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Schlussbetrachtung: Die Autonomie der Soziologie

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Die soziale Seite an Wirtschaft und Wissenschaft
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Zusammenfassung

Die Soziologie legt Wert auf ihre Autonomie. Sie hat ihren eigenen, unverwechselbaren Stil der Beschreibung sozialer Realität, sie bietet oft überraschende und verfremdende Perspektiven, die Alltagsgewissheiten „brechen“ und in ungewohnte Querbeleuchtung setzen. Sie ist nicht „käuflich“, sie identifiziert sich nicht vorschnell mit bestimmten Perspektiven oder Standpunkten, sondern ist immer offen für abweichende Sichtweisen und Verhaltensweisen, Gegenrealitäten und Gegenentwürfe.

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Notes

  1. 1.

    Nach Bourdieu (1998b: 19) ist Autonomie die „Brechungsstärke“ eines soziales Feldes, d.h. die Fähigkeit, äußere Impulse nach eigenen Maßstäben zu verarbeiten und äußere Zwänge bis zur Unkenntlichkeit umzugestalten.

  2. 2.

    Ein analoger Doppelprozess kann eine Differenzierungsebene höher auch für die Herausbildung der Funktionssysteme der modernen Gesellschaft beschrieben werden (Luhmann 1977: 242 ff.; Stichweh 1984: 42). Zum einen findet sich jedes Funktionssystem vor einen verstärkten Selbstordnungszwang gestellt, ein verstärktes Verwiesensein auf eigene Ordnungsgrundlagen infolge der Auflösung der überkommenen Ordnung und alten Selbstverständlichkeiten. Zum anderen kommt es zu einer Umordnung des Umweltverhältnisses in einer zunehmend polykontextural angelegten Gesellschaft, die jedes einzelne Funktionssystem zu einer sektoralen Existenz zwingt, was sowohl neue Freiräume als auch Profilierungszwänge mit sich bringt (Vgl. dazu auch oben Kap. 2).

  3. 3.

    Das kann man positiv oder negativ sehen, begrüßen oder beklagen. Stinchcombe scheint sich auf der ersten Seite zu positionieren, wenn er das Schätzenswerte an der Soziologie den jeweiligen Einzelfeldern, das Problematische an ihr aber der Gesamtheit zuschreibt: „[D]isintegrated disciplines with many different and incompatible standards for what is good work […] [such as] history, philosophy, and sociology […] have similar problems in justifying their continued existence. […] What is good in them does not depend on the disciplines’ corporate existence; what is bad in them discredits the disciplines.“ (Stinchcombe 1994: 270).

  4. 4.

    Mit Blick nicht speziell auf die Soziologie, sondern auf wissenschaftliche Binnendifferenzierung allgemein meint auch Stichweh, dass die Segmentierung in Disziplinen im 20. Jahrhundert durch denselben Prozess auf subdisziplinärer Ebene ergänzt, aber nicht abgelöst werde. „Die ungeheure Veränderungsdynamik, die das Wissenschaftssystem der Moderne auszeichnet, wird durch die Genese eines milieu interne anderer wissenschaftlicher Disziplinen ausgelöst, das jedes einzelwissenschaftliche Geschehen unter die Bedingung der Konkurrenz und der Anregungswirkung anderer wissenschaftlicher Disziplinen versetzt. Der sich einhundert Jahre später (im 20. Jahrhundert) abzeichnende Wechsel des Primats von disziplinärer zu subdisziplinärer Differenzierung radikalisiert den gleichen Vorgang noch einmal, ohne seine soziologische Form zu ändern“ (Stichweh 2003a: 14).

  5. 5.

    Luhmann führt das etwa in seiner politischen Soziologie aus, mit Blick auf das spannungsvolle Verhältnis zwischen Parteipolitik einerseits und Staatsapparat oder Verwaltung andererseits: „Eine soziologische Theorie des politischen Systems bietet […] Raum für den Gedanken, daß Politik und Verwaltung verschiedene, funktional spezifizierte und somit getrennt operierende Systeme kommunikativer Informationsverarbeitung sind, die aber als Teilsysteme aufeinander angewiesen sind, sich wechselseitig ihre Autonomie lassen und miteinander kooperieren müssen. Eine Systemtheorie kann nämlich Handlungszusammenhänge funktional und strukturell als Einheit begreifen auch dann, wenn sie den Handelnden als kontrovers und konfliktreich erscheinen, ja, sie vermag die Funktion dieser Kontroversen selbst zu deuten.“ (Luhmann 2010: 125 f.).

  6. 6.

    Fuller formuliert diese Kluft in der Absicht, sie zu überwinden oder zu überbrücken, was er durch Naturalisierung erreichen will, also durch Umstellung von einem normativen, über-empirischen Ansatz zu Methoden „normaler“ empirischer Wissenschaft. In Fullers Augen unterscheiden sich nur die nicht-naturalisierten Versionen der beiden Fragen so drastisch, während die naturalisierten Versionen näher beieinanderliegen oder aneinander herangeführt werden können. Für unsere Zwecke ist Fullers Syntheseversuch weniger interessant als die Kluft, die die Bemühung um Synthetisierung motiviert.

  7. 7.

    Hier noch einmal der Wortlaut der Definition: „[K]nowledge for the sociologist is whatever people take to be knowledge. It consists of those beliefs which people confidently hold to and live by.“ (Bloor 1976: 2).

  8. 8.

    Dies gilt auch dann, wenn manche den Gegenstandsbezug oder das Erkenntnisproblem an nachrangiger Theoriestelle wieder einführen und auf die Notwendigkeit einer soziologischen Erkenntnistheorie verweisen (siehe Kap. 1). Aber auch wenn dies geschieht, geschieht es auf soziologisierter Grundlage, also nachdem ein Problem in der Sozialdimension nach vorne gestellt und das Problem des Gegenstandsbezugs auf zweite, durch Vergleichsfälle relativierte und kontrollierte Theorieplätze verwiesen wurde. Man kann dann etwa sagen, dass eine komplexere Gesellschaft sich auch eine komplexere Welt leisten kann (Luhmann 1990b), oder dass durch Zivilisations- und Kontrollfortschritte eine Einschränkung der Projektionsneigung und insofern eine weniger systematisch verzerrte Weltsicht erreicht werden kann (Elias 1990) – ohne dass dabei aber an ein Herankommen an eine Welt-an-sich gedacht wäre und ohne dass soziale Prozesse und soziale Probleme die Führung verlieren würden.

  9. 9.

    Die Epistemologie ist zwar keine in sich geschlossene Disziplin, sondern mit vielfältigen disziplinären Anschlüssen ausgestattet. Sie ist aber stark in der Philosophie gegründet, schließt an Jahrhunderte Erkenntnistheorie an und muss sich in diesem Kontext bewähren.

  10. 10.

    Das gilt sowohl für die normative wie für die kognitive Dimension sozialen Lebens. Normen enthalten ihrem innersten Sinnkern nach Vorkehrungen für Abweichungen und Gebrochenwerden und wären sonst keine. Aber auch kognitive Kategorien des Welterlebens sind typischerweise (!) um einige klare, paradigmatische, typische Fälle herum gebaut und enthalten daneben untypische, unklare oder umstrittene Fälle (Espeland/Stevens 1998; Zuckerman 1999; Hannan 2010).

  11. 11.

    So lautet die Gründungserzählung der konstruktivistischen Wissenschaftssoziologie: Mannheim sei zu „feige“ oder zu „nervenschwach“ gewesen, um sein Theorem der Seinsgebundenheit des Wissens auch auf Naturwissenschaftler anzuwenden, und Merton habe in taktvoller strukturfunktionalistischer Zurückhaltung nur Normen wissenschaftlichen Handelns und Dynamiken wissenschaftlicher Stratifikation (Matthäuseffekt) untersucht, also nur Randaspekte der Wissenschaft, nicht aber die Inhalte wissenschaftlichen Wissens. Sympathisanten von Mannheim und Merton bezeichnen diese Darstellung allerdings als übertrieben und sehen die klassischen Ansätze nicht als gleichermaßen steril für die Analyse wissenschaftlichen Wissens (Zuckerman 1988; Cole 1997; Pels 1996).

  12. 12.

    Den Ökonomen hilft dabei der Umstand, dass sie in einer wunderbar zweidimensionalen Welt leben, in der letztlich alles zwischen den beiden Richtungen „Rauf“ und „Runter“, „Mehr“ und „Weniger“ aufgespannt ist. Alle relevanten Variablen – Preise und Mengen, Gewinne und Verluste, Risiken und Transaktionskosten – lassen sich quantifizieren und entlang einem Mehr-oder-Weniger-Kontinuum anordnen. Wie immer komplex dann die angesetzten Berechnungen und Modelle sind, so kommen doch am Schluss immer Aussagen heraus, die sich leicht in Praxisempfehlungen übersetzen lassen, weil sie ein Mehr oder Weniger von etwas – Schätzenswertem oder Vermeidenswertem – implizieren.

  13. 13.

    Letzteres ist ein Ausspruch des Kybernetikers Heinz von Foerster (1993: 73): „Nur die Fragen, die im Prinzip unentscheidbar sind, können wir entscheiden. Warum? Einfach weil die entscheidbaren Fragen schon entschieden sind durch die Wahl des Rahmens, in dem sie gestellt werden, und durch die Wahl von Regeln, wie das, was wir ‘die Frage’ nennen, mit dem, was wir als ‘Antwort’ zulassen, verbunden wird“.

  14. 14.

    In der Gleichsetzung der Kategorien Effizienz und Funktionalität (wie etwa bei Fligstein 2001b; Fligstein/Dauter 2007; Davis 2005; Schrank/Whitford 2011) beginnen dann Missverständnisse innerhalb der Soziologie, die u. a. in der Frontfixierung von Wirtschaftssoziologen auf die Ökonomik gegründet sind. Hier beginnen mithin die problematischen, kritikwürdigen oder reflexionswürdigen Aspekte der Differenzierung in Subsoziologien. Auf die verbreitete Gleichsetzung von funktionalistischer Systemtheorie und idealisierenden Fachdisziplinen komme ich gleich noch einmal zurück.

  15. 15.

    Im Gefolge von Becker bildet sich zwar eine Fraktion hartgesottener Rational-Choice-Theoretiker in der Soziologie, die alle sozialen Phänomene mit diesen Theoriemitteln traktieren. Hier liegt eine wichtige transdisziplinäre Querbefruchtung, aber im Modus lockerer Kopplung – mit partiellen Übernahmen und Anregungen, aber ohne unmittelbare Kontinuität zwischen beiden Seiten. Auch konsequente RC-Forschungen in der Soziologie sind nur begrenzt anschließbar an ökonomische Diskussionen mit ihren extrem spezialistischen Themensträngen und durchformalisierten Modellgenealogien. Umgekehrt bleibt die radikale Übertragung des RC-Denkens auf andere soziale Felder als Wirtschaft, die für Soziologen gerade den Reiz und die Provokation ausmacht, für normale Ökonomen, wie immer schmeichelhaft, letztlich doch neben der Sache. Übernommen werden nur die Grundgedanken – individuelle Nutzenmaximierung – oder nur die Methode, aber es kommt nicht zur Reintegration disziplinärer Diskussionskontexte. Dies erinnert an das Verhältnis von Physik und Mathematik in der Beschreibung durch Stichweh (1984).

  16. 16.

    Die Gründungserzählung der Neuen Wirtschaftssoziologie berichtet oft auch einfach von einem neuen Mut und einer neuen Unerschrockenheit unter Soziologen, die des „Parsonianischen Paktes“ müde gewesen seien und sich beherzt der Analyse von Märkten als des Herzstücks der Wirtschaft zugewandt hätten – der Analyse von Wert, nicht nur von Werten (Krippner 2001; Biggart/Beamish 2003; MacKenzie 2005a). Die Institutionenökonomik war aber auf jeden Fall ein wichtiger Stachel im Fleisch. – Parsons’ Pakt, den dieser angeblich sogar face to face mit seinen Harvarder Ökonomen-Kollegen geschlossen haben soll, sah vor, dass die Ökonomik sich mit Fragen von hartem, ökonomischem Wert befasst und die Soziologie mit breiteren, weicheren Werten, und dass die Soziologie folglich nur Randfragen des Wirtschaftsgeschehens behandelt, etwa Interdependenzen mit politischen, religiösen, familialen Strukturen. Ebenso wie bei der Wissenschaftssoziologie und ihrer Absetzung von den Klassikern Mannheim und Merton wird aber auch hier manchmal gefragt, ob die Rolle des Strukturfunktionalismus damit nicht übermäßig düster dargestellt und der Kontrast zwischen älteren und jüngeren Varianten von Wirtschaftssoziologie nicht übertrieben werde (Beckert/Diaz-Bone/Ganßmann 2007).

  17. 17.

    Ganz punktuell mag es Anleihen geben, etwa wenn die Ökonomik mittlerweile die Existenz sogenannter „Veblen-Güter“ anerkennt, bei denen – in Ökonomensprache – die Nachfrage steigt, nicht sinkt, wenn der Preis steigt – anders gesagt: bei denen ein hoher Preis, und mithin Distinktionswert, für sich geschätzt wird. Daran sieht man aber gleichzeitig auch, wie wenig das punktuelle Aufgreifen von Gedanken die Ökonomik in ihrem Selbstverständnis verunsichert und wie stark der ursprüngliche Gedanke beim Übertritt in die ökonomische Denkwelt deformiert wird. Denn letztlich ist das, was die Soziologie sagen will – Veblen und unzählige andere –, ein Grundeinwand gegen die Kategorie des Nutzens und der Nutzenorientierung überhaupt: Der Nutzen, den jemand von etwas hat, ist weniger in diesem Ding selbst begründet als in sozialen Relationen, etwa darin, dass Andere es nicht haben, oder umgekehrt darin, dass Andere es auch haben oder auch haben wollen. Den Nutzen eines Dings „einsam“ feststellen zu wollen, ist ein Ding der Unmöglichkeit (siehe dazu z. B. auch Knight 1921: xii ff.). Diese Einsicht in die Relativität oder Relationalität allen Nutzens und allen Strebens geht, wenn Ökonomen Veblen lesen, völlig verloren, und es bleibt einfach eine Sonderkategorie von Gütern: Manche Güter haben diese Eigentümlichkeit, dass ein steigender Preis die Nachfrage steigen lässt.

  18. 18.

    Was die institutionelle Ebene des Disziplinenverhältnisses betrifft, so fällt jedenfalls für die USA eine Konstellation auf, nach der viele Wirtschaftssoziologen an Business Schools lehren. Nach einer Zählung hat die Hälfte der Schlüsselautoren des Feldes mindestens zeitweise an einer Business School gelehrt (Convert/Heilbron 2007). Der Umstand, dass man sich im universitären Alltag als untergeordneter Vertreter einer marginalen Disziplin gegenüber einer dominanten Disziplin findet, mag in der Wirkung auf das soziologische Selbstverständnis der Betroffenen ambivalent sein: Einerseits ist man als Soziologe in einer „Fremd-Fakultät“, ob man will oder nicht, immer auch Vertreter der Soziologie im Ganzen; andererseits mag diese Position die Fixierung auf die wirtschaftssoziologie-typische Gegnerschaft zur Ökonomik verstärken und Zusammenhänge zu sonstigen soziologischen Debatten lockern.

  19. 19.

    In den genannten Texten geht es um Anwaltskanzleien für Wirtschaftsrecht/Unternehmensrecht und ihre Preisbildungsstrategien. Der Befund lautet im einen Fall, dass durch Einbettung in soziale Beziehungen – durch Vertrauen und langjährige Zusammenarbeit – Transaktionskosten und mithin Preise bzw. Honorare gesenkt werden können (Uzzi/Lancaster 2004), und im anderen Fall, dass die Transaktionskostentheorie nicht ausreicht, um die beobachtete Varianz in den Preisen zu erklären, und man weitere, darüber hinausgehende Annahmen braucht (Lancaster/Uzzi 2012). Von dem her, was man über den Markt für Rechtsberatungsdienstleistungen erfährt, sind die beiden Texte indes praktisch gleichwertig; ein soziologischer Leser, der die Abgrenzungsgefechte der Wirtschaftssoziologie nicht verfolgt, würde den Unterschied vermutlich gar nicht wahrnehmen.

  20. 20.

    Das ist hier von „unserer“, von der soziologischen Seite der Grenze aus dargestellt worden. Wie dies auf der anderen Seite aussieht, kann zum Glück dahingestellt bleiben. Für die Ökonomik kann man vermuten, dass hier ebenfalls eine gesamtökonomische Identität besteht, die auch sehr verschiedene, auch orthodoxe und heterodoxe Ansätze in einer disziplinären Einheit zusammenbindet. Die Epistemologie scheint dagegen in höherem Maß ein interdisziplinär angelegtes Feld zu sein, das eher thematisch integriert ist, durch Bezug auf das Erkenntnisproblem. Es hat Ursprünge in der Wissenschaftsphilosophie, lässt aber heterogene disziplinäre Anbindungen zu, da letztlich jede Disziplin mit ihren Mitteln an das Problem von Erkenntnis herangehen kann: Philosophie, Geschichte, aber auch Kognitionspsychologie, Biologie, Evolutionstheorie usw.

  21. 21.

    Das Bild der Artischocke übernehme ich aus der mündlichen Tradierung der Systemtheorie durch André Kieserling. Es illustriert das Prinzip der Systemdifferenzierung: die mehrfache Ineinanderschachtelung von Systemen und Subsystemen mit zunehmender Distanz zur Umwelt.

  22. 22.

    Stichweh (2007: 215) formuliert all dies in einem Satz: Es gilt, „daß die in einem differenzierten Wissenschaftssystem an Bedeutung gewinnende interne Umwelt der Wissenschaft, die für jede Disziplin oder Subdisziplin eine Vielzahl von fremddisziplinären Referenzen zur Verfügung stellt, […] daß ein solches als in sich dynamisch zu beschreibendes internes Milieu der entscheidende Grund dafür ist, daß die Differenzen zur außerwissenschaftlichen Welt schrittweise an Auffälligkeit gewinnen, und insofern gerade die interne Verschiedenheit der Wissenschaft zur Bedingung ihrer relativen Einheit nach innen wird.“

  23. 23.

    Hier einige Komplikationen oder Qualifikationen: Erstens haben nicht alle Spezialsoziologien ein solches Entsprechungsverhältnis zu einem bestimmten Teilsystem der Gesellschaft, etwa nicht Jugendsoziologie, Umweltsoziologie, Migrationssoziologie usw. Zweitens knüpft in einem sehr groben Sinn auch eine allgemeine soziologische Theorie, die „alles Soziale“ beschreibt, an eine Umweltdifferenzierung an, wenn auch nur an die sehr grundlegende, sehr weit vorgeschaltete Differenzierung in Soziales und Nicht-Soziales – Atome, Organismen, Himmelskörper usw. Drittens schließlich kann man natürlich allgemeine Theorien und Spezialsoziologien nicht trennscharf voneinander unterscheiden, vielmehr können die Übergänge fließend sein, allgemeine Theorien können aus der Arbeit in Spezialsoziologien hervorgehen, und umgekehrt haben auch „große“ Theoretiker mal mit irgendeinem Themenbereich angefangen und sind manchen Bereichen der Gesellschaft näher als anderen.

  24. 24.

    Am Rande sei darauf hingewiesen, dass damit nur eine Autonomiebedingung von mehreren thematisiert ist, die Luhmann nennt (Luhmann 1970e: 155 ff.). Er schematisiert Autonomiebedingungen nach Sozial-, Sach- und Zeitdimension: 1) In der Sozialdimension muss ein System, um autonom sein zu können, mit mehreren Umweltsystemen zu tun haben und darf von keinem einzelnen allzu abhängig sein. 2) In der Sachdimension muss ein System auf zwei verschiedenen Generalisierungsebenen anerkannt sein und eine stärker generalisierte Ebene des Umweltkontaktes von einer stärker punktuellen trennen können. 3) In der Zeitdimension muss ein System Zeit haben, es darf nicht auf jeden Input und jede Anforderung von außen sofort reagieren müssen, sondern muss eigene Prozesse und eigene Selektionen einschalten können. – Was diese letzte Dimension angeht, so fällt in unserem Zusammenhang auf, dass Spezialsoziologien offensichtlich wesentlich schneller sind, schneller neue Themen und Problemlagen aufgreifen als allgemeine Theorien, die sehr langsam voranschreiten und enorme Zeitpuffer haben.

  25. 25.

    Dass strukturell gegensätzliche Lösungen funktional äquivalent sein können, ist eine der großen Einsichten der funktionalen Analyse. Sie gilt etwa für Durkheims Unterscheidung von mechanischer und organischer Solidarität – strukturell gegensätzlich: basierend in Homogenität oder Heterogenität, aber funktional äquivalent: beides produziert Solidarität (Durkheim 1893). Sie gilt ebenso für Luhmanns Unterscheidung von normativem und kognitivem Erwarten – strukturell gegensätzlich: basierend auf Lernen oder Nichtlernen, aber funktional äquivalent: beides ermöglicht den Umgang mit einer ungewissen Welt (Luhmann 1972).

  26. 26.

    Es gibt sogar Beschreibungen in der Systemtheorie, wonach den Reflexionstheorien die Wissenschaftlichkeit komplett abgesprochen wird. Ihr Wissenschaftsstatus sei ein reines Scheinprodukt ihrer institutionellen Ausstattung mit Fakultäten, Lehrstühlen, Zeitschriften, während ihnen der Sache nach die hinreichende wissenschaftliche Distanz fehle und sie vielmehr durch Affirmationszwänge, Loyalitäts- und Rationalitätskontinua mit „ihrem“ jeweiligen Funktionssystem verbunden seien (Luhmann 1984: 623 f.; Kieserling 2004: 46 ff.). Hier stecken indes tiefgreifende Theorieprobleme. Autopoiesistheoretisch gesehen können Reflexionstheorien schon deshalb nicht Teil „ihres“ Funktionssystems sein, weil sie nicht dessen Operationsweise verwenden: weil in der Ökonomik nicht gezahlt, in der Pädagogik nicht erzogen, in der Theologie nicht gebetet, in der Politologie nicht mit Macht operiert wird (Luhmann 1988a: 74 ff., 127 f.; Göbel 2003: 224 ff.). Aber auch mit einem weniger autopoietisch „reinen“ und einem handfesteren, auf institutionelle Infrastruktur abstellenden Systembegriff ist die exklusive Zuordnung zum jeweiligen Funktionssystem nicht haltbar, weil die Reflexionstheorien ja gerade auf der institutionellen Ebene uneingeschränkt als Wissenschaften firmieren. Realistisch ist es vermutlich davon auszugehen, dass Reflexionstheorien beides sind: sowohl Teil „ihres“ Funktionssystems als auch Teil der Wissenschaft und beides gleichrangig gesehen werden muss.

  27. 27.

    So rekonstruiert Luhmann ausführlich die Umstellung der Rechtstheorie auf Positivismus (Luhmann 1972, 1981a), oder die Reaktion der Theologie auf Modernisierung und Säkularisierung (Luhmann 1977), oder die Reflexionsprobleme der Pädagogik im modernen Bildungssystem (Luhmann/Schorr 1979) – letzteres allerdings schon mit deutlichem Übergang zur Kritik an pädagogischen Theorien und zum Angebot einer überlegenen systemtheoretischen Alternative.

  28. 28.

    Diese doppelte Abgrenzung wird vorbildlich von Bourdieu formuliert, der sich genauso positioniert, hier gegen die Ökonomik einerseits und die gängige Wirtschaftssoziologie andererseits (Bourdieu 2005: 1 ff.). Erstere verabsolutiere ein a-historisches Bild von rationalen ökonomischen Akteuren und sei blind für die voraussetzungsvollen historischen und kulturellen Bedingungen, die darin steckten. Zweitere ignoriere oder verleugne, dass die historisch-kulturelle Besonderheit gerade in der Ausdifferenzierung eines eigenen ökonomischen „Kosmos“ liegt, der nur seinem eigenen „nomos“ gehorcht, im Unterschied zu den familienbasierten Ökonomien, die in den meisten bekannten Gesellschaften dominierten.

  29. 29.

    Abwehrreflexe kann es bei allgemeinen Theorien allerdings gegenüber anderen Theorien – also Artgenossen – geben, so beispielsweise, wenn Luhmann allzu schnell und mit allzu „heißer Feder“ gegen Marx und Marxismen austeilt (Luhmann 1975b, 1988a: 151 ff., 2000: 95).

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Kuchler, B. (2019). Schlussbetrachtung: Die Autonomie der Soziologie. In: Die soziale Seite an Wirtschaft und Wissenschaft. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-23104-0_5

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