Zusammenfassung
Lippitz untersucht ausführlich und genau autobiografische Selbstdeutungen von Erziehungswissenschaftlern, die ihre Kindheits- und Jugenderinnerungen aus der Zeit des Nationalsozialismus in autobiografischen Erzählungen narrativ erschließen. Dabei interessiert Lippitz einerseits, ob und wie Wirkungszusammenhänge der NS-Zeit auf die eigene Biografie dargestellt werden und andererseits, wie lebensweltliche, vorwissenschaftliche Erfahrungen und Deutungen des eigenen Lebens zu sozial- und erziehungswissenschaftlichem Expertenwissen ins Verhältnis gesetzt werden. Die untersuchten Erziehungswissenschaftler Hans-Jochen Gamm, Horst Rumpf, Jürgen Henningsen und Wolfgang Klafki können in dieser Hinsicht als Experten gelten, sind sie durchaus sowohl über den Gegenstand der pädagogischen Biografieforschung als auch über Fragen und Probleme von sozialisatorischen und erzieherischen Wirkungen gut informiert. Lippitz rekonstruiert die vier Narrative einfühlend, aber nicht unkritisch hinsichtlich der jeweiligen autobiografischen (Selbst-)Inszenierung. Die Berichte werden ausführlich interpretiert und kontrastiert, sodass die unterschiedlichen Resonanzdispositionen der Autoren herausgearbeitet werden.
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Notes
- 1.
Erziehung, wenn sie nicht Dressur sei, wirke „in keinem Falle als direkte Prägung“, da Einwirkungen vom Erziehenden „angeeignet, verarbeitet, beantwortet werden“ (Klafki 1988a, S. 11 f.). Das, so Klafki, geschehe manchmal ablehnend, mit offenem oder verschleiertem Widerstand (vgl. Klafki 1988a, S. 11 f.).
- 2.
Gamm definiert ‚konkrete Kindheit‘ folgendermaßen: „Kindheit heißt konkret: noch unvollzogene Ausformung eines Arbeitsvermögens bei vorhandener voller Potentialität, auf die sich der pädagogische Prozess richtet, um den Reichtum individueller Analagen sich äußern zu lassen“ (Gamm 1988, S. 103).
- 3.
Gegenüber dem Pluralismus von Wissenschaft hält Gamm an ‚einer‘ Wissenschaft fest. Für die Pädagogik stellt er fest: „Wird Pädagogik entsprechend angelegt, kann sie nur eine sein, und hat doch unter der bürgerlichen Entwicklung nicht eine sein dürfen, weil die Aufspaltung der nachwachsenden Generation dem Herrschaftsgefüge dienlich erschien“ (Gamm 1983, S. 122).
- 4.
Gerda Freise thematisiert Normalität gänzlich anders. Sie überschreibt das zweite Kapitel ihres Berichts mit Anmerkungen über die ‚Normalität‘ meiner Jugend und die ‚Zweiteilung‘ meines Lebens im nationalsozialistischen Alltag 1933–1938 (in Klafki 1988a, S. 31 ff.). Sie meint aber mit ‚Normalität‘ die nahezu selbstverständliche Balance zwischen offiziellem und kontrolliertem Leben in den NS-Jugendorganisationen und der Schule, das sie mitmachen musste, obwohl sie die Formeln der Indoktrination anekelten, und einem privaten, das – bedingt durch das systemkritische Elternhaus – aus Distanz und Kritik am System bestand.
Literatur
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Lippitz, W. (2019). „Subjekte“ der Erziehung? Autobiografische Erinnerungen von Erziehungswissenschaftlern. In: Brinkmann, M. (eds) Phänomene der Erziehung und Bildung. Phänomenologisch-pädagogische Studien. Phänomenologische Erziehungswissenschaft, vol 7. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-24187-2_13
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