Zusammenfassung
Yağmur Mengilli, Christian Reutlinger und Dominic Zimmermann gehen in ihrem Beitrag unterschiedlichen Arten des Stadt-Schreibens und Stadt-Lesens nach. Mit dieser Heuristik ergründen sie raumbildende Praktiken zweier Gruppen junger Menschen im städtischen Raum, oder anders gesagt, wie diese Gruppen ihre Stadt (er)leben, sie deuten und sich gleichzeitig im öffentlichen Raum zeigen. Die Autoren und die Autorin analysieren dazu zwei ethnografische Fallstudien genauer: in den Blick genommen werden eine Gruppe von Sprayern, die auch für Außenstehende deutlich sichtbare Markierungen hinterlassen, und eine Trainingsgruppe von Parkour-Traceuren, die versuchen, ihre Umwelt möglichst nicht zu verändern und entsprechend keine Spuren zu hinterlassen. Beide Gruppen bringen eigene Räume hervor, die mit der (Um-)Nutzung der Stadt im Zusammenhang stehen. In beiden ethnografischen Fallstudien wird deutlich, dass die Jugendlichen für diese (Um-)Nutzung besonderes Wissen benötigen, welches sie durch die Zugehörigkeit zur jeweiligen Gruppe erlangen. Der städtische Raum wird so von den Jugendlichen auf neue Weise gelesen und erlebt und ermöglicht potenziell Teilhabe an der Gesellschaft durch Selbstausdruck, Anerkennung und Selbsterfahrung.
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Notes
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Die sensibilisierenden Konzepte des Stadt-Lesens und des Stadt-Schreibens sind vom Raum-als-Text-Paradigma der neuen Kulturgeografie respektive des topographical turns der Cultural Studies und Kulturwissenschaften inspiriert (vgl. Bruno 2008; Döring/Thielmann 2008; Hofmann/Mehren/Uphues 2012; Rhode-Juechtern 2012; Weigel 2009).
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Die Begrifflichkeit Graffiti (Einzahl Graffito) wurde aus dem Italienischen übernommen. Graffiare (dt. kratzen) in eine Wand eingekratzte kultur- und sprachgeschichtliche bedeutsame Inschrift zu dem heutigen Begriff Graffiti (nach englisch graffito) auf Wände, Mauern, Fassaden usw. mit Spraydosen gesprühte oder gemalte künstlerische gestaltete Parole oder Figur (vgl. https://www.duden.de/rechtschreibung/Graffito#b2-Bedeutung-3).
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Eine Crew ist „einem Zweck, einer bestimmten Aufgabe verpflichtete, gemeinsam auftretende Gruppe von Personen“ (Duden: https://www.duden.de/rechtschreibung/Crew). Üblich ist die Organisationsform der ‚Crews‘, in denen es um das gemeinschaftliche Sprayen geht. Bei der Erstellung illegaler Werke beispielsweise an Zügen arbeiten in der Regel die Writer einer Crew zusammen (vgl. Hitzler/Niederbacher 2010, S. 75).
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Die Gruppe hat sich selbst mit diesem Namen chiffriert, aus dem Englischen wörtlich übersetzt, heißt er so viel wie ‚Viertel-Jungs‘ oder ‚Gegend-Jungs‘ (‚hood‘ als gängige Abkürzung für ‚neighbourhood‘), bezogen auf die Gruppe heißt dies eher etwas wie ‚die Jungs aus dem Viertel‘.
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In Lingala bedeutet ‚ya makázi‘ etwa ‚von Stärke‘, ‚von Willenskraft‘ oder ‚von Wert‘.
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Im englischen Sprachraum etablierte sich zunächst der Begriff ‚Free Running‘ für Parkour, welcher heute jedoch für die Schwesterdisziplin steht, die mehr auf Akrobatik und weniger auf Effizienz setzt.
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Diese Automatisierung als Inkorporation wird im Beitrag von Zimmermann und Cavelti in diesem Band näher erläutert.
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Mengilli, Y., Reutlinger, C., Zimmermann, D. (2019). Stadt-Lesen und Stadt-Schreiben: Raumbildende Praktiken als Schlüssel zu Teilhabeansprüchen junger Menschen. In: Pohl, A., Reutlinger, C., Walther, A., Wigger, A. (eds) Praktiken Jugendlicher im öffentlichen Raum – Zwischen Selbstdarstellung und Teilhabeansprüchen . Sozialraumforschung und Sozialraumarbeit, vol 19. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-24219-0_2
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