Zusammenfassung
Der Beitrag macht den Versuch, das prekäre Verhältnis zwischen diesen drei Begriffen erstens in einer sozialgeschichtlichen und einer ideologiekritischen Perspektive, zweitens in einer ideengeschichtlichen Rekonstruktion und drittens in einer systematischen Hinsicht als wirkungsmächtige neuzeitliche Modellierung zu verorten. Er bietet daher sowohl eine sehr informative und reflektierte ideologiekritische und ideengeschichtliche Rekonstruktion des Bildungsbegriffs als auch eine systematische Zusammenführung und Darstellung von Grundmodellen der Alterität in der Phänomenologie. Lippitz gelingt es, den Bogen über diese drei Perspektiven von Platon über neuzeitliche Positionen bis hin zu phänomenologischen Zugängen bei Husserl, Heidegger, Sartre, Bollnow, Buber sowie zu postphänomenologischen und poststrukturalistischen Zugängen bei Lévinas, Foucault und Waldenfels zu spannen. Deutlich wird über die unterschiedlichen Ansätze und Rekonstruktionen hinweg, dass Alterität sowohl als ein wesentlicher Begriff phänomenologischen Denkens und Forschens als auch als integraler Bestandteil von Bildung und Erziehung gelten kann.
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Notes
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Zur Darstellung des humanistischen Bildungsverständnisses seit den römischen Ursprüngen bis zur Kritik im 20. Jahrhundert vgl. Ruhloff 2003, S. 443–454.
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Vgl. Wolfgang Klafki: Studien zur Bildungstheorie und Didaktik, insbesondere die 2. Studie: Kategoriale Bildung. Zur bildungstheoretischen Deutung der modernen Didaktik (1974).
- 6.
Vgl. die Schriften Edmund Husserls: Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge. Husserliana, Bd. 1 (1950); Für die Lebensweltthematik in der Spätphilosophie Husserls vgl. Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Husserliana, Bd. 11 (1954).
- 7.
Zur kritischen Auseinandersetzung mit Husserl unter dem Aspekt der Lebensweltlichen Phänomenologie und mit Berücksichtigung der erziehungswissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Lebenswelttheorien vgl. Wilfried Lippitz: ‚Lebenswelt‘ oder die Rehabilitierung vorwissenschaftlicher Erfahrung (1980), bes. S. 20 ff.
- 8.
- 9.
Interessant wäre es, weiter zu verfolgen, wie Sartre pädagogische und sozialisatorische Praktiken beschreibt. In seiner vielbändigen Flaubertbiographie Der Idiot der Familie (1978) hat er das versucht. Wie kommt ein späteres Sprach- und Romangenie auf die Welt, das in den ersten Lebensjahren als kleiner ‚Idiot‘ in seiner Familie verachtet wurde, da er lange Zeit kaum sprechen konnte und deswegen sozial stigmatisiert war? Außerdem galt er als zu leichtgläubig und leicht verführbar. So schien er sich als Opfer, als passives Wesen den Sozialisations- und Stigmatisierungspraktiken seiner Umgebung auszuliefern. Der Idiot der Familie, dieses halb debile Kind, schien durch und durch fremdbestimmt zu sein. Und doch entwickelt er sich zum bekanntesten Schriftsteller Frankreichs im 19. Jahrhundert; vgl. dazu Wilfried Lippitz: Das Werden eines Ich. Sartres ‚Der Idiot der Familie‘ (1993b).
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Ich beziehe mich hier auf das philosophische Hauptwerk von Martin Buber: Das dialogische Prinzip (1965); Was die Verbindung der Dialogphilosophie mit pädagogischen Fragen angeht vgl. Martin Buber: Reden über Erziehung (1964); Den systematischen Stellenwert der Buber’schen Dialogik als radikalen Bruch mit der Subjektivitätsphilosophie und als ernsthafte Alternative arbeitet die große sozialontologische Studie von Martin Theunissen heraus: Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart (1965), zweiter Teil: Die Philosophie der Dialogik als Gegenentwurf zur Transzendentalphilosophie, S. 241–482.
- 11.
Ich beziehe mich auf das Frühwerk von Emmanuel Lévinas: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität (1987); außerdem auf die Aufsatzsammlung von Lévinas: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie (1983); zur Rezeption von Lévinas in der deutschen Erziehungswissenschaft vgl. u. a. meine Abhandlung: Von Angesicht zu Angesicht. Überlegungen zum Verhältnis von Pädagogik und Ethik im Anschluss an Lévinas (1994); vgl. außerdem die umfassende Studie von Barbara Staudigl: Ethik der Verantwortung. Die Philosophie Emmanuel Lévinas’ als Herausforderung für die Verantwortungsdiskussion und Impuls für die pädagogische Verantwortung (2000).
- 12.
Zugrunde lege ich hier die beiden Schriften von Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses (1976), Ders.: Sexualität und Wahrheit 1: Der Wille zum Wissen (1977); außerdem Ders.: Sexualität und Wahrheit 2: Der Gebrauch der Lüste (1986); für die pädagogische und kritische Rezeption vgl. Malte Brinkmann: Das Verblassen des Subjekts bei Foucault. Anthropologische und bildungstheoretische Studien (1999); auch neuerdings das Themenheft der Zeitschrift für Pädagogik Bildung – Macht – Gesellschaft, Jg. 52, H.1 2006.
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Meine Skizze konzentriert sich auf die zentralen neueren Arbeiten von Bernhard Waldenfels: Ordnung im Zwielicht (1987), Ders.: Antwortregister (1994); zur Rezeption der responsiven Phänomenologie von Waldenfels in der deutschen Erziehungswissenschaft vgl. die Dissertation von Jeong-Gil Woo: „Antwort auf den fremden Anspruch“ – Die Bedeutung der responsiven Phänomenologie von Bernhard Waldenfels für die aktuelle phänomenologisch orientierte Erziehungsphilosophie (2006).
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Vgl. dazu meine einschlägigen Forschungen über pädagogisches Fremdverstehen, über pädagogische Differenzmuster des Lernens und der Bildung, über Fremdheit und Alterität in pädagogischen Kontexten: Wilfried Lippitz: Phänomenologische Studien in der Pädagogik (1993a), Ders.: Differenz und Fremdheit (2003), auch Ders.: Róznica i obcość (2005); Vgl. dazu auch die Arbeiten von Käte Meyer-Drawe: Illusionen von Autonomie. Diesseits von Ohnmacht und Allmacht des Ich (1990), Dies.: Vom anderen lernen. Phänomenologische Betrachtungen in der Pädagogik (1996).
Literatur
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Lippitz, W. (2019). Bildung, Kultur und Alterität – Bildungsphilosophische Interpretationen. In: Brinkmann, M. (eds) Phänomene der Erziehung und Bildung. Phänomenologisch-pädagogische Studien. Phänomenologische Erziehungswissenschaft, vol 7. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-24187-2_4
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