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Macht und andere Politismen

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Zusammenfassung

Eine zentrale Leistung von Wissenschafts- und Wirtschaftssoziologie ist es, unrealistische Vorstellungen vom epistemischen Subjekt und vom ökonomischen Akteur aus der Welt zu schaffen. Forschung wird nicht gemacht von interesselosen Naturbetrachtern, die sich ausschließlich von Fakten und Evidenzen beeindrucken lassen und als neutrales Gefäß für die langsam sich offenbarende Wahrheit dienen. Märkte werden nicht betrieben von egoistisch-atomistischen Akteuren, als unentwegt kalkulieren, Marktdaten taxieren und Profite maximieren.

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Notes

  1. 1.

    Die Formulierung „unpolitical politics“ stammt von Brian Wynne (2008: 23). Die Wortschöpfung „Granovetternwirtschaft“ entnehme ich einer persönlichen Kommunikation von André Kieserling; sie findet sich daneben auch bei Jürgen Kaube (2000: 256).

  2. 2.

    In der Sicht der Reflexionstheorien werden die „kontaminierenden“ Faktoren der empirischen Realität oft durch Selbstreinigungsprozeduren des entsprechenden Systems wieder wegneutralisiert. Dazu dient etwa die klassische epistemologische Unterscheidung von Entdeckungskontext und Geltungskontext, die die wilden, unkontrollierten Zufälle und Motivlagen empirischer Forschungsprozesse gleichzeitig eingesteht und in ihrer epistemischen Bedeutung neutralisiert. Die ökonomische Theorie ist mittlerweile weit fortgeschritten in der Kunst, Marktmechanismen zu beschreiben, die irrationales Handeln einzelner (oder auch aller) Teilnehmer wegneutralisieren und auch bei teilweise oder komplett irrationalen Akteuren noch funktionieren, sodass Märkte ebenso gut von Idioten, Gorillas, Zufallsgeneratoren oder „zero-intelligence actors“ betrieben werden können (Becker 1962; Gode/Sunder 1993).

  3. 3.

    Der Unterschied zwischen Mannheim und dem Strong Programme liegt dann „nur“ darin, dass bei ersterem naturwissenschaftliches Wissen explizit aus dem Anwendungsbereich von Interessen- und Standorterklärungen ausgenommen war, was letzteres mit einem großen Knall revidierte (Bloor 1976; Barnes 1977). Das Verhältnis zwischen Mannheim und dem Strong Programme kommentiert mit interessanten Beobachtungen auch Pels (1996).

  4. 4.

    Auffällig sind etwa die praktisch eins zu eins zu ziehenden Parallelen zwischen der Studie von Latour (1987) und einer Studie über Mikropolitik im Regierungsapparat (Halperin 1974): Es finden sich fast Punkt für Punkt dieselben empfohlenen Strategien.

  5. 5.

    Das Theorem der nicht-menschlichen Aktanten ist stark umstritten. Latour räumt zwar den Unterschied ein, dass nicht-menschliche Aktanten nicht für sich selbst sprechen können, sondern durch Sprecher repräsentiert werden müssen – aber andererseits gilt das ja ebenso für menschliche Akteure (Bürger), die sich in der politischen Arena ebenfalls repräsentieren lassen, sodass es letztlich nur ein Repräsentationsproblem in zwei Ausführungen gibt: einmal als Problem politischer Repräsentation, einmal als Problem wissenschaftlicher Repräsentation (Latour 1993, 1999). Pickering schlägt vor, die Parallele zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren dahin gehend zu relativieren, dass letzteren die Fähigkeit zur Intentionalität abgehe (Pickering 1993, 1995). – Das Theorem des Akteurs- oder Agentstatus von technischen Systemen (etwa des Börsentickers) und der zwischen Menschen und Nicht-Menschen verteilten Akteursqualitäten wird mittlerweile auch in der Wirtschaftssoziologie, speziell der Finanzsoziologie, ausprobiert (Preda 2006; Hardie/MacKenzie 2007).

  6. 6.

    Themen mit besonderer politischer Brisanz und hohem Aktualitätswert – phasenweise etwa Atomkraft, Rinderwahn, Klimawandel, Gentechnik, Humangenetik – sind tendenziell überforscht. Allein die Diskussion über diese Themen füllt Bibliotheken; s. nur als Überblicksartikel zu Klimawandel und Gentechnik, ohne Humangenetik, Yearley (2008), und als Überblicksartikel zu Humangenetik, Hedgecoe/Martin (2008). Die Differenzierung der soziologischen Themenwahl von Themenkarrieren in der politisch-massenmedialen Debatte ist nicht voll gelungen.

  7. 7.

    Es können aber auch eigentümliche Mischungen aus demokratischer und spezialistischer Logik auftreten, wie aus einer Auseinandersetzung über Klimawandel berichtet wird: „Greenpeace […] printed a declaration […] signed by ‘100 of the country’s leading scientists, doctors, and engineers’. […] [T]here is something curious about the logic of this move: although Greenpeace seems to be invoking scientific authority, there is a majoritarian appeal also. Their argument seems to be not just that ‘scientific opinion’ is with them, but that a lot of scientists think this way.“ (Yearley 1992: 523).

  8. 8.

    Es kommt deshalb auch zu einer charakteristischen Umkonnotierung des Begriffs von Strategie und strategischem Handeln zwischen den Wirtschaftswissenschaften und der Wirtschaftssoziologie (Jasper/Abolafia/Dobbin 2005: 479 f.). Rational-Choice-Theorien und insbesondere Spieltheorien, wie sie in der Ökonomik stark sind, untersuchen ebenfalls strategisches Handeln, aber die strategischen Optionen sind dort in charakteristischer Weise begrenzt: Der Spieler kann nur vorgesehene Spielzüge wählen (wenn auch mit hohen Ansprüchen an Vorausdenken von Zügen oder mit mathematischen Unbestimmtheiten der Wahl), aber er kann nicht das Spiel selbst umdefinieren, Spielregeln ändern, neue Spielzüge einführen. Dagegen geht es bei strategischem Handeln in der Wirtschaftssoziologie gerade um überraschende, kreative, über Bande gespielte Spielzüge, mithin um ein breiteres Strategieverständnis, das den Akteur als fantasievoller denkt und einen größeren Radius von Handlungsoptionen mit einbezieht.

  9. 9.

    Beispielsweise ist es im schwedischen Lebensmittelmarkt einer Großhandelskette gelungen, die Machtbalance zwischen Groß- und Einzelhändlern zu ihren Gunsten zu verschieben: Das traditionelle Arrangement von autonomen Einzelhändlern, die nach Belieben bei verschiedenen Großhändlern bestellen, wurde durch eine geschickte Kombination von Interaktionsdruck und finanziellen Anreizen erodiert zugunsten einer exklusiven Zuordnung, unter der Einzelhändler ihren kompletten Bedarf vom selben Großhändler beziehen müssen (Kjellberg 2007). An der New Yorker Börse wurde 1975 die fixe Kommission von einem Vierteldollar pro ausgeführter Transaktion abgeschafft, was Konkurrenz zwischen Börsenmaklern schuf und ihre Dienstleistung für die Kunden billiger machte (MacKenzie 2006: 166 f.). Ebenso macht es im Markt für Maklerleistungen im Immobiliengeschäft einen riesigen Unterschied, ob die Maklergebühr durch den Mieter bzw. Käufer, oder durch den Vermieter bzw. Verkäufer einer Wohnung zu zahlen ist und dafür gesetzliche Regelungen geschaffen werden.

  10. 10.

    Hier geht es insbesondere um Fragen von Marktführerschaft, um Monopol- oder Konzentrationstendenzen und um die Chancen kleiner oder neu hinzukommender Anbieter. In der Anfangszeit des Luftverkehrsmarktes beispielsweise rangierten sich US-amerikanische Regulierer auf einen Kompromiss ein, der zwar nicht auf ein direktes Monopol, aber auch nicht auf zu viel – für ruinös gehaltene – Konkurrenz hinauslief (Avent-Holt 2012).

  11. 11.

    Hedger benutzen Finanzmärkte, insbesondere Derivatemärkte, um Risiken abzusichern, die bei sonstigen Geschäften auftreten. So wollen sich etwa Unternehmen gegen Währungsschwankungen oder Zinsänderungen absichern, Bauern gegen Wetterrisiken, und Versicherungen oder sonstige institutionelle Investoren gegen einen Wertverfall ihres Wertpapierportfolios. Spekulanten benutzen Finanzmärkte, um durch Antizipation von Kursbewegungen oder durch Ausnutzen von „Ineffizienzen“ und „Anomalien“ in der Preisbildung (Arbitrage) Profit zu erzielen. Die Grenze ist aber nicht eindeutig zu ziehen (Hickey 2011; Engel 2013).

  12. 12.

    Wenn zentrale Handelsplätze eingerichtet werden (etwa Erdbeerauktionshäuser oder Wertpapierbörsen), stellt sich als nächstes die Frage, ob deren Mitglieder exklusiv nur dort handeln dürfen oder dieselben Waren oder Wertpapiere auch außerhalb, im Direktkontakt mit Interessenten handeln dürfen: ob etwa Erdbeerbauern auch noch direkt an Großhändler verkaufen dürfen (Garcia-Parpet 2007) oder Börsenhändler Terminkontrakte auf Aktienindizes – wie Dow Jones Futures, S&P 500 Futures – auch außerbörslich handeln dürfen, und wenn ja, dann eventuell nur bei anderer Kontraktgröße (MacKenzie 2015).

  13. 13.

    In Auktionsverfahren gibt es etwa die Möglichkeit auf- oder absteigender Auktion sowie ein- oder zweiseitiger Auktion. Bei elektronischen Auktionsverfahren stellt sich weiter die Frage, mit welchen Algorithmen sie implementiert werden (Muniesa 2007; MacKenzie 2015). Eine perfekte Umsetzung des fiktiven Walrasianischen Auktionators ist nicht gefunden (MacKenzie 1998: 249 f.; White 2002: 13; Ganßmann 2007). Zur Alternative dreier Arten von Preisfestlegung: Festpreis, bilaterale Verhandlung/Vertrag, Auktion, s. grundsätzlich Smith (1989: 51 ff.).

  14. 14.

    Bei Produktstandard geht es nicht nur um technische Details, sondern auch um den Zuschnitt oder die Identität des gehandelten Produkts überhaupt, etwa um die Frage, ob Hardware und Software als ein integriertes Produkt (wie bei Apple) oder als getrennte Produkte (wie bei IBM/Microsoft) entwickelt und angeboten werden (Fligstein 2001b: 72 f.). Eine Standardisierung von Qualitätsklassen ist etwa für den Handel mit Agrarprodukten wie Weizen nötig (Bühler/Werron 2014). Die Quantität muss etwa beim Handel mit Wertpapierderivaten festgelegt werden, wo das Volumen eines Options- oder Futureskontraktes spezifiziert werden muss (MacKenzie 2015).

  15. 15.

    Ein Klassiker ist hier die Frage nach Absprachen oder impliziten Einverständnissen zur Konkurrenzunterdrückung, also (formalen oder informalen) Kartellen. Während formale Kartelle meist verboten und/oder staatlich überwacht sind, sind informale Absprachepraktiken nicht immer leicht zu identifizieren oder zu unterbinden: Wie weit darf der Verzicht auf allzu aggressive Konkurrenz gehen, um eine „Absprache“ zu sein? So etwa, wenn Börsenhändler einander nicht allzu eifrig in den verlangten Kommissionen zu unterbieten versuchen (MacKenzie 2007: 364). – Eine weitere Frage betrifft die noch akzeptable Aggressivität von Handelspraktiken. So gibt es auf Fischmärkten etwa Konventionen, die festlegen, dass bei knappem Fang kein Einzelbieter allzu große Mengen für sich reklamieren sollte (Weisbuch/Kirman/Herreiner 2000), und auf Wertpapiermärkten Konventionen, die umreißen, in welchem Maß einem Handelspartner ein Wertpapier wider besseres Wissen als „guter Kauf“ angepriesen werden darf (Abolafia 1996; Zaloom 2006).

  16. 16.

    Soweit Handel in Interaktionskontexten betrieben wird, können Verstöße oft durch interaktionelle Ächtung von deviant Handelnden sanktioniert werden. Diese Möglichkeit besteht bei schriftlich oder elektronisch vermittelten Handelsabläufen weniger, dafür ist hier die Dokumentation und spätere Identifizierbarkeit von Verstößen entsprechend besser (Zaloom 2003, 2006; MacKenzie 2015). Eine weitere wichtige Alternative ist die zwischen zentraler staatlicher Regulierung und dezentraler Selbstregulierung, etwa in Statuten und organisationalen Regelwerken der einschlägigen Handelsplätze. Beide Ebenen sind getrennt, aber auch interdependent: Da externe Regulierung generell gefürchtet wird, haben lokale Institutionen einen Anreiz, sich halbwegs zufriedenstellend selbst zu regulieren und die Empfindlichkeiten externer Regulatoren wenigstens ansatzweise vorwegnehmend zu berücksichtigen (Abolafia 1996).

  17. 17.

    Fligstein firmiert unter dem Label „politisch-kultureller Ansatz“, er beschreibt „markets als politics“ (Fligstein 1996) und untersucht Machtverhältnisse und Machtkämpfe auf allen Ebenen: a) der unternehmensinternen Ebene, mit der Frage, welche Unternehmensstrategie und welche Gruppe von Akteuren (etwa Manager mit Branchenkenntnissen oder mit Finanzkenntnissen) sich durchsetzt; b) der Ebene des Marktes, mit der Frage der Machtverhältnisse zwischen Marktführern und Herausforderern; und c) der Ebene des Staates, der auf alle anderen Ebenen Einfluss hat, sodass Markt und Staat als Zwillingsinstitutionen und „the formation of markets as part of state-building“ zu betrachten sind (ebd.: 657).

  18. 18.

    Pfadabhängigkeiten wurden zunächst in der Wissenschafts- und Technikforschung diskutiert und wurden dann auch in der Wirtschaftssoziologie prominent (MacKenzie 2007). In manchen Märkten – etwa bei „sozialen Netzwerken“ und Partneragenturen, aber auch Börsen – haben diejenigen Anbieter einen reellen Vorteil zu bieten, die als erste präsent waren, bereits viele Kunden angezogen haben und diesen deshalb besonders breite Kontaktchancen oder besonders hohe Liquidität bieten können. Ansonsten kann der Vorsprung von „first movern“ zum einen in Prestige- und Bekanntheitsvorteilen liegen und wird zum anderen durch das Patentrecht abgesichert, das Innovatoren schützt und Kopieren verbietet. Außerdem haben die frühen Spieler oftmals die Chance, den Regulatoren ihre Sicht der Dinge nahezubringen, etwa in der Frage, ob ein gegebener Markt ein Markt mit „natürlichem“, und das heißt: legitimem Monopol ist oder nicht (Avent-Holt 2012).

  19. 19.

    Das Wettbewerbsrecht beschränkt sowohl allzu freundliches, allzu kooperatives Verhalten zwischen (mutmaßlichen) Konkurrenten, insbesondere Preisabsprachen und sonstige Absprachen, aber auch allzu unfreundliches, aggressives Verhalten, insbesondere „unfaire“ Preiskriege, sowie die Bildung von Monopolen. – Das Eigentumsrecht, speziell Patentrecht, soll den Anreiz zu Innovation erhalten, und die Frage, welche Arten von Produkten, Prozessen, Algorithmen, Gedanken patentierbar sind und welche nicht, ist immer wieder heiß umstritten. – Das Steuerrecht wirkt sich vielfach aus durch Privilegierung bestimmter Produkt-, Unternehmens-, Beschäftigungs- oder Finanzierungsformen.

  20. 20.

    Hierzu etwa folgende kontrafaktische Überlegung zum Eisenbahnmarkt in den USA: „How different American economic history might be if the Supreme Court had, in 1897, done what 15 of its decisions over the previous decade suggested it would do: [be soft on anti-trust law,] strike down the Interstate Commerce Act and the Sherman Act. Would cartels have been revived? Would the merger wave in manufacturing and interstate railroading have been avoided? It seems possible. […] How different the world might be today if the largest and most prosperous economy […] had completed its industrial revolution with cartels and trusts intact.“ (Dobbin/Dowd 2000: 653).

  21. 21.

    Die Unterscheidung Markt/Unternehmen oder Markt/Organisation schließt, in der Wirtschaftssoziologie wie in der Institutionenökonomik, ein Interesse am Problem der Entscheidung zwischen beiden Formen ein (Williamson 1975, 1985), an Fragen des In- und Outsourcing, ebenso an Misch- und Zwischenformen zwischen beiden Extremen, wie „unternehmensinternen Märkten“ in Unternehmen mit Profit-Center-Struktur (Eccles/White 1988), oder auch an Netzwerken als eigenständiger dritter Form zwischen den beiden Polen (Powell 1990).

  22. 22.

    Bei Formen ist die grundsätzliche Alternative die von Eigenkapital vs. Fremdkapital, d. h. Aktienkapital vs. Anleihen oder Kredite. Für Kosten gilt die neoklassische Vermutung, dass Kosten von Eigen- und Fremdkapital sich gleichgewichtsmäßig einregulieren werden (Modigliani-Miller-Theorem). Quellen von Finanzierung spalten sich insbesondere auf in die Alternative Banken vs. Kapitalmärkte: Nimmt man Kredite bei Geschäftsbanken auf, oder beschafft man sich Kapital „direkt“ bei Investoren, das über Investmentbanken nur noch vermittelt wird? (Stichwort Disintermediation).

  23. 23.

    Für die Neoklassik stellt sich die Frage nach der Unternehmenskontrolle („corporate governance“) nicht, weil das Unternehmen dort als „unitary actor“ begriffen wird, das als ganzes auf Marktbedingungen reagiert (Mizruchi 2004: 584; Ho 2009: 169 ff.). Heterodoxe Richtungen, wie Transaktionskostentheorie und Prinzipal-Agent-Theorie, stellen das Problem mehr oder weniger zentral, unter dem Gesichtspunkt des „Opportunismus“ der Manager Williamson (1988), oder der Verselbstständigung des Agenten – der Manager –, der sich selbst anstelle des Prinzipals als Systemreferenz für Optimierung einsetzt, sodass der Prinzipal – der Eigentümer – vor Überwachungs- und Anreizproblemen steht Fama/Jensen (1983a, 1983b). Speziell die Prinzipal-Agent-Theorie setzt mithin genau wie die Soziologie am Kontrollproblem an, macht sich aber anders als diese klar den Standpunkt der Eigentümer zu eigen, während die Soziologie meist mit den Unternehmen sympathisiert und die striktere Kontrolle durch die Eigentümer als Problem beschreibt.

  24. 24.

    Hier Stinchcombes schonungsloser Kommentar zu dem Versuch, anhand von Daten zu Aufsichtsratposten und Familienzugehörigkeit die Existenz eines „inneren Zirkel “ einer herrschenden Klasse nachzuweisen: „[T]he great majority of directorships, and even a majority of multiple directorships, are not held by finance capitalists or members of the Social Register, and […] most families in the Social Register or banking corporations do not hold directorships, much less multiple directorships, in industrial corporations. Naming those who do hold them the ‘inner group’ of the capitalist class avoids having to compute the correlation, which would be so small as to be considered trivial in the rest of sociology.“ (Stinchcombe 1990: 380).

  25. 25.

    Das geht nicht nur dem Außenseiter so, der sich die in Jahrzehnten aufgelaufene Diskussion anzueignen versucht, auch zwischen den Diskutanten selbst gibt es Verwirrungspotenzial: „A study […] [of] a major commercial bank revealed the typical bank/non-financial relation to be a far cry from anything described by [the bank hegemony theory of] Mintz and Schwartz. […] [H]owever, the fact that the proliferation of alternative sources of capital corresponded with the sharp decline of bank centrality suggests that Mintz and Schwartz may have been correct about the period in which they were writing. Critics cannot have it both ways. Either the banks were in fact powerful into the early 1980s, or the declines that we observe over the past twenty years are not really significant.“ (Mizruchi 2004: 602).

  26. 26.

    Traditionell reagieren Aktionäre auf Entwicklungen in Unternehmen, die ihnen nicht passen, mit „exit“ statt mit „voice“ – sie verkaufen ihre Aktien. Unter der Dominanz der institutionellen Investoren hat sich dies teils geändert, aus zwei Gründen: Erstens sind diese konzentriert genug und oft genug mit einem Sitz im Aufsichtsrat oder anderen ernst zu nehmenden Mitsprachemöglichkeiten ausgestattet, um ihre Stimme hörbar zu machen; zweitens halten sie oftmals so große Anteile an einem Unternehmen, dass ein Verkauf, die Ausübung der Exitoption, nicht ohne weiteres möglich ist, weil der Markt so große Mengen von Aktien nicht ohne spürbare Kursverluste absorbiert (Useem 1996: 23 ff.; Zorn et al. 2005: 274 f.).

  27. 27.

    Eine solche „Demokratisierung“ gibt es auf der Seite sowohl der Kapitalanleger als auch der Kapitalaufnehmer, der „surplus pockets“ und der „deficit pockets“ der globalen Kapitalmärkte (diese Formulierung bei Patil 2001: 251). So besitzen nicht nur zunehmend viele Menschen Aktien und wird Aktienspekulation gelegentlich zum Volkssport, sondern es gewinnen auch andere Anlageprodukte, von Investmentfonds über Renten- oder Lebensversicherungen bis hin zu allerlei exotischen „Finanzzertifikaten“ – der für Kleinanleger heruntergebrochenen Form der Spekulation an Derivatemärkten – an Verbreitung (Stäheli 2004, 2007; Preda 2005b; Schimank 2011). Ebenso deutliche Inklusionsschübe gibt es aber auf der Seite der Kreditnehmer, vom Siegeszug der Kreditkarte bis hin zum Boom der Mikrokredite in Entwicklungsländern. Der wichtigste, berühmt-berüchtigte Fall ist der Markt für US-Subprime-Immobilienkredite, dessen Crash 2007 die jüngste Kette von Finanzkrisen ausgelöst hat. Hier wurde gezielt auch vormals ausgeschlossenen Gruppen Zugang zu Immobilienkrediten ermöglicht – Schwarzen und sonstigen ethnischen Minderheiten, Geringverdienern, Arbeislosen, Personen mit beschädigter Kreditgeschichte –, und dieser Inklusionsboom führte zu einer Verschlechterung der durchschnittlichen Kreditqualität, zu einem Boom des Immobilienmarktes und des daran gekoppelten globalen Verbriefungsmarktes, und zu einem entsprechend großen Potenzial auf Vertrauensverlust und Implosion (Polillo 2009; Fligstein/Goldstein 2010; Deutschmann 2011).

  28. 28.

    Es gibt eine interessante Parallele zur Wissens- und Wissenschaftssoziologie in dem Phänomen, dass etwas nachträglich in milderem Licht betrachtet wird, was vorher als Problemherd gegolten hatte. So referiert jedenfalls Gieryn (1983: 782) die jahrzehnte- oder jahrhundertelange Diskussion zum Verhältnis von Wissenschaft und Ideologie. Lange Zeit sei Ideologie als etwas Gefährliches betrachtet worden und habe man auf ein Entkommen aus Ideologie durch Wissenschaft gehofft (so etwa Comte und Bell). Später gelte dann Wissenschaft als etwas Gefährliches, oder auch selbst als Erscheinungsform von Ideologie (so bei Marcuse und Habermas), und im Extremfall werde als auf ein Gegenmittel gegen die Übermacht der Wissenschaft wiederum auf Ideologie gesetzt: „Finally, to come full circle from Comte’s positivist faith in the ability of science to separate truth from politically motivated distortion, ideology becomes a source of liberation from science: ‘it is one of ideology’s essential social functions […] to stand outside of science, and to reject the idea of science as self-sufficient,’ and to expose ‘the egoism, the barbarism and the limits of science’ (Gouldner, 1976 [The Dialectic of Ideology and Technology]: 36)“ .

  29. 29.

    Der Begriff „constituee“ ist noch nicht in Gebrauch, könnte aber – im Zuge der Gewohnheit, den passiven Beteiligten an Prozessen jeder Art nach dem Muster von „trainee“, „coachee“ oder auch „fuckee“ (Collins 2004: 247) zu bezeichnen – ohne weiteres salonfähig sein.

  30. 30.

    Huntington notiert mit scharfer Beobachtungsgabe: „When an American thinks about the problem of government-building, he directs himself not to the creation of authority and the accumulation of power but rather to the limitation of authority and the division of power. Asked to design a government, he comes up with a written constitution, bill of rights, separation of powers, checks and balances, federalism, regular elections, competitive parties – all excellent devices for limiting government. The Lockean American is so fundamentally anti-governmental that he identifies government with restrictions on government. Confronted with the need to design a political system which will maximize power and authority, he has no ready answer. His general formula is that governments should be based on free and fair elections. – In many modernizing societies this formula is irrelevant. Elections to be meaningful presuppose a certain level of political organization. The problem is not to hold elections but to create organizations. In many, if not most, modernizing countries elections serve only to enhance the power of disruptive and often reactionary social forces and to tear down the structure of public authority.“ (Huntington 1968: 7).

  31. 31.

    Man kann sagen: Macht in Rohform verhält sich zu ausdifferenzierter politischer Macht so, wie die sporadische Verwendung von Münzgeld etwa für Fernhandel in einer Gesellschaft mit ansonsten naturalwirtschaftlicher Produktionsweise sich zu einer ausdifferenzierten Geldwirtschaft verhält (Polanyi 1944, 1979; Luhmann 1988a: 245 f.). Macht als Drohmacht oder „Rohmacht“ ist ein Moment sozialen Lebens wie andere auch, wie Liebe, Freundschaft, Hass, Krankheit, Knappheit, Überfluss – gelegentlich auftretend, nicht eliminierbar, aber auch nicht das alles bestimmende Ordnungsprinzip. So wenig mithin eine Entleerung anderer Gesellschaftsbereiche von Macht und eine Konzentration aller Macht aufs politische System möglich ist, so wenig ist auch eine durchgreifende Strukturierung aller Bereiche über Macht möglich.

  32. 32.

    Oder auch umgekehrt: Streckenweise mögen sich Wirtschaftswissenschaftler und Wirtschaftssoziologen auch darin einig sein, dass es den homo oeconomicus in bestimmten Kontexten durchaus gibt, und immer noch uneinig in der Frage, ob das das richtige Denkmodell ist. So wird gesagt, dass, wenn es den „homo oeconomicus“ gebe, dann als performatives Produkt der Wirtschaftswissenschaften (Callon 1998b, 1999b; Cabantous/Gond 2011) oder als Phänomen eines spezifischen kulturell-institutionellen Kontextes, etwa des Anleihemarktes im New York der 1980er Jahre (Abolafia 1996, 1998), aber nicht als natürliche, universelle Disposition des Menschen. Das Modell des homo oeconomicus mag dann zwar streckenweise für empirische Beschreibungen taugen, aber immer noch nicht als Erklärungsmodell.

  33. 33.

    Eine Neigung zur naiv-empiristischen Rechtfertigung des eigenen Ansatzes, zu einer Haltung des „Sieh hin, so ist es doch“ ist auch in der Wissenschaftssoziologie gelegentlich zu finden, obwohl sie dem Kuhn-Fleck’schen Theorem der Unmöglichkeit theoriefreier Beobachtung widerspricht. Der Sozialepistemologe Fuller notiert (1993: 165): Frage man einen Wissenschaftssoziologen, warum der soziologisch-konstruktivistische Zugriff auf Wissenschaft besser oder „adäquater“ sei als der klassisch rationalistische, erhalte man zur Antwort einen schlichten Verweis auf die empirische Realität: „[M]ost STS practitioners […] turn conventionalist at this point, deferring to the actions that happen to pass as displays of an ‘empirically adequate understanding’“.

  34. 34.

    Andere Fälle von Funktionssystemen mit nur lockerer oder jedenfalls spannungsbehafteten Kopplung an Organisation sind etwa Religion und Kunst (Luhmann 1977: 272 ff.; Müller-Jentsch 2005). Wegen der Diskrepanz von Organisations- und Funktionssystemebene kann es denn auch sein, dass Universitäten nach wie vor auffällig lokale und standortgebundene Einrichtungen sind, obwohl die Wissenschaft selbst global ist (Stichweh 1999a, 1999b). Und es ist denn auch ein relativ junges und erfolgsungewisses Vorhaben, Universitäten überhaupt zu handlungsfähigen Akteure zu machen (Krücken/Meier 2006).

  35. 35.

    Fligsteins Antwort wäre an diesem Punkt sagen: Das Verhalten von Unternehmen wird gesteuert durch institutionelle Regimes oder Modelle, die in bestimmten organisationalen Feldern zu bestimmten Zeiten etabliert sind, mithin durch diffus lokalisierte, aus dem Hintergrund wirkende Größen, sodass sich kein einzelner „Täter“ dingfest machen lässt und es nicht so sehr darauf ankommt, welche konkreten Eigentümer, Aufsichtsräte und Aufsichtsratverflechtungen ein Unternehmen hat. „[T]he actors who control corporations use what occurs in their organizations and organizational fields as cues to guide their behavior. Family owners, bank owners, managers, and bank directors behave according to the dictates of the organizational field in which the firm is embedded and the internal dynamics of their organizations“ (Fligstein/Brantley 1992: 281). Auf Fligstein komme ich noch zurück.

  36. 36.

    Beispiele dafür, wie wirtschaftswissenschaftliche Begriffe kreativ und unerwartet gewendet werden können, lassen sich etwa Albert Hirschmans früher Studie zu Entwicklungshilfeprojekten entnehmen (Hirschman 1967). Er setzt dort jeweils an klassischen Begriffen ökonomischer Analyse an und gibt ihnen jeweils einen unerwarteten „Dreh“, der zu originellen und soziologisch interessanten Analysen führt.

  37. 37.

    Die historischen Entstehungsbedingungen dieses Umstands können in einer möglicherweise historisch universalen Asymmetrie zwischen der Höhe von Kapitalrenditen und der Höhe des Wirtschaftswachstums gesucht werden (r > g, laut Piketty 2014). Kurzfristiger und konkreter spielen Faktoren eine Rolle wie eine allgemeine Wohlstandssteigerung im letzten Jahrhundert, das Ausbleiben größerer Kriege und größerer Inflationen mit vermögensvernichtender Wirkung, sowie eine immer älter werdende Bevölkerung mit zunehmenden Ersparnissen und zunehmender Angewiesenheit auf kapitalgedeckte Altersvorsorge, statt traditionell: Altersvorsorge durch Kinder, oder sozialstaatlich: Altersvorsorge mit Umlagefinanzierung (Deutschmann 2005: 80 f.; Davis 2009a, 2009b).

  38. 38.

    Das ist im Übrigen auch die Perspektive der Literatur zu „hypercompetition“, als eines Strangs der ökonomischen Literatur zu Unternehmensstrategien (D’Aveni 1994; Gimeno 1996; Thomas 1996). Es geht hier um Strategien, die Unternehmen einschlagen können, um in wechselhaften Umwelten zu bestehen und den Konkurrenten eine Nase voraus zu sein. „Hypercompetition“ bezeichnet dabei – wie man mit Anklang an Simmel sagen könnte – eine Einstellung der direkten Rivalität gegenüber anderen Unternehmen, als abgesetzt von indirekter Konkurrenz, nämlich Preiskonkurrenz (Simmel 1903; Werron 2010, 2011). Zu Preiskonkurrenz kursiert in der ökonomischen Literatur das Stichwort der „exzessiven Konkurrenz“, das Marktsituationen mit harter Konkurrenz, hohem Angebot und sinkenden Preisen bezeichnet. Preise können so weit sinken, dass Hersteller Verluste machen, mit der Folge, dass sie zu irregulären Praktiken übergehen, angefangen von Einsparungen beim Material und Qualitätseinbußen beim Produkt bis zu hin betrügerischen Praktiken (Brahm 1995; Owen/Sun/Zheng 2008; Claessens 2009; Stucke 2013).

  39. 39.

    Die Frage, wo Grenzen eines sinnvollen Anlegen des Konkurrenzprinzips liegen, hat schon Simmel gestellt (1903). Er denkt dabei allerdings an Konkurrenz in anderen Bereichen als Wirtschaft, wo sich dann als Gegenprinzipien und Limitationen des Konkurrenzprinzips andersartige, formunähnliche Prinzipien nennen lassen, etwa für Religion das Prinzip unbegrenzter Gottesliebe und die Überzeugung, dass „in Gottes Haus für alle Platz ist“, oder für Familien das dort geltende „Friedensprinzip“ oder die Basierung in wechselseitiger Zuneigung und Solidarität.

  40. 40.

    Das Kommensurierungstheorem (Espeland/Stevens 1998) ist in der Wirtschaftssoziologie gebräuchlich, wird aber nicht mit der Frage nach der Autonomisierung von Finanzmärkten in Zusammenhang gebracht. Es dominieren zwei Einsatzweisen des Kommensurierungsbegriffs, von denen die eine für Zwecke dieser Frage zu eng, die andere zu weit ist. Zum einen wird festgestellt, dass einzelne Produkte (Aktien, Autos, Mikrowellenherde, …) bestimmten Produktkategorien zugeordnet werden müssen (Branchen, Automobilklassen, „männlichen“ oder „weiblichen“ Produkten, …), um bewertbar und handelbar zu sein (Zuckerman 1999, 2004a; Lounsbury/Rao 2004). Hier steht die Ebene des Einzelmarktes im Blick, und dies ist eine für die Frage der Autonomisierung von Finanzmärkten zu kleine Ebene. Zum anderen wird gefragt, ob und wie bestimmte, nicht selbstverständlich marktgängige Dinge (menschliche Organe, Eizellen, Organismen und ihre Gencodes, Umweltschäden und Umweltbiotope, …) überhaupt an die Welt des Geldes und des ökonomischen Wertes herangeführt und dieser kommensurabel gemacht werden können (Healy 2006; Almeling 2007; Thévenot/Moody/Lafaye 2000; Fourcade 2011). Das zielt auf die Ebene von Wirtschaft und Geldförmigkeit überhaupt, und dies ist eine für Zwecke der genannten Frage „zu große“ Ebene.

  41. 41.

    Es lassen sich drei Schübe einer solchen gesteigerten Kommensurierungsfähigkeit identifizieren. Ein erster Anwendungsfall ist das Näher-Aneinanderrücken von Aktienmärkten und Optionsmärkten, oder allgemeiner: Märkten für Basiswerte und Derivatemärkten, die ab einem bestimmten Punkt mithilfe mathematischer Modelle – speziell des Black-Scholes-Merton-Modells – exakt relativ zueinander bepreist und ineinander umgerechnet werden können (MacKenzie/Millo 2003; MacKenzie 2006). Ein zweiter Fall ist die Umwälzung des Bankgeschäfts durch den Doppeltrend der Disintermediation und Verbriefung, der nichts anderes bedeutet als die verstärkte Vergleichbarkeit und Ersetzbarkeit von Bankprodukten einerseits und nicht-bankvermittelten, kapitalmarktbasierten Finanzprodukten andererseits. Ein dritter Fall ist das Aufkommen der „shareholder value“-Doktrin und der verschärfte Druck von Kapitalgebern auf Unternehmen, die voraussetzen, dass das Operieren von Unternehmen und das Operieren von Kapitalmärkten, speziell Aktienmärkten, tagesaktuell aufeinander bezogen und aneinander gemessen werden, womit die traditionell lockere Kopplung dieser beider Welten aufgelöst und in eine gnadenlos enge Kopplung überführt wird (Ho 2009).

  42. 42.

    Das merkt auch Richard Swedberg an, wobei er nicht Knappheit und Konkurrenz, sondern Ressourcen und Profite als wirtschaftsnäher gewählte und in der Wirtschaftssoziologie vernachlässigte Aspekte nennt: „One strength of economic sociology in the analysis of markets is that sociologists are skillful at uncovering the social structure of a phenomenon. […] [S]ociologists have suggested new ways of conceptualizing how markets operate in social terms. But […] new problems have emerged. This is especially true for the attempt to view markets exclusively in social terms. […] While it is possible to find references […] to resources and profits, not enough attention is paid to them.“ (Swedberg 2005b: 233).

  43. 43.

    Daraus wird die Schlussfolgerung gezogen, dass der Wissenschaftssoziologie den Interessenbegriff gar nicht mehr in der Perspektive erster Ordnung, sondern nur noch als Beobachter zweiter Ordnung verwenden dürfe, also nur noch beobachten könne, wie Wissenschaftler die Interessen anderer oder ihrer selbst beobachten (Woolgar 1981; Callon/Law 1982; Latour 1987). Dies ist ein Anwendungsfall einer Strategie, die man als „resource to topic“ oder auch „background frame to content“ (Doran 1989) bezeichnen kann und die in der konstruktivistischen Wissenschaftssoziologie oft zu finden ist: Alle Konzepte, die von Teilnehmern verwendet werden, dürfen vom Soziologen nicht mehr als eigene verwendet werden, sondern nur als Teil des Gegenstandes beschrieben werden. Diese Strategie führt allerdings auf die Dauer zu einer Entleerung von Begriffen, da sie nicht nur auf Interessen, sondern auch auf Gesellschaft, auf Grenzen, auf Unterscheidungen wie kognitiv/sozial, kognitiv/politisch, internal/external usw. angewandt wird. Es bleibt dann irgendwann nichts mehr übrig, womit der Soziologe als mit eigenen Begriffen arbeiten kann, und man landet in der „explanatory impotence“ (Frickel 1996: 29). Die Protagonisten dieser Strategie erklären zwar auch offen den Verzicht auf jeden Erklärungsanspruch (Woolgar 1981, 1982; Latour 1987), was aber auch von vielen als unbefriedigend empfunden wird (Shapin 1988; Wynne 1992c; Kim 1994; Doing 2008; Turner 2012).

  44. 44.

    So verweist auch Bloor auf Interessen an einem Punkt, wo es darum geht, einen harten, nicht auflösbaren Bezugspunkt der Analyse zu finden. Er kommentiert den Vorwurf, die konstruktivistische Soziologie lande in einer Art absurden Idealismus – sie denke die Welt als etwas, was unseren Vorstellungen folge, was beliebig im Modus der selbsterfüllenden Prophezeiung zu modeln sei, nach dem Motto: Wenn alle denken, dass es so ist, ist es so. Diesem Vorwurf begegnet er mit dem Verweis auf Interessen als die externe Größe, die die Beliebigkeit der selbstreferenziellen Konstitution sozialer Wirklichkeit beschränke. „One superficially disturbing feature of the self-referential analysis is that it looks logically circular. If we make someone a member, by knowing they are a member, what is it that we know? How can we have knowledge of something, if the knowing creates the something? […] [A] way out was to argue that […] we must find a theory showing how […] [institutions] are conventions constructed from our interests and natural, inductive inclinations. These underlie the entire, self-referring system […] [A]ny complete account of an institution must try to show how the self-referring system can be set in motion by something outside itself, some set of dispositions and inclinations that can be characterized without using the concepts internal to the institution.“ (Bloor 1996: 834).

  45. 45.

    Ganz ähnlich bestimmt beispielsweise der Wissenschaftsphilosoph Hacking (1988) von einer gemäßigt-realistischen Position aus die epistemische Qualität von Theorien oder Hypothesen: Diese liege darin, einen möglichst großen und vorher unzugänglichen Bereich neuer Hypothesen, Präzisierungen und Denkmöglichkeiten zu erschließen (wenn auch nicht: die Welt-an-sich abzubilden).

  46. 46.

    Es kann dann etwa gesagt werden, dass Marktformationen nicht nur von Machtkämpfen und strategischem Agieren abhängen, sondern auch von kulturellen Rahmungen (Avent-Holt 2012). Kontroversen sehen anders aus. – Kulturelle Konventionen können etwa im Sinn einer informalen Ebene der Marktregulierung verstanden werden, die die formale, rechtlich-regulatorische Ebene ergänzt und die – wie alle informalen Normen – weniger gut sichtbar und änderbar ist, aber gewitzten Spielern ebenso die Chance bietet, geschickt darauf zu surfen. Diese Doppelung in formale und informale Normierung lässt sich auf unzählige Befunde zur kulturellen Prägung von Märkten anwenden: von lokalen Handelskontexten wie dem Fischmarkt von Marseille oder der Börse von Chicago (Weisbuch/Kirman/Herreiner 2000; Abolafia 1996; Zaloom 2003, 2006; MacKenzie 2007) bis zu nationalen oder überregionalen Wirtschaftsräumen, etwa mit Blick auf asiatische vs. westliche oder angelsächsische vs. kontinentaleuropäische Varianten des Kapitalismus (Dore 1983, 1997; Lincoln/Gerlach/Takahashi 1992; Berger/Dore 1996; Hall/Soskice 2001; Hall/Gingerich 2004). – Für kognitive Innovationen gilt, dass diese sich nicht aus eigener Kraft durchsetzen, sondern nur aufgrund des mehr oder weniger energievollen und interessenbewussten Handelns von Akteuren (MacKenzie/Millo 2003; MacKenzie 2006; Dobbin/Jung 2010, 2011).

  47. 47.

    Ausbuchstabiert lautet diese Logik folgendermaßen: Die Argumentation der Wirtschaftssoziologen sei oft „designed to carve out a distinctive niche for sociologists in the study of markets, another aspect of Durkheim’s legacy that has a professional goal alongside its intellectual one. I suspect that this defense of a distinctive sociological vision is stronger in economic and political sociology, which border on rival disciplines dominated by game theory. Since game theory claims to be the only serious social-scientific approach to strategy, carving out a sociological turf is thought to require the discovery of the importance of nonstrategic considerations and entities. […] The debate between economics and sociology was traditionally over the importance of market forces of supply and demand versus cultural and institutional factors. Game theory helped substitute individual decision makers for supply and demand, but it did not incorporate sufficiently the cognitive, normative, and emotional richness of culture or the defining importance of institutional constraints.“ (Jasper/Abolafia/Dobbin 2005: 479 f.).

  48. 48.

    In anderer Weise ist dies natürlich auch die Position der Systemtheorie, die Akteure ebenfalls nicht für eine primordiale Gegebenheit der Welt hält, sondern für ein Produkt von Systembildung und kommunikativ etablierten Attributionsroutinen (Luhmann 1984: 191 ff.). Da Systemtheorien und Funktionalismen in der Wirtschaftssoziologie aber generell abgemeldet sind, der Strukturfunktionalismus konstitutiv abgelehnt wird und dies geradezu den Startpunkt der Neuen Wirtschaftssoziologie (und der neueren Wissenschaftssoziologie) markiert, ist das Fehlen solcher Positionen nicht weiter bemerkenswert und aussagekräftig. Um die Theorielandschaft zu durchleuchten, eignet sich deshalb als Vertreter radikaler nicht-akteurstheoretischer Positionen der Meyer’sche Institutionalismus, der in der angelsächsischen Soziologie prinzipiell salonfähig ist.

  49. 49.

    Anders als die Meyer-Schule denkt die DiMaggio-Schule, und damit die Institutionalisten in der Wirtschaftssoziologie, mithin letztlich nicht „top down“, sondern „bottom up“. Die einen fragen, wie Akteure „von oben“, aus einer institutionellen Ordnung heraus konstituiert werden (Meyer/Jepperson 2000); die anderen fragen, wie Akteure „von unten“ her Institutionen schaffen (Fligstein 2001a). Auf der einen Seite wird unermüdlich die Isomorphie, die Konvergenz von Strukturformen rund um den Globus herausgearbeitet, während auf der anderen gerade die Divergenz von Strukturen in verschiedenen Ländern betont wird. Meyer fragt: Warum finden sich in allen Staaten der Welt dieselben institutionellen Formen, obwohl die lokalen Bedingungen ganz verschieden sind? (Thomas et al. 1987; Meyer 2005) Dobbin fragt: Warum gibt es in verschiedenen Ländern verschiedene Strukturen und verschiedene Marktinstitutionen? Wie erklärt sich die Trägheit national oder regional etablierter Traditionen, obwohl doch den Ökonomen zufolge die effizienteste Struktur sich überall durchsetzen müsste? (Dobbin 1994) – Beide Argumentationslinien können als Angriff auf Effizienzannahmen gelesen werden und darin liegt die prekäre Einheit des Neoinstitutionalismus: Man kann entweder die Annahme eines „one best way“, der einzig effizienten Lösung  in Zweifel ziehen und statt dessen auf die real existierende Vielfalt von Formen verweisen; oder man kann argumentieren, dass unter Effizienzgesichtspunkten bei verschiedenen lokalen Bedingungen gerade verschiedene Lösungen gewählt werden müssten und die real beobachtbare Konvergenz der Formen dem zuwiderläuft (vgl. Convert/Heilbron 2007: 42).

  50. 50.

    Mitunter macht Fligstein harte Front gegen Akteurstheoretiker und wirft ihnen vor, sie hätten keinen Sinn für Institutionen und würden allzu leicht der Oberfläche konkreter Akteurskonstellationen – der Eigentümerstruktur konkreter Unternehmen, der Verflechtungsstruktur ihrer Aufsichtsräte – auf den Leim gehen, auf die es gar nicht so sehr ankomme (Fligstein 1995, 2001b: 123 ff.). Mitunter wendet er sich aber ebenso entschieden gegen die radikaleren Institutionalisten in der Organisationstheorie und wirft ihnen vor, ihnen fehle der Sinn für Handlung, Akteure und Macht: „Institutional theory in the organizational literature is concerned with the construction of rules, but it lacks a theory of politics and agency.“ (Fligstein 1996: 657).

  51. 51.

    Es geht um die Position des „Chief Financial Officer“ (CFO), als eines auf zweitoberster Ebene angesiedelten und für Finanzfragen zuständigen Managers. Diese Position signalisiert, dass der oberste Manager, der CEO, selbst kein Finanzexperte, sondern ein Branchenexperte ist und als solcher für die Fokussierung des Unternehmens und die Konzentration auf seine „Kernkompetenz“ einsteht. Die umgekehrte Konstellation, die in der Phase davor populär war, ist die, dass der CEO selbst ein Finanzexperte ist, der einen stark diversifizierten, über Finanzkennziffern gesteuerten Mischkonzern führt, und durch einen „Chief Operating Officer“ (COO) als obersten Kopf der Branchenexpertise ergänzt wird. Durch die Kombination CEO + COO oder CEO + CFO konnten damit Unternehmen Investoren ihre Strategie signalisieren, und entsprechende Posten wurden teils auch dann eingerichtet, wenn es wenig faktische Notwendigkeit dafür gab.

  52. 52.

    Das Problem ist formal analog zu dem Problem von Rational-Choice-Theorien, die alles, was ein Akteur tut, eben darum für rational und nutzenmaximierend erklären (Stichweh 1995; Green/Shapiro 1999).

  53. 53.

    In der politischen Soziologie liegen die Provokationschancen möglicherweise umgekehrt wie in der Wirtschaftssoziologie. Da in der Politik die Macht und Gestaltungskraft von Akteuren die offen herausgestellte, von allen offiziellen Selbstbeschreibern betonte Funktionsweise des Systems sind, kann der Soziologe provozieren mit Analysen, die den Akteur auflösen und seine Akteursqualitäten weganalysieren.

  54. 54.

    Gemeint ist das Autorenpaar James Westphal und Edward Zajac, die sich in einer einschlägigen Debatte selbst als Organisationssoziologen bezeichnen und die Subsumierung unter Wirtschaftssoziologie zurückweisen (Zajac/Westphal 2004a).

  55. 55.

    In der organisationssoziologischen Literatur findet sich für den Börsengang eines jungen Unternehmens (Netscape) die These, es habe sich hierbei mehr um einen Werbegag als um eine relevante Kapitaleinwerbungsmaßnahme gehandelt (Kühl 2003: 73 ff.). Die These, es handle sich um ein Opfer und eine Unterwerfungsgeste, findet sich meines Wissens noch nicht. – Gerade große Unternehmen scheinen Zonen mit hohem eigenem Religions- und Sinngebungsbedarf zu sein, wie man aus den Heilslehren des Managementdiskurses mit ihren stark esoterisch angehauchten Elementen und ausgeprägten Tiefe- und Ganzheitlichkeitsbedürfnissen schließen kann.

  56. 56.

    Damit wird dann auch die Idee der Demokratie grundbegrifflich relevant, „ein Teil der Handlungstheorie selbst, und zwar derjenige Teil, der erklären soll, wie das wahrhaft selbstbestimmte, das unentfremdet autonome Handeln innerhalb der Gesellschaft überhaupt möglich ist“ (Kieserling 2004: 188). Man kann dann etwa die „Demokratisierung der Differenzierungsfrage“ fordern (Joas 1990) und damit unterstellen, dass die allerbasalste Struktur der Gesellschaft mit den Mitteln eines Teilsystems zur Disposition gestellt werden könnte.

  57. 57.

    Die Wirtschaftssoziologie zeigt keine solche Überschätzung von Demokratie, oder sie hat sie hinter sich. Wie oben bei der Debatte zur Unternehmenskontrolle notiert (Abschn. 3.3), gab es in der Frühzeit dieser Debatte, vor der Entstehung der Neuen Wirtschaftssoziologie, eine Neigung, in breit gestreutem Aktienbesitz eine Tendenz zur „Demokratisierung“ des Kapitalismus und zur Entwicklung eines „Volkskapitalismus“ zu sehen. Solche Hoffnungen haben indes nicht lange gehalten und haben der Suche nach dem weiterhin wirksamen, aber versteckten Ort der Kontrolle von Unternehmen Platz gemacht, sowie dem Hinweis auf problematische und krisenträchtige Inklusionstendenzen der globalen Finanzmärkte. Ein naives Verhältnis zur Denkwelt von Demokratie kann man Wirtschaftssoziologen also nicht vorwerfen.

  58. 58.

    Irwin (2006) stößt sich in diesem Zusammenhang an der Doppelzüngigkeit, mit der in politischen Verlautbarungen einerseits den „Bürgern“ und der „Öffentlichkeit“ gehuldigt wird, andererseits aber auch die Notwendigkeit von „solider Wissenschaft“ und „Expertise“ als Basis für Entscheidungen betont wird. Politische Soziologen mögen hier einen ganz normalen Formelkompromiss sehen, ein Unterbringen von Appellen an verschiedene Zielgruppen im selben Papier, und einen Niederschlag des Auseinanderlaufens der Legitimitäts- und der Effektivitätsdimension. Irwin scheint es vor dem Hintergrund der Erwartung zu lesen, dass das Modell der Bürgerbeteiligung abzugsfrei implementiert werden sollte und die Asymmetrie im Verhältnis zwischen Experten und Laien – nach allem, was die „Science and Technology Studies“ dazu gesagt haben – sich aufgelöst haben müsste.

  59. 59.

    Symptomatisch für die politische Ausrichtung des Feldes ist, dass der Ton der internen Auseinandersetzung – dem auch Collins und Evans sich mitunter anpassen – auf einen Wettstreit darüber hinausläuft, wer der radikalere Demokrat ist. So bietet Irwin sein Konzept des „situierten Wissens“ – d. h. verteilter Wissensproduktion mit gleichberechtigten Beiträgen von allen Seiten, Experten wie Laien – mit dem Argument an, dies sei die radikalere Variante im Vergleich zu der Auffassung, Laien seien nur als Bürger und politische Entscheider relevant: „[What are] the kinds of contribution ‘engaged citizens’ are (or should be) able to make within scientific governance processes: as political actors only or as legitimate sources of knowledge and understanding?“ (Irwin 2008: 594, Herv. hinzugefügt). Auf der anderen Seite präsentieren Collins und Evans ihre Sicht ebenfalls als radikaler, da sie die Normalbürger nicht nur in ihrer Rolle als Wissenssubjekte ernst nehme – wo sie zwangsläufig nur die zweite Geige spielten –, sondern in ihrer politischen Rolle, wo sie vollwertige Entscheidungssubjekte seien: Diese Auffassung „challenge[s] both the science itself and the motives, values, and assumptions that lie beneath it – the whole worldview“ (Evans/Collins 2008: 611).

  60. 60.

    Diese Formulierung stammt wiederum von Collins und Evans (2007: 1 f.): „[T]he scales upon which science is weighed sometimes tip to the point where ordinary people are said to have a more profound grasp of technology than do scientists. […] [We are heading towards] an age of technological populism.“

  61. 61.

    Dieses und das nächste Zitat entnehme ich einer persönlichen Kommunikation von André Kieserling. Die gesamte Überlegung zum asymmetrischen Verhältnis der Reflexionstheorien zu den Spezialsoziologien entstammt einer nicht-publizierten Überlegung von Kieserling (Siehe aber zum Verhältnis von Soziologie und Reflexionstheorien Kieserling 2004).

  62. 62.

    Mannheim stellt explizit klar, dass er solche Begriffe im Sinn von allgemeinen Sozialformen versteht und damit nicht das Geistige sei es an die Sphäre der Ökonomie, sei es an die Sphäre der Politik angleichen will (ebd.: 332, 351).

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Kuchler, B. (2019). Macht und andere Politismen. In: Die soziale Seite an Wirtschaft und Wissenschaft. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-23104-0_3

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