbreitung freiheitlicher Ordnungsprinzipien auf Grundlage von Marktwirtschaft und Rechtsstaatlichkeit zu sprechen schien, verdichten sich ein Vierteljahrhundert später Diagnosen einer fundamentalen Krise der Demokratie. Eine Gemeinsamkeit dieser Einschätzungen liegt darin, dass sie eine zunehmende soziale Ungleichheit innerhalb westlicher Industriegesellschaften als Ursache gesellschaftlicher Desintegrationsdynamiken benennen.
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Notes
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Seine kulturkritischen Implikationen spiegeln sich auch in der folgenden Einschätzung: „Die Beziehung zur Herrschaft wächst ihr sozusagen hinterrücks zu: die ‚privaten‘ Wünsche nach Autos und Kühlschränken fallen unter die Kategorie ‚Öffentliche Meinung‘ ebenso wie alle übrigen Verhaltensweisen beliebiger Gruppen, wenn sie nur für die Ausübung sozialstaatlicher Herrschafts- und Verwaltungsfunktionen relevant sind“ (Habermas 1990: 352).
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Der Einfluss der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule auf die Arbeit, als deren später Vertreter sich Habermas auch heute noch versteht, komplementiert sein liberales Demokratieideal als forschungsleitende Prämisse der Untersuchung (Johnson 2005: 166). Während sich seine Darstellung der Degeneration öffentlicher Kommunikation „durchaus als eine historische Grundlegung zur Kulturkritik der „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer und Adorno“ (Sarcinelli 2011: 96) lesen lässt, relativiert Habermas (1990: 30) seinen Skeptizismus zumindest teilweise Vorwort zur Neuauflage des Strukturwandels nicht zuletzt unter Bezug auf die Arbeiten der Cultural Studies: „Die Resistenzfähigkeit und vor allem das kritische Potenzial eines in seinen kulturellen Gewohnheiten aus Klassenschranken hervortretenden, pluralistischen, nach innen weit differenzierten Massenpublikums habe ich seinerzeit zu pessimistische beurteilt.“ In der Beschreibung eines öffentlich räsonierenden bürgerlichen Publikums lässt sich bereits eine frühere Referenz an Habermas' Ideal des herrschaftsfreien Diskurses als Vernunftspotenzial der Alltagskommunikation finden, wie er sie in der Theorie des Kommunikativen Handelns (1981) sowie Faktizität und Geltung (1992) weiter ausgeführt hat. Anders in den vergleichsweise abstrakten Darstellungen erkennt Hartmann (2006: 168) im Strukturwandel der Öffentlichkeit jedoch bereits ein später weniger eingelöstes Moment „institutioneller Konkretion“, da Habermas hier „die institutionellen Arrangements benennt, in deren Rahmen Argumente in herrschaftskritischer Hinsicht ausgetauscht und überprüft werden können.“
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Es stellt sich hierbei „das für die Sozial- und Kulturwissenschaften bekannte Problem, dass zusammenhängende Sachverhalte nicht simultan dargelegt werden können, sondern nur nacheinander“ (Barlösius 2004, 118).
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Eine Ökonomisierung der Krankenversicherung bedingt hier den weiter oben beschriebenen Druck auf lebensweltliche Arrangements in Form eines Zwanges zur ‚Prävention‘ (Lessenich 2008).
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Aber auch Einrichtungen wie Thinktanks, Stiftungen oder Universitäten.
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In Bezug auf die weiter oben beschriebenen Internationalisierungsdynamiken erkennt Trenz (2006: 119) im Internet „eine Art der europäischen Sekundäröffentlichkeit.“ Diese diene jedoch „eher der Selbstbeobachtung der am politischen Prozess beteiligten Akteure und Institutionen als der Fremdbeobachtung durch ein außenstehendes Publikum.“
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Mit dem ‚Recht auf Erscheinen‘ im öffentlichen Raum und der Frage, wem dieses Recht gewährt wird und wem nicht, verweist Judith Butler (2016) in diesem Zusammenhang auf einen zentralen Aspekt, der eine vertiefte Auseinandersetzung verdient.
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Seeliger, M. (2019). Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit? (Re-)Konfigurationen unter Bedingungen von Globalisierung, Ökonomisierung und Digitalisierung. In: Verhandelte Globalisierung. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-26372-0_7
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