Zusammenfassung
Entsprechende Analysen von Walter Benjamin und Michel Foucault wieder aufgreifend, rückt der Beitrag den historischen Zusammenhang und die Wechselwirkungen zwischen Kapitalismus und Biopolitik in den Mittelpunkt. In den Blick kommen dabei nicht nur die biopolitische Produktion nutzbarer Körper für die kapitalistische Wachstumsökonomie oder die zunehmende kommerzielle Vermarktung biomedizinischer Technologien. Anknüpfend an Benjamins Fragment Kapitalismus als Religion wird darüber hinaus verdeutlicht, wie die kapitalistische Steigerungslogik einen eigentümlichen motivationalen Horizont für die beständige Optimierung des „bloßen Lebens“ (Benjamin) erzeugt. Exemplarisch konkretisiert wird diese theoretische Perspektive an zwei aktuellen biopolitischen Phänomenen, dem „erweiterten Anlageträger-Screening“ und dem bioethischen Postulat der procreative beneficence, der Zeugung desjenigen Kindes mit den „besten“ Lebenschancen. In Abgrenzung sowohl von Entwürfen einer affirmativen Biopolitik als auch von politikwissenschaftlichen Governance-Konzepten plädiert der Beitrag abschließend für eine Politisierung der Biopolitik, die auf die Unterbrechung der Dynamik „gesteigerter Menschhaftigkeit“ (Benjamin) zielt.
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Notes
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Michel Foucault hat bekanntlich zwischen diesen beiden von ihm eingeführten Begriffen nicht systematisch unterschieden. Obwohl Biomacht das grundlegende Konzept ist, spreche ich in diesem Beitrag zumeist von Biopolitik, weil sich dieser Begriff in der einschlägigen Debatte weitgehend durchgesetzt hat. Im abschließenden Fazit komme ich jedoch nochmals auf das Verhältnis von Biomacht und Biopolitik zurück.
- 2.
Damit ist nicht der unstrittige Umstand gemeint, dass fast alle politischen Maßnahmen letztlich in irgendeiner Weise das Leben (auch das biologische Leben) der Regierten betreffen, sondern dass das „Leben als solches“ tatsächlich zum zentralen Thema aller politischen Aktivitäten werde (vgl. Esposito 2010, S. 10 f.).
- 3.
Umstritten ist, ob die Übersetzung von Benjamins Begriff des „bloßen Lebens“ in das italienische nuda vita und vor allem dessen deutsche Rückübersetzung als „nacktes Leben“ adäquat sind (vgl. Gorgoglione 2016, S. 79 f.). Wie ich noch verdeutlichen werde, radikalisiert Agamben das bloße Leben zu einem „entblößten“ oder zumindest „entblößbaren“ Leben, sodass eine sprachliche Differenzierung durchaus gerechtfertigt ist.
- 4.
„Das Recht der Souveränität besteht […] darin, sterben zu machen oder leben zu lassen. Danach installiert sich dieses neue Recht: das Recht leben zu machen und sterben zu lassen“ (Foucault 1999, S. 284).
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Agamben zufolge ist Foucault entgangen, dass die Einbeziehung des nackten Lebens in den politischen Bereich den „ursprünglichen – wenn auch verborgenen – Kern der souveränen Macht“ und somit den „Kreuzpunkt zwischen dem juridisch-institutionellen und dem biopolitischen Modell der Macht“ bilde (Agamben 2002, S. 16).
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Didier Fassin zitiert diese Passage in seinem Buch Das Leben. Eine kritische Gebrauchsanweisung und bemerkt dazu: „Dies ist die einzige Stelle, an der die politische Ökonomie in die Frage des Lebens hineinspielt. In seinen [Foucaults; PW] späteren Vorlesungen tritt der Liberalismus an die Stelle des Kapitalismus, und der Sozialdeterminismus, der für Foucaults Arbeiten über das Strafen und das Gefängnis so maßgeblich war, verblasst.“ (Fassin 2017, S. 140) Fassin sieht hier ein gewisses Widerstreben Foucaults am Werk, „Gesellschaftskritik in seine genealogische Kritik einfließen zu lassen“ (Fassin 2017, S. 140). Zu ergänzen ist allerdings, dass Foucault auch in einem ebenfalls 1976 gehaltenen Vortrag (Die Maschen der Macht) den historischen Zusammenhang von Kapitalismus und Biopolitik thematisiert und teilweise sogar noch deutlicher akzentuiert als in Der Wille zum Wissen (vgl. Foucault 2005, S. 231 ff.).
- 7.
Vgl. kritisch zu Agambens Unterscheidung auch Derrida (2015, S. 419 ff.), der außerdem bezweifelt, dass im griechischen Denken tatsächlich ein so scharfer Unterschied zwischen bíos und zoê bestanden hat wie Agamben behauptet.
- 8.
Fassin (2009, 2017) hat dafür den Begriff „Biolegitimität“ geprägt: Danach erhalten Menschen (etwa Flüchtlinge oder Migrant_innen) in bestimmten Situationen gerade dann bestimmte Rechte (legaler Aufenthaltsstatus o. Ä.), wenn sie beispielsweise aufgrund einer Krankheit durch ihr „bloßes Leben“ definiert werden, wohingegen ihnen diese Rechte verweigert werden, solange sie als politisch-rechtliche Personen identifiziert werden: Im Namen der Anerkennung des Lebens als höchstes Gut „dominiert […] das Physisch-Biologische über das Sozial-Politische“ (Fassin 2017, S. 110).
- 9.
Dazu gehört auch, sich durch die beständige Akkumulation von „Humankapital“ als beschäftigbar (employable) zu erweisen.
- 10.
Nach Burkhardt Lindner (2011, S. 223) bezeichnet die eigentümliche Formulierung „ungesteigerte Menschhaftigkeit“ ein „bestimmtes, anthropologisch unhintergehbares Verhältnis zur Welt als Kosmos, in dem sich die Menschhaftigkeit manifestiert“. Dass dies nicht lediglich eine naturalistische oder „konservative“ Begründung von Politik ist, unterstreicht vor allem die prominente Rolle, die für Benjamin darin der Technik zukommt (vgl. Wehling 2015).
- 11.
Eine ähnliche Entwicklung ist bei den sogenannten nicht-invasiven Pränataltests (NIPT) zu beobachten, die teilweise von denselben kommerziellen Labors vermarktet werden wie das erweiterte Anlageträger-Screening (vgl. Braun und Könninger 2018).
- 12.
Hierzu passt, dass der einflussreiche britische Nuffield Council on Bioethics in seiner kürzlich veröffentlichten Stellungnahme Genome editing and human reproduction zu dem Schluss kommt, vererbbare Eingriffe in das Genom eines menschlichen Embryos könnten unter bestimmten Bedingungen zulässig sein, etwa wenn sie mit dem Wohlergehen (welfare) des daraus entstehenden zukünftigen Menschen vereinbar seien (Nuffield Council 2018, S. 158).
- 13.
Auch Benjamin versteht wie oben erwähnt die „Erfüllung der ungesteigerten Menschhaftigkeit“ nicht als eine Art von allgemeiner kultureller Leitidee, sondern als Politik, als seine „Definition von Politik“ (Benjamin 1985b, S. 99). Ein wesentliches Moment dieser Politik sollte darin bestehen, eine Unterbrechung in der Dynamik gesteigerter Menschhaftigkeit herbeizuführen; genauer gesagt ist Politik diese Unterbrechung.
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Die Rede von den „sprechenden Wesen“ darf nicht in einem naturalistischen Sinne als Gesamtheit derer missverstanden werden, die „tatsächlich“ einer oder der (menschlichen) Sprache mächtig sind. Vielmehr ist der Dissens darüber, wer spricht und wer bloßen Lärm erzeugt, genau das, was in dem Streit zwischen „Politik“ und „Polizei“ auf dem Spiel steht.
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Wehling, P. (2019). Nutzbare Körper und „gesteigerte Menschhaftigkeit“ – Biopolitik und Kapitalismus bei Michel Foucault und Walter Benjamin. In: Gerhards, H., Braun, K. (eds) Biopolitiken – Regierungen des Lebens heute. Politologische Aufklärung – konstruktivistische Perspektiven. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-25769-9_15
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