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FormalPara Zur Einführung

Kinder auf der Bühne in ihrer Leiblichkeit/Körperlichkeit – den Leib in seiner Lebendigkeit und den Körper als Gegenstand der Betrachtung – öffentlich zur Schau zu stellen, rührte im bürgerlichen Theater an ein Tabu. Es galt, dass Kinder – und das gilt im Übrigen auch für Tiere und in früheren Zeiten auch für Frauen (vgl. Westphal 2018a) – nicht auf die Bühne gehören, sodass sie sich einer voyeuristischen Betrachtung nicht auszusetzen haben. Neuere Theaterformen haben in den letzten Jahrzehnten dazu beigetragen, andere Sichtweisen für eine Theaterarbeit mit Kindern zu entwickeln, die die Perspektive auf das konkrete Kind im Spiel von Möglichkeit und Wirklichkeit einnehmen. Diese spiegelt sich zunehmend in neueren Produktions- und Rezeptionsweisen einer Theaterarbeit nicht nur von Erwachsenen für Kinder, sondern auch in einem Theater der Kinder und einem Theater mit Kindern für Erwachsene. Die Sicht auf Kinder und von Kindern auf Erwachsene, sowie Spielweisen von Kindern aufzugreifen und diese in Auseinandersetzung mit theatralen Spielformen zu bringen – das ist neu –, ist zu einer ästhetischen Frage geworden (Sauer 2018).

Die Wahrnehmung des ausgestellten Körpers des Kindes auf der Bühne, das in diesen Produktionen mit und von Kindern im Spiel auf der Bühne hervorgebracht und dargestellt wird, bricht sich zugleich in der Ambiguität zwischen Macht und Ohnmacht, Körper und Leib. Darüber hinaus trägt die Thematisierung der Verletzbarkeit des Leibes zur Eröffnung anderer Sichtweisen auf Theater sowie das Verhältnis von Kind und Erwachsenen bei. Im Mittelpunkt der Analyse stehen Spielweisen, die Theater als einen sozialen und ästhetischen Raum verstehen, in dem die Art, wie man miteinander kommuniziert, verhandelt wird, in dem die Normen und Tabus unserer Kultur berührt und die gegebene „kulturelle Intelligibilität“ (Butler 1991, S. 39) infrage gestellt werden. Was heißt es also, im Theater wie im Denken das Stattfinden selbst zum Thema zu erheben? Wie geht das Dargestellte in die sinnlich-leiblich gebundene Darstellung ein?

Die nachfolgenden Ausführungen bewegen sich vor dem Hintergrund relevanter nachhusserlscher phänomenologischer und bildungsphilosophischer Referenzen. Zugrunde gelegt wird dahin gehend ein Verständnis von Leiblichkeit nach Helmuth Plessner (1941, VII, S. 241), der mit dem Begriff Leib die „exzentrische Position“ des Menschen markiert, die ein gleichzeitiges „Körpersein“ und „Körperhaben“ einschließt. Das bedeutet: Der Leib, mit dem ich die Welt in der Bewegung wie auch in anderen Handlungen erfahre, ist selbst an dieser Differenz – als Körper zu fungieren und zugleich im Körperhaben von sich Abstand nehmen zu können – beteiligt.

Weitergehend mit Maurice Merleau-Ponty (1966, S. 274) wird die These aufgegriffen, dass sich der Leib zur Welt hin entwirft und sich in sie verlängert, er sich an den Dingen misst und sie befragt. Anders formuliert: Der Leib antwortet auf die Aufforderungsstrukturen der Welt. Der Leib ist zugleich sich sehender und sichtbarer für Andere wie er auch zugleich sich empfindender und empfindbarer, hörender und gehörter ist. Durch die Öffnung auf Andere hin ist der Leib stets außer sich und nimmt Anderes als sich selbst außer sich wahr. Mit dem Begriff Ambiguität, der Zwei- und Mehrdeutigkeit des Leibes setzt sich Merleau-Ponty vom cartesianischen Dualismus ab, Körper und Geist als getrennt voneinander zu betrachten. Der Leib ist „weder Geist noch Natur, weder Seele noch Körper, weder Innen noch Außen“ (Waldenfels 2000, S. 41; vgl. Westphal 2014b, S. 92; Westphal 2015).

Nach Bernhard Waldenfels (2000, S. 11) gehören drei Dimensionen zur Leiblichkeit: Welt-, Selbst- und Fremdbezug. Er diskutiert die Frage, inwiefern der Leib von vornherein sich selbst fremd ist bzw. auf Anderes als er selbst, auf Fremdes bezogen ist. Als Differenzierungsgeschehen ist die Erfahrung des Fremden durch eine Verschiebung gekennzeichnet, die mit einer uneinholbaren Nachträglichkeit verbunden ist. „Das Antworten geschieht hier und jetzt, doch es beginnt anderswo“ (Waldenfels 2000, S. 26). Diese Doppelungsverhältnisse einer Reflexion von Selbst-, Fremd- und Weltbezug, die Waldenfels zufolge auf eine Urspaltung zurückzuführen ist, in der das Selbst nur über einen Spalt hinweg mit sich in Kontakt steht, zeichnet die Ausstellung des lebendigen Körpers auf der Bühne in ganz besonderer Weise aus.

Für die Betrachtung ästhetischer Vorgänge ist hervorzuheben, dass sich die leibliche Existenz zur Koexistenz erweitert, deren „Zwischenleiblichkeit“ mit einer „Zwischenwelt“ im Bunde steht (Waldenfels 2000, S. 286). Sie ist der anonyme Fundus, von dem alle sozialen und eben auch kulturellen Differenzierungen ausgehen. Eigenes und Fremdes durchdringen sich unaufhörlich wie Natur und Kultur. Die Vorgegebenheit des Selbst als Leiblichkeit bringt mit sich, dass wir immer nur im Nachhinein im Sinne eines Antwortens denken und handeln können. Wir sind schon leiblich in die Welt verwickelt, bevor wir sie reflektieren können.

Wie sich das konkret in einer singulären Aufführungspraxis verhält, soll Gegenstand der nachfolgenden Analyse sein. Hervorzuheben ist, dass die Beantwortung der Frage nach der Aufführungspraxis in den Darstellenden Künsten innerhalb der (theater-/pädagogischen) Phänomenologie, diese als ein Antwortgeschehen zu beschreiben, insbesondere in Hinblick auf die Perspektive des Verhältnisses von Kind und Erwachsener als ein Desiderat zu sehen ist. Hierzu soll der Kontext im nächsten Schritt kurz beleuchtet werden, bevor auf den Gegenstand unserer Betrachtung für eine Analyse eingegangen wird.

1 Möglichkeitsräume im Generationsverhältnis in den Künsten

Eine besondere Aufmerksamkeit haben in den letzten Jahrzehnten Langzeitprojekte von Performancekollektiven und Künstlerinnen und Künstlern erlangt, deren Aufführungspraxen neue Möglichkeiten des Generationsverhältnisses thematisieren und mit den Mitteln des Theaters und der Performance bearbeiten (Westphal 2018b; 2018d). Professionell angelegte Produktionen mit Kindern als Kinder und zunehmend auch mit Kindern und Erwachsenen – wie die Langzeitprojekte in Gent/BE (Campo) und, wie hier vorgestellt, von Milo Rau (Five Easy Pieces Uraufführung Brüssel/Berlin 2016) – legen es darauf an, in der Theaterarbeit mit Kindern Zuspitzungen des Generationenverhältnisses, in denen Kinder Erwachsene spiegeln, zu inszenieren. Mit all diesen Arbeiten geht einher, dass sie dabei das Theater als Theater und dessen Mittel selbst zur Disposition stellen (Pauwels 2012, S. 57).

Der Schweizer Regisseur Milo Rau treibt mit der neuesten Produktion von Art Campo Gent/BE „Five Easy Pieces“ diese Fragen auf eine weitere Spitze, indem er das Leben des Kindesmörders und Sexualtäters Marc Dutroux als Beispiel für die Gewalt Erwachsener gegenüber Kindern mit sieben Kindern zwischen acht und dreizehn Jahren und einem erwachsenen Darsteller in der Rolle als Spielleiter und Stellvertreter des Regisseurs auf die Bühne bringt. Dieser Vorfall hat die Nation in den 1990er Jahren eine lange Zeit in Atem gehalten und ist als Trauma ins nationale Gedächtnis eingegangen. Jedes Schulkind in Belgien kennt diesen Fall.Footnote 1

Milo Rau vom „Institut für politischen Mord“ ist bekannt durch seine Reenactments, in denen er historische und aktuelle Gerichtsverhandlungen nachstellt, und darin politischen Morden in ihrer strukturellen, administrativen Dimension nachgeht. In diesem Falle ändert er jedoch sein Konzept mit der Hinwendung zu einer Spielweise, in der die Erfahrungen der Kinder szenisch umgesetzt werden. Mit Hilfe von „Übungen“ und durch mit erwachsenen Schauspielern einstudierte Mini-Reenactments wird einerseits ein historisches Panorama belgischer Geschichte von der Unabhängigkeit des Kongo bis zur Großdemonstration „Weißer Marsch“, einer Protestdemonstration gegen die Korruption des Staates, entfaltet (Bläske 2017, S. 78). Andererseits fragt die Inszenierung nach den Grenzen von dem, was Kinder wissen, fühlen und tun dürfen. Was bedeutet es, sie als Erwachsener dabei zu beobachten? Und was erfahren wir dadurch über unsere eigenen Ängste, Hoffnungen und Tabus?

„Five Easy Pieces“ provoziert dabei die Frage, ob erlittene Gewalt in dieser Inszenierungsform überhaupt als Gewalttätigkeit zu verstehen ist. Ist das Theater mit seinen Mitteln in der Lage, sich in Distanz zu dieser Gewalt zu halten, um seine eigenen Möglichkeiten entfalten zu können, ohne ihrer Suggestion zu erliegen und nicht gänzlich davon in Anspruch genommen zu werden (vgl. Liebsch/Mensink 2003, S. 7)? Kann das szenische Spiel der Kinder sich dem Thema der Gewalt nähern, ohne Gefahr zu laufen, seinerseits von ihr heimgesucht zu werden? So kann „Gewalt verstehen“ heißen: sie nachvollziehbar werden zu lassen im Rückgriff auf Motive, Anlässe und Ursachen; kann heißen, sie historisch zu erklären; Gewalt zu verstehen kann aber auch heißen, Verständnis für Täter oder Opfer aufzubringen, und in einem sehr elementaren Sinne kann es auch heißen, diese erst einmal als Gewalt – jemanden verletzend oder zerstörend – szenisch beschreibend begreiflich zu machen (ebd., S. 11). Und: Gelangen wir nicht vielmehr an eine Grenze, die sich als Unverständliches dem Verstehen widersetzt? „Gewaltsamkeit wohnt auch dem Verstehen selber inne, wie die Hermeneutik lehrt“ (ebd., S. 16). Wo liegen in unserem Fall die Grenzen des Theaters als eines vornehmlich ästhetischen Raumes?Footnote 2

Nun maßt sich Milo Rau nicht an, sich das Ungeheuerliche im Fall des Kindesmörders, diesem zutiefst Fremden und Unzugänglichem, aneignen zu wollen. Vielmehr schafft er in „Five Easy Pieces“ durch die Geschichte von Marc Dutroux – wie er sagt – eine Art „Alibi, um [auch] über etwas Anderes zu sprechen“Footnote 3, über Machtverhältnisse zwischen Erwachsenen und Kindern; darüber, was Theater bedeutet und wie es sich selbst reflektieren kann, und was mediale Mittel bewirken können. Und das macht er, indem er die Kinder einlädt, nicht nur ihre eigenen Gedanken und Vorstellungen einzubringen, sondern auch die Zurschaustellung selber szenisch zu thematisieren und und die Verletzbarkeit des Leibes sichtbar zu machen.Footnote 4

2 Die Zurschaustellung im Theater mit Kindern zur Schau stellen. Oder: Der Körper, den wir haben, der Leib, der wir sind

Aufbau und szenische Momente

Als das Publikum an dem Abend der Kölner Aufführung am 29.06.2017 den Theaterraum betritt, sitzen bereits sieben Kinder auf der Bühne, drei (ein Junge und zwei Mädchen) auf der rechten Bodenseite, links ein Junge und ein Mädchen ebenfalls auf dem Boden, ein Junge auf einem Hocker und einer in der Ecke an einem Keyboard. Sie unterhalten sich oder sitzen einfach nur still da, der Junge auf dem Hocker malt sich Schminke ins Gesicht. Während die Zuschauer ihre Plätze einnehmen, hört man die Melodie eines bekannten Popsongs aus dem Jahr 2012: „Hero“ von Family of the Year. Es folgen: „Piece I: Vater & Sohn“, „Piece II: Was ist Theater“, „Piece III: Versuch über die Unterwerfung“, „Piece IV: Allein in der Nacht“ und „Piece V: Was sind Wolken“. In den einzelnen Teilen schlüpfen die Kinder in verschiedene Rollen, welche alle einen Bezug zu dem Fall von Marc Dutroux herstellen.

Eingangsszene

Schon das Setting der Eingangsszene eröffnet eine symbolische Lesart für die Zahl fünf. Denn fünf Stühle stehen auf der Bühne und im Hintergrund erscheint auf der Leinwand der Titel „Five Easy Pieces“. Der Titel verweist auf den Komponisten Igor Strawinsky, der vor einhundert Jahren seine Five Easy Pieces als Etüden komponierte, um seinen Kindern das Klavierspielen beizubringen. Zu hören ist mit Beginn des Stücks Hero, „Family of The Year“, das auch am Ende wieder eingespielt wird. Es handelt davon, den eigenen Weg und damit sich selbst zu finden. Gleichzeitig verweist die Raumaufteilung und die übergroße Projektionsfläche, die sich im hinteren Bühnenraum befindet, auf einen weiteren Raum, den Raum des Mediums Video. Die dort angebrachte Leinwand wird später für Video Live-Übertragung mit der Handkamera dienen, gleichzeitig aber auch für vorher aufgenommene Filme, für Untertitel und für Animationen. Auf diese Weise wird, wie wir noch sehen werden, die Differenz zum Bühnengeschehen herausgestellt. Das paradoxe Verhältnis von Realität und Virtualität, Nähe und Ferne, die gleichzeitige Ab- und Anwesenheit von Körperlichkeit und Differenz eines erwachsenen zum kindlichen Körper werden gezeigt und thematisiert.

Ein weiteres Licht geht im hinteren Bühnenraum an. Eine Schreibtischlampe, wir sehen einen Mann an einem Tisch sitzend und sich etwas notierend. Gleichzeitig erscheint eine Live-Aufzeichnung dieser Szene, mittels Kamera auf die Leinwand übertragen. Als Großaufnahme sieht man das Gesicht des Mannes, den Blick hebend, schaut er ins Publikum und ruft eines der Kinder auf. Das erste Kind, Elle Liza, setzt sich nach zweimaliger Aufforderung auf den äußersten Stuhl im Bühnenraum von ihr aus gesehen rechts. Dabei richtet sie ihren Blick auf die erwachsenen Zuschauer. Hinter ihrem Rücken befindet sich die große Leinwand, auf welcher das übergroß projizierte Gesicht des Mannes zu sehen ist, derauf sie blickt und Fragen zu ihrer Person stellt: Name, Geburtstag, Herkunft. Nacheinander werden alle sieben Kinder befragt. Nur für fünf der Kinder ist Platz auf den Stühlen. Dieses Setting einer Castingsituation spiegelt die Selektion wieder, die die Kinder tatsächlich für diese Produktion durchlaufen mussten (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

(Foto: Phile Deprez)

Szene aus Milo Rau Five Easy Pieces.

Medial überhöht und zugespitzt zeigt sich eine Situation, die uns die körperliche Mächtigkeit eines Erwachsenen – stellvertretend wie hier in der Rolle des Spielleiters – gegenüber den Kindern vorführt. Der Erwachsene befindet sich zum einen via Video räumlich über den Kindern, und zum anderen durch seine reale Position im hinteren Bühnenraum, von dem aus die Kinder ihn nicht sehen können, die Situation scheinbar wie ein Marionettenspieler lenkend. Diese Seh- und Raumordnung setzt nicht nur den Medien- und Bühnenraum in Beziehung, sondern verräumlicht auch das Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen. Blicke richten sich auf die Kinder von oben, hinten und von vorne.

Mit Waldenfels lässt sich sagen: „Ein fremder Blick, der mich als Sehender zum Gesehenen macht, kommt übrigens als Verfolgerblick stets von hinten, selbst wenn der andere mich frontal fixiert. Er fällt mir in den Rücken wie ein hinterlistig geführter Schlag, weil er mich dort trifft, wo ich mich nicht wehren kann“ (1994, S. 500). Indem ich Blicken ausgesetzt bin und zum Objekt und Gegenstand des Anderen werde, spiegelt sich darin die Ohnmacht im Sinne eines Beraubtwerdens der eigenen Initiative (vgl. Sartre 1994, S. 457).Footnote 5

Die Gegenwart der Erwachsenen wird verstärkt durch die Ansprache des Spielleiters an die Kinder. Fragen werden nur vom Erwachsenen gestellt, Regieanweisungen müssen befolgt werden, unklare und zu leise Antworten werden gemaßregelt, anderen Antworten schmunzelnd oder bewundernd, ermunternd, müde lächend oder zynisch begegnet. Wenn ein Kind zu sehr ausschweift, unterbricht er es etc. Es zeigt sich hier die ganze autoritative Palette dessen, wie Erwachsene Kinder erziehend begegnen können. Wie ein Psychologe notiert er sich die Antworten, häufig auch wiederholend und durch Intonation und Blicke kommentierend, was bei den Zuschauern nicht ohne Wirkung bleibt und im Wiederkennen zu Affekten wie Lachen führt. Scheinbar geben die Kinder persönliche Dinge preis. Elle Liza erzählt: „Erst sollte ich Elle heißen, so wie französisch „sie“, aber meine Mutter dachte, die Flamen können das nicht aussprechen, deshalb haben sie noch Liza angehängt“ (Rau 2017, S. 22).

Wie in einer Quizshow zeigt der Regisseur Elle Liza ein Foto und fragt danach, um wen es sich handele. Das Mädchen gibt die richtige Antwort: „Patricia Lumumba, ein Freiheitskämpfer im Kongo, der um die Unabhängigkeit von Belgien gekämpft hat“ (ebd.). Der Spielleiter spricht an, dass ihr Vater aus Kamerun stammt und die Mutter aus Belgien. Auf die Frage, ob sie sich mehr als Europäerin oder als Afrikanerin fühle, antwortet sie, dass das aber eine komische Frage sei. Nach kurzem Zögern sagt sie, dass sie in Belgien mehr als Schwarze und in Afrika mehr als Weiße wahrgenommen werde. Sie scheint sich selbst zu spielen. Später wird sie in die Figur des Freiheitskämpfers schlüpfen. Konstruktion (das Verhör), Fiktion (die Rolle) und Realität (das reale Kind auf der Bühne mit seinen Erfahrungen gespaltener Identität) überkreuzen sich (Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

(Foto: Phile Deprez)

Szene aus Milo Raus Five Easy Pieces.

Sichtbar wird, welcher leiblichen Verletzbarkeit man als Kind zweier ethnischer Hintergründe ausgesetzt ist, wenn es aufgrund seiner Hautfarbe weder in der einen kulturellen Umgebung noch in der anderen als ganz zugehörig wahrgenommen wird und dies selbst in der Namensgebung seinen Niederschlag erfährt. In den weiteren Vorstellungen wird sich zeigen, dass auch andere Kinder etwas zu der Frage der Verletzbarkeit des Leibes beizutragen haben. Wenn z. B. der kleine Winne seine große Narbe zeigt, die durch einen Austausch seiner Leber durch die eines toten Babys entstanden ist, und Maurice davon berichtet, dass er mit einer Lungenentzündung auf die Welt gekommen sei, was er eindrücklich mit einer Hustenattacke vorführt. Das Ausgesetzt-sein in der Zurschaustellung des eigenen Körpers auf der Bühne wird auf diese Weise reflexiv und problematisch zugleich.

Hans-Thies Lehmann (1999) beschreibt diese veränderte Sehweise im neuen Theater: Indem der Akteur dem Publikum als individuelle, verletzbare Person gegenübertritt – in unserem Beispiel sind es Kinder, im Kontext des Falls Dutroux auch potenzielle Opfer (die Autorin) – werde der Zuschauer sich einer Wirklichkeit bewusst, die im traditionellen Theater überspielt werde, obwohl sie dem Blick auf den „Schauplatz“ unvermeidbar anhafte. Der Zuschauerblick ist ein „Seh-Akt“ eben, der voyeuristisch ist und dem ausgestellten Akteur als Objekt gelte (ebd., S. 47). Unter diesen Gesichtspunkten stellt sich eine Analogie zu dem Fall Dutroux unweigerlich ein.

Richtet sich nun die Blickachse der Kinder ins Publikum, wie hier in der Eingangssituation szenisch angelegt, sind es die Zuschauer, die selbst als Teil dieses Sehereignisses zu Mitspielern werden und auf diese Weise unweigerlich ins Geschehen gezogen werden. Das Sehen und Hören ist dann kein einseitiger Akt auf ein Objekt (das Kind) mehr allein, das Sehen ist nicht mehr als eine einseitige Betrachtung und Aneignung angelegt, sondern es vollzieht sich im Wechselspiel zwischen Sehen und Gesehenwerden, zwischen Publikum und Akteuren. Das Publikum wird dabei genötigt, sich selbst in der Rolle des Voyeurs wiederzuerkennen (vgl. Westphal 2011a, S. 82 f.). Denn: Sich den Blicken aussetzend wird der Blick frei gegeben für Fremdes im Eigenen.Footnote 6 Der Anblick wird ein doppelter: der fremde und der eigene. Die Verkehrung, sich zugleich auch den Blicken der Kinder ausgesetzt zu fühlen, hat bei etlichen Zuschauern zu erheblichen Irritationen, Fremd-/Beschämung und Betroffenheit geführt. Mit Merleau-Ponty heißt das, dass der, der den fremden Blick erblickt, auf unterschiedliche Weise angesprochen, angerührt, be- und getroffen wird. Das Sehen ist dann nicht mehr ein Akt eines Subjektes, sondern ein Geschehen, das sich zwischen Sehendem und Sichtbarem wie auch Mitsehendem abspielt. Der Sehende sieht nicht nur etwas, er wird Mit-Sehender im kommunikativen Prozess des Sehens, der seine Initiative und Urheberschaft transzendiert.

Durch seinen Körper, der selbst sichtbar ist, in das Sichtbare eingetaucht ist, eignet sich der Sehende das, was er sieht nicht an: er nähert sich ihm lediglich durch den Blick, er öffnet sich auf die Welt hin (Merleau-Ponty 1967, S. 16).

Merleau-Ponty geht davon aus, dass das, was selbst erscheint, nie von sich selbst her erscheint, sondern aufgrund eines Gemeinsamen, welches es mit demjenigen, dem es erscheint, teilt (Bernet 1998, S. 20 f.). Im Theater haben wir es mit einer Situation zu tun, in der der Zuschauer in der Regel im Dunkeln eines Zuschauerraumes zwar unsichtbar bleibt, also vom Akteur in der Regel ungesehen bleibt, aber die Akteure wissen natürlich, dass sie gesehen werden. Der Zuschauer weiß, dass der Spieler weiß, dass er gesehen wird und dass dieses reflexive Spiel zwischen Sehen und Gesehenwerden das Bühnenspiel allererst ausmacht (vgl. Westphal 2011b).

Die vorgestellte Spielweise trägt dazu bei, dass der zur Schau gestellte Körper als ein vielfach dimensionierter erscheint: als realer in seiner Sichtbarkeit und virtueller in seiner Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit.Footnote 7 Als Spielender, der er selbst ist, als ein anderer in seiner Rolle, und als fremder, der Gegenstand der unsichtbaren Blicke der Zuschauer ist, zu denen er sich zugleich, darum wissend, verhält. Indem das Publikum beim Zuschauen den Leib des „Anderen“ zu bewohnen beginnt, wird es – mit Merleau-Ponty gesprochen – eine Möglichkeit von Bewegungen (1994, S. 36). Wir haben es dabei mit einem Blickgeschehen zu tun, das eine Vielzahl von Verflechtungen von Blicken und Angeblicktwerden bedeutet. Die Fiktionalität ist nicht nur doppelt aufgefächert, selbst die Realität ist nicht eindimensional, sondern fiktional durchsetzt: Der Schauspieler vor seiner Rolle (als Privatperson), in seiner Rolle als Gesehener und Sehender im atmosphärischen Spiel mit dem Publikum und den affektiven Eindrücken, die er in seiner eigenen Art der Rollengebung beim Publikum hinterlässt, das sich von ihm faszinieren lässt oder Widerstand entgegensetzt oder gleichgültig bleibt – also unterschiedliche Formen der „Be-Setzungen“ und Abstoßungen kennt.

Nun zeichnet sich der Bühnenleib nicht nur als ein Differenzgeschehen zwischen Körperhaben und -sein aus. Vielmehr ist der Bühnenleib eingetaucht in eine kommunikative und arrangierte Zwischenwelt, indem Selbstbezüge und Selbstentzüge zugleich wirksam sind. Dieser Bezug im Entzug spiegelt sich auch in der Spielweise, die sich zwischen Realität und Virtualität bewegt und auf der Bühne mit den Kindern reflektiert wird. Ein Beispiel aus der Szene „Schauspielern“:

Rachel fragt:

Peter, wie spielt man, dass man tot ist?

Peter, der Spielleiter:

Das ist nicht so einfach. Tot spielen also schauspielern, so tun als ob. Schauspielern ist wie träumen. Du bist ganz woanders, aber Du bleibst du selbst mit deinen Gedanken und Gefühlen. Wenn du spielst, dass du wütend bist, bist du nicht wirklich wütend, aber irgendwie bist du es doch. Du bist nicht wirklich verliebt, aber irgendwie bist du es doch. Und du bist nicht wirklich tot, aber irgendwie stirbst du doch (Rau 2017, S. 38)

3 Reflexives Arbeiten mit den Mitteln des Theaters

Die Besonderheit der Arbeitsweise von Milo Rau besteht – wie wir an der Eingangsszene schon gesehen haben – darin, dass er den Vorgang der Erarbeitung, vom Casting zum Probenprozess bis hin zur Bearbeitung von szenischen Übungen selbst mit den Kindern auf die Bühne bringt. Dabei tritt auch der Regisseur, der im normalen Bühnengeschehen unsichtbar bleibt, in Gestalt des erwachsenen Schauspielers in Erscheinung. Der vermeintliche Probecharakter der Aufführung zeigt sich auch darin, dass die Kinder wie auch der Schauspieler ihren Namen behalten. Herausgestellt wird: Sie spielen sich selbst, aber auch nicht. Ausgegangen wird hier auch nicht von der im traditionellen Theater bestehenden Idee, dass das Ich ganz in einer Figur aufzugehen hat. Vielmehr wird gerade mit der Differenz zwischen dem Eigenem und Fremden bzw. Anderen gespielt. Dabei tritt in den Szenen, in denen die Kinder die auf der Leinwand projizierten Reenactments von erwachsenen Schauspielern detailgetreu in Geste und Stimme und Kleidung nachspielen, die Abweichung des kindlichen Körpers im Vergleich zum erwachsenen Körper als befremdlich, grotesk, ja hölzern hervor.

Ein weiteres Moment der Spielweise von Milo Rau, die vom traditionellen Theater abweicht, ist, dass, indem der Regisseur bzw. Spielleiter selbst zum Mitspieler wird, und das Machtverhältnis zwischen dem erwachsenen Regisseur und darstellenden Kindern auf die Bühne bringt, das im normalen Theater unsichtbar bleibt. Als Mitspieler führt er einen Dialog mit den Kindern, der einen Zugang zu dem Thema vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrungen zu verknüpfen sucht. Ein szenisches Beispiel aus der Skriptvorlage soll das veranschaulichen:

Peter fragt die Kinder:

Was ist das Gruseligste, was ihr jemals gesehen oder erlebt habt?

Maurice:

Wenn dir deine Eltern morgens einen Kuss geben, das ist gruselig.

Elle Liza:

Ich finde es gruselig, wenn meine Mutter mich auf die Wange küssen will, mich aber aus Versehen auf den Mund küsst.

Pepiyn:

Ich habe meiner Mutter gesagt, sie soll mich nicht mehr auf den Mund küssen. Aber manchmal tut sie es trotzdem.

Willem:

Manchmal schubse ich sie weg, wenn sie mich küssen will. Dann sagt sie: Jetzt fängst du auch schon damit an. Wie Pepijn (Rau 2017, S. 39).

Berührt wird mit dieser kleinen Szene die Frage, wann und wo Kinder sich leiblich versehrt und gefährdet fühlen, und das schon im familiären Kontext: ein Gefährdetsein der körperlich-leiblichen Versehrtheit als solche wie bereits im familiären alltäglichen Gefüge wahrgenommen wird. Milo Rau sagt: „Gezeigt bekommen Erwachsene, was sie von Kindern nicht sehen wollen“Footnote 8, etwas, was sie vielleicht ablehnen, da es auf der einen Seite nicht in die idealisierte Vorstellung von ihrer Kinderwelt passt, zum anderen – zugespitzt gesagt – aber genau diese reale Welt spiegelt.

Und ein weiteres Moment zeichnet die Spielweise aus, die den Herstellungsvorgang transparent hält. Ungewöhnlich ist gegenüber einer traditionellen Spielweise, dass das auf die Bühne gebracht wird, was normalerweise tabuisiert wird, z. B. wenn Schauspieler gegenüber den Wünschen des Regisseurs Widerstand leisten (vgl. vertiefend Meyer-Drawe 2006) (Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

(Foto: Phile Deprez)

Szene aus Milo Raus Five Easy Pieces Stück 3 Versuch über die Unterwerfung.

Als Rachel in „ihrer Szene“, in der sie das entführte Mädchen Sabine spielt, sich zunächst nicht ausziehen (lassen) will, drängt Peter Seynaeve sie drei Mal dazu: „Mach es so wie in den Proben!“ (Rau 2017, S. 42), oder als Pepijn in seiner Darstellung des Vaters des getöteten Mädchens nicht weinen will und, wie er in der Castingszene schon bekannt hat, in der Öffentlichkeit auch nicht zu weinen vermag, gibt er ihm einen Tränenstift und lässt ihn seine letzten Sätze wiederholen. In der Wiederholung, die uns zeigt, wie Emotionen mit einem Trick ausgestellt werden können, bricht sich das Spiel und verhindert zugleich für den Zuschauer, sich der Unerträglichkeit der Szene ausgesetzt zu fühlen. In dieser sich nachträglich herstellenden Distanz ist dem Spielenden wie dem Zuschauer die Möglichkeit gegeben, eine Haltung zum Geschehen um die Ohn-/Machtverhältnisse zu entwickeln, die sich auf drei Ebenen der Re-/Präsentation bewegen: zwischen Kind und Erwachsenem, Regisseur und Darsteller, gespielte/s Eltern/Kind gegenüber einem Täter. Aufgegriffen wird, was tatsächlich in den Proben mit den Kindern erfahren wurde. Offengelegt wird das Hervorbringen von Theater, das Sichtbarwerden, das im traditionellen Illusionstheater nicht zu sehen ist und das Konzept der Kartharsis und Authentizität befragt.

Was auf der fiktionalen Ebene – als ,Theater‘ – inszeniert ist, ereignet sich zugleich auf der realen Ebene – ,Performance‘: Ein Erwachsener fordert ein Kind auf, sich auszuziehen. Es ist Marc Dutroux, Milo Rau, Peter Seynaeve (Bläske 2017, S. 83).

Hinzugefügt sei – was wäre ein Theater ohne Skandal –, dass die oben kurz angedeutete Szene mit Rachel, in der sie sich in der Rolle von Sabine bis auf die Unterhose auszieht und aus den originalen Briefen vorträgt, als live gespielte Szene und auf der Bühne in der Aufführung in Köln nicht hat stattfinden dürfen, andernfalls hätte das ganze Stück nicht aufgeführt werden dürfen. Das Gesetz zum Schutze von Kindern sieht vor, wenn Kinder unter 14 Jahren auf einer Bühne auftreten, eine Auftrittsgenehmigung vom Regierungspräsidium eingeholt werden muss. Die Kinder haben für den Moment, in dem die Szene dann nur über die eingespielte Großaufnahme gezeigt wurde, die Bühne verlassen müssen. Zeigt sich in dem Vorgang, was in dem Stück selbst thematisiert wird, nämlich das Unvermögen und die Ohnmacht seitens des Staates, der Polizei, Politik und der Eltern, die Kinder vor Missbrauch und Mord nicht schützen zu können? Zu differenzieren ist hier, dass sich gegenüber dem Theater das Kontrollvermögen, d. h. die Macht zur Intervention des Staates zeigt, welches im Fall Dutroux im Privaten gänzlich versagt hat. Und noch etwas anderes wird deutlich: dass das Nacktsein von Erwachsenen auf der Bühne inzwischen keine Provokation mehr darstellt, das Nacktsein von Kindern auf der Bühne jedoch schon. Zu fragen ist, wie weit die Bühne selbst Schamgrenzen usw. überschreiten kann, besonders wenn es sich um Kinder handelt, die anders als Erwachsene den Regisseuren ausgeliefert sind (vgl. Bläske 2017, S. 82).

4 Zum Verhältnis Theater und Medien

Eine weitere Frage, die die Inszenierung bestimmt, ist, inwieweit sich die Mittel des Theaters von denen des Films unterscheiden. Maurice bringt den Unterschied zu Beginn des Stücks auf den Punkt: Im Film können Gefühle anders als im Theater groß gemacht werden (Rau 2017, S. 26).

Was heißt Nähe und Intimität im Theater und in der Videokunst? Was affiziert den Blick (der Zuschauer) mehr: ein Körper auf der Bühne oder ein Körper auf der Leinwand? Was ist dann noch das Original, und was ist die Kopie? (Roselt 2009). Ist der Schauspielkörper, der eine Rolle spielt, noch ein Original? (Abb. 4).

Abb. 4
figure 4

(Foto: Phile Deprez)

aus Milo Rau Five Easy Pieces Stück 4: Allein in der Nacht.

Unsere Sehgewohnheit zeigt uns, dass man sich von dem Geschehen auf der Leinwand stärker faszinieren lässt als vom Spiel auf der Bühne. Die Kunst der medial erzeugten Welten besteht nicht selten darin, ihr „Original“ nicht bloß zu kopieren, sondern „wirklicher“ und das heißt zu Hyperphänomenen werden zu lassen. Erst in der Nahaufnahme bekommen die künstlich erzeugten Tränen in dem oben genannten Beispiel von Pepijn den Anschein einer größeren Echtheit und Ausdruckskraft. Dabei wird vermittelt, dass es im Spiel nicht darum geht, wirklich zu weinen. Im Gegenteil: Gerade in der Zurücknahme der eigenen Affekte und Emotionen wird Raum gegeben für Assoziationen, Empfindungen, Affekten etc. beim Zuschauenden. Auch löst die Ansprache aus dem Verlies von Rachel (in der Rolle von Sabine) an ihre Eltern im Video durch die Nahaufnahme eine viel größere Betroffenheit aus. Das Spiel auf der Bühne wirkt dagegen wie ein Puppenspiel.

5 Einsatz von Reenactments

Einen wesentlichen Anteil der Spielweisen nehmen die Mini-Reenactments ein. Historische Ereignisse werden von professionellen Schauspielerinnen und Schauspielern vor den Aufführungen nachgestellt und aufgezeichnet. Die Einspielungen auf der Leinwand werden wiederum live auf der Bühne von den Kindern szenisch und mimetisch nachgestellt. Es macht das reflexive Moment dieses Verfahrens deutlich: Wir haben es mit zeitlich-räumlichen Verschiebungen zu tun, die es einerseits erlauben, aus einer Distanz heraus den Blick auf den Schrecken des Geschehens zu werfen. Andererseits werden wir dadurch immer wieder davon eingeholt, dass es Kinder als potenzielle Opfer sind, die die Figuren verkörpern und die das Vergangene in die Gegenwart holen. Die Auseinandersetzung mit Reenactements, wie sie mit, durch und in den Medien und wie hier in der Kombination mit Theaterspiel erfolgen, erweisen sich unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten als ein interessantes Reflexionsmedium von Selbst- und Weltverhältnissen insbesondere unter dem zeitlichen, räumlichen und damit auch sinnlich-körperlichen Aspekten (vgl. Westphal 2013, S. 211; Westphal und Jörissen 2013; Westphal 2014a).

So vertieft das Reenactment als künstlerisches Verfahren die geschichtliche Dimension der performativen Künste, indem sie den Körper als Archiv entwirft und damit die Trennlinien zwischen restaurativer und kritischer Wiederaneignung des Vergangenen problematisiert (Roselt und Otto 2012). Die Rolle des Rezipienten/Zuschauers erfährt darin eine erhöhte Aufmerksamkeit, wenn er herausgefordert wird, die Vermittlungsformen, Produktion und Reproduktion von Theaterspiel und Video in Beziehung zu stellen und zu reflektieren.

In der Erfahrung mit synchronisierten Filmen beschreibt Merleau-Ponty die Differenz zwischen agierendem Leib und der ihm „geliehenen“ Stimme (1966, S. 275; 1994, S. 427 f.) Das heißt: Hören und Sehen treten auseinander, die Rhythmen und Bewegungen „passen“ nicht zueinander: Wir sehen etwas Anderes als wir hören (vgl. Westphal 2010). Entsprechend lässt sich bei einem Reenactment davon sprechen, wenn ich meinen Körper für eine Nachstellung von etwas Gewesenem ausleihe. Werden im ersten Falle die Differenzen erfahren zwischen agierendem Leib und der ihm „geliehenen“ Stimme, so ist es in unserem Fall der zeitgleich zu beobachtende Vergleich des kindlichen mit dem des erwachsenen Körpers. Die Rhythmen und Bewegungen, Gesten und Stimmen der Kinder schmiegen sich zwar in der Nachahmung an. Wir nehmen aber auch wahr – und darin liegt der eigentliche Reiz – wie diese zugleich auseinandertreten. Herausgefordert sind wir als Zuschauende, den Verschiebungen nachzugehen, die sich unter zeitlich-räumlichen Aspekten, als auch in Hinsicht der An- bzw. Abwesenheiten von Körperlichkeit und Leiblichkeit, als Differenzen zeigen, um einen neuen und anderen Blick auf das Geschehen zu werfen.

Aus der Perspektive der Kinder ist ihnen im Nachstellen die Möglichkeit gegeben, den Sinn der Szenen leibhaftig, in ihrer vorprädikativen Sinndimension nachzuerleben. Für Merleau-Ponty ist der Leib bezüglich der wahrgenommenen Welt „das Werkzeug all meines Verstehens überhaupt“ (1966, S. 275), und zwar in dem Sinne, dass er sich als sich bewegender und beweglicher Leib vor aller sprachlich-reflexiven Verständigung auf die soziale und dingliche Welt versteht, eingebettet in Situationen der Handlung und der Kommunikation. Das Zwischenfeld, das sich hier abzeichnet, bildet ein eigenes Kräftefeld.

In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass jedes kindliche Lernen stark mimetisch bestimmt und auch das spätere Lernen nie ganz frei davon ist. Mimesis bedeutet nicht, dass jemand eine fremde Bewegung bloß nachmacht, sondern dass er sie auch mitmacht, dass er sich mitreißen lässt, ohne dass (…) das Heterogene im Homogenen versinkt. Beim bloßen Nachmachen entsteht dasselbe noch einmal, im Mitmachen entsteht Eigenes aus dem Fremden (Waldenfels 2004, S. 20).

Fazit

Wie keine andere Inszenierung der Genter Produktionen in der Theaterarbeit mit Kindern stößt die Rezeption von Milo Raus mehrfach preisgekröntem Stück Five Easy Pieces auf höchst unterschiedliche Resonanzen und Kontroversen, die sich zwischen einer großen Begeisterung und Ablehnung bewegen. Aus pädagogischer Perspektive befindet eine Position, dass es grundsätzlich gut zu heißen sei, Kinder vor der Frage des Missbrauchs nicht zu schützen, indem man ihnen diese Schrecknisse vorenthalte, sondern sie vielmehr damit konfrontiere. Demgegenüber steht die Position, dass dieses Stück die Frage des Missbrauchs verharmlosen würde. Auch wird nach der Motivation gefragt, warum man den Diskurs über Macht im System des Theaterapparats mit dem über die Macht über Kinder verknüpfe. Milo Rau, der sich selbst in diesen Mechanismen des Theaterapparats bewegt, inszeniert das Regietheater als Persiflage und Kritik mit den Mitteln des Regietheaters selbst, ohne es jedoch aufzulösen bzw. auflösen zu können. Es stellt sich dabei die Frage, inwiefern das an den Kindern vorbeigeht, müssten sie sich doch nicht nur als potenzielle Opfer für die Fantasie Erwachsener hergeben, sondern auch noch den Regeln eines Regietheaters und Schauspielerkonzepts unterwerfen. Rachel sagt am Ende des Stücks auf die Frage von Peter Savaeyne, ob sie weiter Theater spielen wolle und wie es ihr gefallen habe: „Ich hätte gerne einiges anders gemacht. Aber weil alles wirklich passiert ist, war das nicht möglich“ (Rau 2017, S. 33). Der Spielansatz von Milo Rau verlangt den Kindern in der Tat sehr viel ab. Eine detailgetreue Nachahmung lässt ihnen wenig Spielraum, um ihre eigenen Ideen auszuspielen, auch wenn das in der Inszenierung offengelegt und als Beigabe zugelassen wird.

Vergleicht man Milo Raus Konzept mit anderen, so fällt auf, dass diese viel stärker von den Spiel- und Artikulationsweisen der Kinder auch in ihrer Unvollkommenheit, Imperfektibilität ausgehen gegenüber dem strengen Korsett eines eher konventionellen Theaters der Nachahmung und des Realismus.

Aus pädagogischer Sicht liegt grundsätzlich die Chance für ein Theater mit Kindern darin, an dem spielerischen Potenzial von Kindern und Jugendlichen anzuknüpfen und es in Auseinandersetzung mit theatralen/tänzerischen Formaten zu bringen. Geht es in der künstlerisch-pädagogischen Arbeit doch weniger darum, Kinder und Jugendliche im konventionellen Sinne eines Regietheaters zu Schauspielern machen zu wollen, als ihnen vielmehr einen Weg zu bahnen, sich von ihren Spiel-, Artikulations- und Wahrnehmungsweisen ausgehend mit den zeitgenössischen Künsten auseinanderzusetzen. Oder anders ausgedrückt, die Sorge um eine ästhetische Vollkommenheit, wie sie in künstlerischen Institutionen und Ausbildungsgängen besteht, zugunsten der pädagogischen Chancen einer szenischen Arbeit als solcher zurückzustellen (Westphal 2018c; 2018e). Besteht der Charme in der Arbeit mit Kindern nicht gerade darin, dem Unfertigen, Unvollkommenen Platz zu geben? Nichtsdestotrotz sei hervorgehoben, dass wie schon bei den vorhergehenden Genter Inszenierungen die Kinder mit einem hohen Einsatz an Ernsthaftigkeit und Spielfreude überzeugen, indem sie es so ermöglichen, auf sich und die von Erwachsenen gemachte Theater-/Welt zu sehen und mitzuspielen. Fraglich bleibt: Vor einem Publikum mit einem solch prekären Thema und den es begleitenden Zumutungen der Regie zu spielen – ist das nicht schon eine Art von Ausgesetztsein, zu der man auch als Erwachsener Mühe hat, eine Haltung zu gewinnen (vgl. Laudenbach 2017, S. 70 ff.)?