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Die Gleichheit des Vergleichs. Pädagogische Gleichheitsfiguren zwischen Ökonomie und Politik

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Zusammenfassung

Der Beitrag geht der Frage nach, wie in pädagogischen Diskursen die Praktiken des schulischen Vergleichens und die daraus resultierende Produktion von Ungleichheit mit der zugleich angenommenen Gleichheit der Kinder vereinbart wurde. Heßdörfer verweist darauf, dass es die Entwicklung eines statistischen Normalitätskonzepts und unterschiedlicher Messtechniken um die Wende zum 20. Jahrhundert waren, die hier Lösungsperspektiven eröffneten: Sie erlaubten es, das Verhältnis von Gleichheit und individueller Verschiedenheit so zu bearbeiten, dass schulische Selektionsprozesse und die mit ihnen verbundene Herstellung sozialer Ungleichheit als legitim erscheinen konnten. Die statistische Norm ergibt einen Vergleichsmaßstab, der individuelle Verschiedenheit zum einen als vorauszusetzende Gleichheit und zum anderen als privaten Ausgangspunkt der unterschiedlichen Angleichung an die Norm zu denken erlaubt. Psychologische Messtechniken beanspruchen, wie hier gezeigt wird, mit ihrer nationalökonomischen Orientierung damit eine (für alle Seiten) nützliche Passung von schulischer Selektion und Positionierung im Wirtschaftssystem ausweisen zu können. Der Rückgriff auf Rancières politisches Konzept der Gleichheit und das diesem korrespondierende (pädagogische) Axiom einer Gleichheit der Intelligenzen erlaubt hier eine andere Akzentsetzung.

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Notes

  1. 1.

    Die Frühgeschichte der Statistik als ‚Staatswissenschaft‘ im ausgehenden 18. Jahrhundert hat Lars Behrisch (2016) jüngst in drei detaillierten Szenen herausgearbeitet und dabei auch die praktische Lücke zwischen dem Wissen der Statistik und dem Handeln der Akteure nachgezeichnet.

  2. 2.

    Adolphe Quetelet, einer der Gründungsväter der modernen Statistik und Erfinder des homme moyen, fasst die Konvergenz des Normalen und Idealen bündig zusammen – und illustriert zugleich, wie die Ränder des Normalen ins Monströse ausfransen: „Wenn der mittlere Mensch vollkommen bestimmt wäre, so könnte man ihn, wie ich schon bemerkt habe, als den Typus des Schönen betrachten; und alle übermäßigen Abweichungen von seinen Verhältnissen oder seiner Daseinsweise würden Missbildungen und Krankheiten sein; was in Beziehung auf die Verhältnisse und die Form nicht allein unähnlich wäre, sondern sogar noch jenseits der beobachteten Extreme fiel, wäre eine Monstrosität.“ (Quetelet 1921, S. 400).

  3. 3.

    Dieses Ergebnis scheint derart überzeugend zu sein, dass wenig später bereits in Boston ähnliche Untersuchungen angestrengt werden, die mit Verweis auf die Annaberger Zahlen argumentieren (vgl. Hall 1893).

  4. 4.

    In derselben Weise betont Giorgio Agamben den Begriff des Beliebigen, wenn er ihn als eine von Attributen befreite Individualität einführt: „Das Beliebige, um das es hier geht, trifft sich mit der Singularität nämlich nicht in der Gleichgültigkeit gegenüber gemeinsamen Eigenschaften […], sondern nur in ihrem Sein, wie es ist. […] In dieser Konzeption ist das Wie-Sein davon entbunden, diese oder jene Eigenschaft zu haben, die seine Zugehörigkeit zu dieser oder jener Menge, dieser oder jener Klasse (die Roten, die Franzosen, die Moslems) festlegt – jedoch nicht um es auf eine andere Klasse oder die Abwesenheit jedweder Zugehörigkeit auszurichten, sondern auf sein So-Sein, auf die Zugehörigkeit selbst. […] Eine solche Singularität, die als solche ausgestellt wird, ist beliebig, d. h. liebenswert.“ (Agamben 2003, S. 9 f.).

  5. 5.

    Ähnlich wie Rancière die Gleichheit als fehlende bzw. als kommende Möglichkeit markiert, koppelt auch Alain Badiou das Glück – das für ihn der spezifische Affekt einer Unterbrechung des Gegebenen durch eine ‚Wahrheit‘ ist – ans Unmögliche: „In diesem Sinne könnten wir sagen, dass das Glück immer das Genießen des Unmöglichen ist.“ (Badiou 2016, S. 61) Damit rückt Badious Begriff des Kommunismus nahe an Rancières Thematisierung der Gleichheit: „Folglich ist ‚Kommunismus‘ der Name der politischen Möglichkeit dieser Unmöglichkeit: die Möglichkeit der Gleichheit.“ (ebd., S. 66)

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Heßdörfer, F. (2019). Die Gleichheit des Vergleichs. Pädagogische Gleichheitsfiguren zwischen Ökonomie und Politik. In: Mayer, R., Schäfer, A., Wittig, S. (eds) Jacques Rancière: Pädagogische Lektüren. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-24783-6_5

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