Zusammenfassung
Das Essay verfolgt die These, dass Jacques Rancières sehr spezifische Weise zu schreiben, eine Art des Experimentierens artikuliert. Deren Ziel scheint es dabei zu sein, eben nicht belehrend-pädagogisierend zu wirken. Vielmehr zielt diese Weise des Schreibens darauf ab, ‚Fermenta cognitionis‘ zu bilden, Punkte, an denen die konventionelle Weise des Denkens einer ‚Aufteilung des Sinnlichen‘ durch eine bestimmte Form des Umgangs mit einem Problem subvertiert wird, an dem ein Denken möglicherweise zu gären beginnt, indem versucht wird, eine ‚Geschichte von unten zu schreiben‘: Immer wieder geht es in seinem Schreiben darum, jene Aufteilung des Sinnlichen dadurch zu irritieren, dass Individuen in den Fokus gerückt werden, die scheinbar keinen Anteil an dieser Ordnung haben, als (potenziell) Anteilhabende, weil Gleiche, jedoch ausgewiesen werden können. Worauf Grabau und Rieger-Ladich dabei stoßen, ist, dass Rancière nicht nur eine einzige Gegenerzählung der hegemonialen Ordnung schreibt, sondern eine Vielzahl, eine Aneinanderreihung heterogener ‚Szenen‘, ohne exakt explizierbaren Zusammenhang. Gerade aber hierin, in dieser Form des zusammenhanglosen Zusammenhanges, scheint das Potenzial impliziert zu sein, genau jene hegemoniale Ordnung zu subvertieren.
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Notes
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Angespielt wird an dieser Stelle auf Michel Foucaults Das Leben der infamen Menschen (Foucault 2003), einem im Kontext der Untersuchung über die sogenannten lettres de cachet entstandenen Text. Die lettres de cachet waren Siegelbriefe, Verfügungen des Königs, die eine Verbannung oder Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren möglich machten. In den Archiven entdeckten Arlette Farge und Michel Foucault aber auch von Untertanen verfasste Briefe, die an die Staatsgewalt adressiert waren. Sie richteten sich an den König oder an die lokalen Gewalten mit der Bitte, gegen eine Person, zumeist ein Familienmitglied, vorzugehen, sie einzusperren oder zu verbannen. Diese Schreiben sind theatralisch. Sie sind durchsetzt von großen Worten, Ausschmückungen, die nicht zu den kleinen und unauffälligen, den infamen Menschen passen wollen: Denn Glanz und Gloria sind noch alleine dem Regenten vorbehalten. Diese Unstimmigkeiten, so Foucault, werden irgendwann – mit der Durchsetzung eines anderes Machttyps, den die Schreiben bereits ankündigen – erlöschen, die Sprache wird nüchtern, die kleinen Unregelmäßigkeiten, Absonderlichkeiten und Monstrositäten im Leben der kleinen Leute werden nicht nur kurz erhellt, sondern permanent angestrahlt, aufgeschrieben und archiviert.
- 2.
In einem Aufsatz spricht Rancière von der „Hinrichtung“ Emmas, jener Bauerstochter aus Flauberts Madame Bovary also, die davon träumt, den beengten dörflichen Strukturen zu fliehen. Emma verkörpere die Gefahr, die von der Literatur selbst ausgeht, wenn man sich ihr nicht in einer angemessenen Form nähert. Eine solche Literatur drohe die einfachen Menschen zu infizieren – mit dem Begehren, etwas anderes zu werden, als sie sind; zumindest wenn sie nicht lernen, richtig zu lesen (vgl. Rancière 2011, S. 65 ff.).
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Dieses Problem wirft Rancière immer wieder auf: Jedes moderne Schreibverfahren reagiere auf die Erfindung der Literatur. Geschichts-, Sozial- und sonstige „Interpretationswissenschaften“ sind Kinder der literarischen Revolution. Die „Erklärungsmodelle, die sie [die sich auf die marxistische Wissenschaft, die Psychoanalyse, Soziologie, Sozial- oder Mentalitätsgeschichte beziehenden Kritiker des 20. Jahrhunderts; C.G./M.R.-L.] verwendet haben, um das Wahre über den literarischen Text zu sagen, sind Modelle, die die Literatur selbst geschmiedet hatte. Die prosaischen Wirklichkeiten als Mystifikationen zu analysieren, die von einer verdeckten Wahrheit der Gesellschaft zeugen, die Wahrheit der Oberfläche zu sagen, indem man in die Tiefen reist und den unbewussten Gesellschaftstext ausspricht, der sich darin entziffert, dieses Modell der symptomatischen Lektüre ist gerade die eigentliche Erfindung der Literatur.“ (Rancière 2011, S. 37) Zugleich handelt es sich um Erklärungsmodelle, die versuchen, die notorische Unruhe, die die Literatur im Gesellschaftskörper verursacht, zu bändigen und die zerstörerische Macht der Literatur einzuhegen.
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Grabau, C., Rieger-Ladich, M. (2019). Formexperimente als Theoriepolitik. Zu den Schreibstrategien Jacques Rancières. In: Mayer, R., Schäfer, A., Wittig, S. (eds) Jacques Rancière: Pädagogische Lektüren. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-24783-6_3
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